Leiden an der Zeit - Zeit des Leidens
Zweischneidige Essays von Thomas Fuchs
Von Frank Müller
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseThomas Fuchs ist Privatdozent und Oberarzt für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Heidelberg. Zu seinen Arbeitsgebieten gehören phänomenologische Anthropologie, Psychopathologie und Psychotherapie. Die phänomenologische Psychopathologie geht einerseits auf die "verstehende Psychopathologie" von Karl Jaspers zurück, begreift sich darüber hinaus aber auch als angewandte Phänomenologie im Sinne Husserls. Schwerpunkte gegenwärtiger phänomenologischer Forschung sind zunächst die grundlegenden Erlebniskategorien von Leib, Raum, Zeitlichkeit und Intersubjektivität. Sie finden besondere Anwendung auf die Analyse schizophrener Ich- und Intentionalitätsstörungen, auf das Leib- und Zeiterleben in der Melancholie, sowie auf die Psychopathologie und Ätiopathogenese von Wahnphänomenen im höheren Lebensalter.
In der Interrefezenzzone zwischen Psychiatrie und Philosophie sind auch die überaus lesenswerten, unter dem Titel "Zeit-Diagnosen" versammelten Essays des Autors angesiedelt. Sie wollen in einem doppelten Sinn verstanden sein: Es sind Diagnosen, die die Zeitlichkeit der menschlichen Existenz und das aus ihr entstehende Leiden betreffen; und Diagnosen, die pathologische Tendenzen der gesellschaftlichen Gegenwart aufweisen. Dabei können sich die Befunde der psychiatrischen Gesellschaftsdeutung zugleich als Fluchtimpulse vor der grundlegenden Zeitstruktur unserer Existenz erweisen. In der Entstofflichung und Entsinnlichung des Leibes im virtuellen Cyber-Space, in der modernen Verdrängung des Todes, in der manischen Beschleunigung des Lebensprozesses oder im Umbau von Sexualität und Erotik zu technisch-planmäßigen Praktiken wollen wir in Wirklichkeit nur eines - uns von der Zeit und ihren Folgelasten lossagen.
Dabei ist dieses Ausweichen vor Zeit und Gegenwart nach Fuchs eine wesentliche Ursache menschlichen Leidens. Wie sehr wir es auch verleugnen - wir sind und bleiben doch leiblich an die Gegenwart gekettet. Selbst die ausgefeiltesten Strategien der Selbsttäuschung verhelfen also nicht zu einer zeitlosen Existenz, sie vermehren nur das Leiden. Umgekehrt eröffnete das Zugeständnis der eigenen Zeitlichkeit die Möglichkeit, dass wir ihrer Macht nicht mehr so stark unterworfen wären. Die Lösung? Sie liegt nach Fuchs nicht in einer Kehrtwende, sondern im unverwandten Blick in die Augen der Medusa Realität: "Es ist, als läge in dem Leiden [...] schon ein Heilmittel für unsere Krankheit - eine bittere Arznei, die wir freilich nicht schlucken mögen: Wir wollen auch dem Leiden ausweichen, es um jeden Preis loswerden, und leiden daher nur umso mehr. Könnten wir wirklich bis auf den Grund unseres Leidens schauen und es aushalten, dann wären wir geheilt."
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