Zeitkolorit und Familiengeschichte

Ein autobiographisches Gespräch mit George Tabori

Von Thomas KraftRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Kraft

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einem Gespräch mit der "Neuen Welt" anlässlich seines 88. Geburtstages im Mai 2002 hat George Tabori, nach seiner in Kürze erscheinenden Autobiografie befragt, erklärt: "Ich habe keine Recherchen über meine Familie gemacht. Ich habe niedergeschrieben, woran ich mich erinnere und ein bisschen was dazu." Nun liegen sie vor, die Erinnerungen des großen Theatermannes, "Autodafé" betitelt, und auf den ersten Blick ist man etwas irritiert: ein schmaler Band, keine einhundert Seiten, auf fünf Kapitel verteilt. Doch dann taucht man ein in die Welt der Donaumonarchie, wird gleichsam Zeuge, wie der junge Tabori in eine von Frauen beherrschte Welt hineingeboren wird, und vergisst bereits nach den ersten Zeilen die anfänglichen Bedenken, das Gedächtnis des greisen Mannes sei lückenhaft und getrübt. Nein, im Gegenteil, alles ist da: Zeitkolorit und Familiengeschichte, Anekdote und Reflexion. Dicht miteinander verwoben, oft in Nebensätzen aufblitzend, mit wenigen lakonischen Sätzen das wiedergebend, wozu andere viele Seiten benötigen.

Tabori erzählt aus seiner Kindheit und Jugend: vom Budapest des Jahres 1914, als er als Sonntagskind auf eine Welt kam, die in diesen Tagen den ersten großen Krieg zu führen begann. Und er endet mit dem Jahr 1932, als er als Hotelfachschüler in Berlin das Aufmarschieren der SA und den brennenden Reichstag miterleben musste. Diese Aufzeichnungen sind notwendig Familien- und Zeitgeschichte zugleich, ein Dokument der Shoah und des aufkeimenden Nationalsozialismus. Bei aller Bitternis über das Schicksal seiner Familie, die in den Gaskammern von Auschwitz ums Leben kam, wird dieser Blick zurück von Heiterkeit und sanfter Melancholie, von der lustvollen Begegnung mit Menschen und selbstironischen Kommentaren geleitet, die die Lektüre zu einem nachhaltigen Erlebnis machen.

"Meine Erinnerung gibt nicht allzu viele Geheimnisse her, sondern stammelt und springt undeutlich hin und her", schreibt Tabori. Und doch ziehen sich chronologische Linien durch dieses dichte Lebensgeflecht, beginnend eben mit den weiblichen Einflussnahmen in diesem "bilingualen Haushalt", in dem eine resolute Großmutter und ein sexbesessenes Kindermädchen den Ton angeben. Wer kann schon von sich sagen, vom eigenen Bruder um ein Haar wie der biblische Moses den Donauwellen überantwortet und im zarten Alter von acht Jahren von einer lüsternen Alma auf dem Küchentisch entjungfert worden zu sein? Von dieser Art sind viele Episoden und Anekdoten, an denen uns Tabori teilhaben lässt. Haarsträubende Geschichten zum Teil, groteskes Welttheater, aber immer geerdet im gefährdeten Hier und Jetzt einer jüdischen Familie. Tabori erklärt auf wunderbare Weise, warum er zu nuscheln begonnen und schon früh eine "aussichtslose Leidenschaft für bejahende Frauen" entwickelt hat. Ein Humor kommt hier zum Tragen, der deshalb so befreiend wirkt, weil er um das Leiden weiß. Wenn zum Beispiel erzählt wird, wie die meist wortkarge Mutter sein Manuskript las, dabei den Kopf schüttelte und mit einem Seufzer sagte: "Im Viehwagen wurde ich nicht vergewaltigt", dann vermischen sich tragische und komische Töne auf großartige Weise. Tabori scheut das Drastische nicht, selbst die Eltern kriegen manchen Rempler ab, aber stets sind diese Erinnerungen von einem tief empfundenen Mitgefühl mit den ihm nahestehenden Menschen geprägt. Mancher Alptraum und manches Schuldgefühl tauchen hier auf, freimütig und unretuschiert.

Aber Tabori schreibt auch, dass es "ein gutes Gefühl war, ein Fremdling zu sein in einer Welt, die ich nicht gemacht hatte". Die Fuchtlosen, die dieser Welt die Stirn bieten, imponieren ihm, wie sein phantasiebegabter Bruder, der der Welt noch eine andere hinzudichtete, wie der Hotelier Kretschmer, der sechs kräftige SA-Leute kurzerhand aus seinem Restaurant warf, oder wie sein Vater, der den Misshandlungen der Nazis trotzte und in Auschwitz spurlos verschwand. "Mahnmale sind für die Lebenden. Die Toten kümmern sie nicht", heißt der vielleicht zentrale Satz in diesem Gedächtniswerk. So lebt, arbeitet und wirkt George Tabori ganz in der Gegenwart; gerade seine zahlreichen Projekte, die in den letzten Wochen und Monaten entstanden sind, bezeugen dies auf eindrucksvolle Weise. Darum versteht man auch, dass diese Memoiren nicht umfangreicher ausfallen konnten. Für Tabori gibt es noch zu viel zu tun, als dass er es sich in seinen Erinnerungen bequem machen möchte.

Titelbild

George Tabori: Autodafe. Erinnerungen.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Ursula Grützmacher-Tabori.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2002.
90 Seiten, 15,50 EUR.
ISBN-10: 380313174X

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