Dunkle Zeiten, traurige Träume

"Der schwedische Reiter" von Leo Perutz in einer Neuausgabe

Von Gerald FunkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerald Funk

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bereits Stevenson bemerkte in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts nicht ohne Sarkasmus, die englischen Leser verträten offensichtlich die Ansicht, es sei der Höhepunkt literarischer Meisterschaft, einen Roman ohne äußere Verwicklung - man könnte auch sagen: ohne Handlung - zu schreiben, und Ortega y Gasset, im Bemühen der von Stevenson notierten Geringschätzung auf den Grund zu kommen, behauptet in seinem Essay "Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst" von 1925, dass es schwer sei, sich ein Romanabenteuer vorzustellen, das dem modernen, hochentwickelten Empfindungsvermögen gerecht werde. Sein Plädoyer gilt daher dem "psychologischen" Roman und sein kritisches Urteil dem "kindischen" Vergnügen an Abenteuern. Diese Bewertung dürfte der Überzeugung der literarischen Kritik und der reiferen Leserschaft weitgehend entsprochen haben. Sie hat sich in der Folge durchgesetzt.

Wer also in einem Jahrhundert, in dem der psychologische Roman seine zweite Blüte erlebte, wo er zum Standardrepertoire jedes Feuilletons gehörte, an der seelischen Befindlichkeit der Zeitgenossen literarisch kein allzu großes Interesse zeigt und als Autor zudem auf eine Psychologisierung von Charakteren und Figuren verzichtet, der muß damit rechnen, am Tor zum literarischen Olymp abgewiesen zu werden. Leo Perutz (1882-1957) war ein solcher Fall. Sein Werk wurde lange Jahre der Genreliteratur zugeschlagen und kaum ernsthaft zur Kenntnis genommen. Die Geschichten, die er erzählt, fügen sich - auf den ersten Blick zumindest - nicht in die Entwicklungsgeschichte des modernen Romans. Sie verzichten auf die Analyse und die ausführliche Innenansicht der handelnden Figuren. Erlebte Rede und Innerer Monolog sind Kunstmittel, die Perutz zwar beherrscht, aber er setzt sie nur zeilenweise, nicht - wie andere seiner Zeitgenossen - durchgängig ein. Die psychologische Disposition der Figuren interessiert ihn nur soweit, als sie als sichtbares Tun nach außen tritt und Konflikte herbeiführt oder entwirrt. Und diese Konflikte, die sich in Handlung umsetzen lassen, sind es, die den Erzähler Perutz faszinieren. Ihnen gibt er Form, aus ihnen konstruiert er das filigrane und zugleich enorm widerstandsfähige Gerüst seiner Fabeln. In einer Zeit, in der auch die literarischen Formen aus den Fugen geraten, in der alles möglich scheint, setzt Perutz auf das feste Gefüge einer bis ins Detail durchkonstruierten Geschichte. Das geht an der zeitgenössischen Moderne vorbei. Nicht daß das Handeln der Figuren dabei unplausibel wäre, nur hat der Autor Wichtigeres zu erzählen. Sein Interesse gilt immer wieder dem Konflikt zwischen der Freiheit des Individuums und jenen Kräften, die scheinbar überindividuell sein Handeln bestimmen und zum Schicksal werden. Wer macht Geschichte, individuelle Geschichte und die Geschichte der Völker? Wie und wo greifen individuelles Handeln und Wollen ein in kollektive historische Prozesse? Wer und was bestimmt unsere Identität? Wo verlaufen die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit, Traum und Wachen, Leben und Tod? Wie diese uralten Fragen von Perutz gestellt werden, welche Antworten er gibt und welche er als melancholischer Skeptiker verweigert, das indes ist äußerst modern.

Perutz war von Haus aus Mathematiker, und so stellt er nicht selten ein unlösbar scheinendes Rätsel oder eine rätselhafte Lösung an den Anfang seiner Geschichten, deren Hintergründe erst im Laufe der Erzählung aufgedeckt werden. Wie etwa kann es passieren, daß ein Regiment in vollem Bewußtsein seinen eigenen Untergang herbeiführt, obwohl es zuvor eben davor gewarnt wurde, wie im Roman "Marques de Bolibar" (1920)? Wer steckt hinter den mysteriösen Morden im "Meister des Jüngsten Tages" (1923)? Hat der Teufel seine Finger im Spiel bei der Eroberung Südamerikas, wie in der "Dritten Kugel" (1915) nachzulesen ist? Ist der durch einen Getreidepilz ausgelöste Massenwahn und die religiöse Verzückung in "Sankt Petri-Schnee" (1933) Einbildung oder Realität?

Nicht immer fallen die Antworten so eindeutig aus wie in Perutz' jetzt wieder aufgelegtem historischen Roman "Der schwedische Reiter" aus dem Jahr 1936. Dort stellt eine einleitende kurze Rahmengeschichte die Frage, wie es möglich ist, daß ein Mensch sich an zwei Orten zugleich aufhalten kann, wie ein gewisser Herr von Tornefeld an das Schlafzimmerfenster seiner kleinen Tochter klopfen und mit ihr sprechen kann, obwohl er hunderte von Kilometern entfernt auf dem Schlachtfeld Karls des XII. im Nordischen Krieg (1700-1721) kämpft und schließlich stirbt.

Für die phantastische Literatur des 20. Jahrhunderts, die in den zwanziger Jahren ihre Blütezeit hatte und zu deren Meistern man Perutz gemeinhin zählt, wäre dieser Romaneingang ein gefundenes Fressen gewesen. Autoren wie Gustav Meyrink, Paul Busson, Hanns Heinz Ewers, Karl Hans Strobl und andere hätten gewußt, wie man den Leser ins Zwielicht von Seelenwanderung und magischen Ritualen lockt, wie man Doppelgänger kreiert oder Raum und Zeit wirkungslos macht. Perutz indes verzichtet auf solchen Hokuspokus, auf alle vordergründige Spannung und läßt seinen Erzähler umgehend mitteilen, daß es sich nicht um eine, sondern um zwei Personen handelt, deren seltsame Geschichte er zu erzählen habe.

Nicht das Übernatürliche hat seine Finger im Spiel, wenn es um die Geschicke dieser zwei Personen geht, sondern eine Zeit, in der der Dreißigjährige Krieg noch nicht allzu lange vergangen ist, wo am Horizont bereits wieder das Grollen der Kanonen zu hören ist, wo die Länder ausgeblutet, die Menschen elend und doch voller Glücksverlangen sind. Dort, wo weltliche und kirchliche Machthaber die Bevölkerung ausbeuten, wo die Feuer der frühindustriellen Berg- und Eisenwerke bereits glühen, Menschen in Arbeitslagern elend zugrundegehen und die gnadenlose Herrschaft des Geldes seine langen Schatten wirft, dort, in den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts, treffen sich ein namenloser Landstreicher und Dieb und der aus dem Kaiserlichen Heer desertierte Adlige Christian von Tornefeldt in den verschneiten Weiten Schlesiens. Beide auf der Flucht, beide der, wie es im Roman heißt, großen "Elendsbruderschaft" angehörend, beide nahe am Verhungern. Wie sich diese zwei Lebenswege kreuzen, wie der Dieb die Identität seines Gefährten annehmen kann und zum adligen Gutsherrn wird, während der Betrogene in einem nahegelegenen bischöflichen Eisen- und Bergwerk geknechtet wird, wie Freundes- und Liebesverrat individuelles Glück herbeizwingen, es später wieder zerstören, wie dennoch beide Lebenswege ihre Erfüllung erst durch solchen Verrat finden, wie über allem der Aberglaube der Zeit sowie die Frage nach Schuld und Sühne schwebt, das erzählt der Roman. Und er erzählt es meisterhaft.

Nicht nur die Figuren, auch die Landschaften und die Epoche, in der Perutz seinen Roman angesiedelt hat, gewinnen Kontur und Plastizität, sie sind nicht impressionistisch hingetupft oder in historisierender Manier breit und pastös porträtiert, sie werden in scharfen Umrissen aus einer Kunstsprache modelliert, die archaisierend und modern zugleich ist, die alte Wörter in neue Sätze bringt und wie gesprochen wirkt. In einer seiner ganz wenigen poetologischen Selbstaussagen hat Perutz anläßlich des Erscheinens des "Schwedischen Reiters" sein credo in der Wiener Zeitschrift "Das Echo" am 8. Februar 1936 folgendermaßen formuliert: "Der historische Roman hat immer an der Papiersprache gekrankt, die man ihm aufgezwungen hat. Ein Drittel seiner Sprachkunst mag historisches Sprachgut sein: Sprache der Zeit, in der er spielt; ein anderes Drittel Sprachgeist der Personen, die handeln und sprechen; und der Rest ist Rhythmus, immer wieder Rhythmus und Musikalität." Und diese Musikalität besitzt Perutz. Darin ist er ein Meister, wie es im deutschen Sprachraum kaum einen vergleichbaren gibt. Nur Wolf von Niebelschütz - auch einer der großen Außenseiter der Literaturgeschichte - beherrscht es ähnlich wie Perutz, die Atmosphäre vergangener Zeiten durch den Zungenschlag, den Klang der Prosa zu evozieren. So erst werden die Figuren lebendig, die Landschaften gewinnen Tiefenschärfe und die historische Epoche ihren besonderen Charakter.

Dieser Charakter nun ist im "Schwedischen Reiter", dem barocken Weltbild gemäß, nicht zuletzt bestimmt durch die Vanitas-Thematik, die eine der handelnden Figuren des Romans so formuliert: "Denn alles vergeht, wie das Licht vergeht, wenn es seine Zeit geleuchtet hat, und wir sind nichts als ein Ball des wandelbaren Glücks, das uns in die Höhe wirft, damit wir um so härter fallen." Das Glück ist vergänglich, sei es nun dem Schicksal abgetrotzt mit List und Tücke wie von Perutz' namenlosem Dieb oder durch Geburt und Stand erworben wie im Falle seines Weggefährten. Alles hat seine Zeit. Das Leben und alle Träume verwehen, während irgendwo ein Gott sitzt und das Urteil spricht, von dem der Dieb am Ende schließlich glaubt, er habe es verstanden. Die indes nicht mehr ,historische' und moralische, sondern äußerst moderne Lehre aus Perutz' Geschichte könnte jedoch auch anders lauten: wessen Lebensglück von den Umständen nicht eingeplant ist, der muß es sich nehmen, ob er schuldig wird oder nicht, ob er dem Plan Gottes zuwider handelt oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Leiden und Sterben stehen in jedem Fall unter dem Strich. So sind denn auch beide Protagonisten des Romans am Ende der Geschichte tot. Beide aber haben das gefunden, was ihr Lebensziel gewesen ist, wenn auch in einem Fall nur temporär und im anderen erst nach einem Weg durch die Hölle. Und diese Hölle ist menschengemacht, in dieser Hölle, so formuliert es eine der Figuren, gibt es "keinen schlimmeren Teufel [...], als es ein Mensch dem andern ist."

Es sind dunkle Zeiten und traurige Träume, von denen Perutz hier erzählt, Zeiten unsicheren Glücks und verworrener Lebenswege. Und gerade darin wird Perutz' Roman auch zum Spiegel seiner eigenen Zeit, eben der dreißiger Jahre, in denen bei den wenigen Hellsichtigen die Ausblicke düster waren, in denen das kommende Inferno hinter allen gereckten Armen und "Heil"-Rufen bereits unheil-, aber planvoll vorbereitet wurde. Um indes kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Perutz hat gewiß kein aktuelles Gleichnis geben, keinen Zeitroman schreiben wollen. Und doch liegt das Grauen in der Luft und die Atmosphäre der Trauer um die Hinfälligkeit all unserer Wünsche und Ziele ist spürbarer als in den meisten seiner früheren Romane.

Als jüdischer Autor darf er seine Bücher in Deutschland nicht mehr verkaufen, der deutsche Markt, auf dem Perutz mit den Romanen "Zwischen neun und neun" (1918) und "Wohin rollst du, Äpfelchen ..." (1928) noch große Erfolge gefeiert hatte, ist weggebrochen, die braune Flut steigt und der Verlust der Heimat droht. Perutz klagt in einer Notizbucheintragung vom Jahresende 1934: "Finanzielle Lage düster. Deutschland für mich tot. Meine Bücher verramscht. Vaters Erbe verbraucht." Ende 1936 schreibt er als Jahresbilanz: "Kein gutes Jahr. Kein Geld verdient, alle Film- und anderen Chancen zerronnen. [...] Der einzige Lichtblick: Der ,Schwedische Reiter' ist fertig geworden. Aber er trägt mir kein Geld und wenig Ruhm. Deutschland fehlt." Bis 1938 wird er sich aber noch mehr schlecht als recht über Wasser halten und erst im letzten Augenblick sein geliebtes Wien verlassen, um über Italien nach Palästina zu emigrieren, von wo er erst Anfang der fünfziger Jahre zumindest für einige Sommermonate nach Österreich zurückkehrt. Inzwischen aber hatte man seinen Namen in der literarischen Öffentlichkeit weitgehend vergessen. Die Literatur war andere Wege gegangen. Für sein spätes Meisterwerk, den Legendenroman "Nachts unter der steinernen Brücke" (1953), findet er nur unter äußersten Schwierigkeiten noch einen Verleger. Am 25. August 1957 stirbt er während eines Besuchs in seiner alten Heimat, ohne große Hoffnung auf eine Renaissance seines Werks.

Heute indes werden die Bücher von Perutz wieder gelesen, heute finden sie ihr Publikum und der Autor die ihm gebührende Aufmerksamkeit. Nach mehreren Versuchen, das Werk wieder einzubürgern, was immer nur teilweise gelang, hat jetzt der Zsolnay Verlag bis auf die Dramen das literarische Werk von Perutz verfügbar gemacht. Von seinem exotischen Erstling, "Die dritte Kugel", bis zu seinem bezaubernden letzten Buch, "Nachts unter der steinernen Brücke", von den wunderbaren Novellen in "Herr, erbarme dich meiner" bis zu seinen kleinen Feuilletons und den Romanfragmenten aus dem Nachlaß in "Mainacht in Wien". Es gibt kaum eine Zeile, die nicht lesenswert wäre.

Die Bücher von Perutz, so hatte Alfred Polgar 1924 in der "Weltbühne" anläßlich seiner Besprechung des Romans "Turlupin" geschrieben, "vermitteln dem Leser kein neues Bild des Seins, reden keine Loch in den Bauch der Welt, helfen nicht über Tod, [...] glückliche und unglückliche Liebe. Sie versprechen dir nicht die Ewigkeit, aber sie [...] erquicken durch ihren Sauerstoffreichtum, befreien [...] vom Übel einer Zeit-Literatur, die ganz schwammig, form- und haltlos ist - ein Pilz, dem die Mauer abhanden gekommen -, chaotisch aus Mangel an Gestaltungskraft, gedunsen zur Verhehlung ihrer Flachheit." Dem kann man kaum etwas hinzufügen. Polgars Urteil gilt auch heute noch und ist ein Grund, alle Bücher von Perutz zur Lektüre zu empfehlen.

Titelbild

Leo Perutz: Der schwedische Reiter. Roman.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans-Harald Müller.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2002.
256 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3552052135

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