Vom Nutzen und Nachteil der Kunst für die Historie

Anne und Patrick Poirier unter geschichtswissenschaftlichen Aspekten

Von Johan Frederik HartleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johan Frederik Hartle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Welche Bedeutung haben zeitgenössische ästhetische Strategien für einen geschichtswissenschaftlichen Diskurs? Vier namhafte Diskutanten nehmen in dem im Göttinger Wallstein Verlag erschienenen Band "Archäologie zwischen Imagination und Wissenschaft: Anne und Patrick Poirier" zu dieser Frage Stellung. Ein erster Band war diesem vorangegangen, in dem bereits die Kunst von Jochen Gerz unter die historiographische Lupe genommen wurde. Beide gehen auf Diskussionen zurück, die im Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte geführt wurden.

Die Herausforderung, die jene Ausgangsfrage für die Geschichtswissenschaft bedeutet, ist nicht zu unterschätzen. Immerhin sind ästhetisch-imaginative Einsätze in die geschichtswissenschaftliche Forschung seit geraumer Zeit in ganz besonderer Weise thematisch. Eine (sogenannte) "postmoderne" Geschichtswissenschaft mit einer Rehabilitierung der Fiktion und Ästhetisierung der Erinnerung hat die Grundfesten der seriösen Geschichtswissenschaft erschüttert. Diese zeitgenössische historiographische Neigung zum Relativismus bildet den Hintergrund der Auseinandersetzung, wie vor allem die Einleitung des Herausgebers Bernhard Jussen verdeutlicht. Vor der Analyse der Arbeiten Anne und Patrick Poiriers unter geschichtswissenschaftlichen Gesichtspunkten steht daher eine methodologische Selbstvergewisserung.

Die ästhetischen Anregungen zur Beseelung des historiographischen Materials sind in der Diskussion eher entschärft als gezündet worden, die Trennung von Wissenschaft und Kunst von vornherein bestätigt. Das liegt nicht zuletzt am ästhetischen Material selbst. Die klassizistisch-sentimentale Ästhetik Anne und Patrick Poiriers mit ihren vielfachen pathetischen Inszenierungen einer Verfallsromantik haben durchaus eine ästhetizistische Tendenz. Ob ihre Arbeiten daher für die Ausgangsfrage ein besonders günstiges Beispiel bilden, ist fraglich. Die konzeptuelleren Arbeiten eines Christian Boltansky, in denen historiographische Gesten - nicht zuletzt in ihrem formalen Eigensinn - in nüchterner Formensprache rekapituliert wurden, mögen die besagte Grenze etwas radikaler in Frage stellen und die Diskussion in einem nächsten Band kontroverser entfachen. Zahlreiche andere Künstler ließen sich nennen, die ebenfalls radikaler an die Grenze gehen. Aber diese Diskussion nimmt von Anne und Patrick Poirier ihren Ausgang und ist schon dadurch auch vorstrukturiert.

Angesichts dessen kann nicht verwundern, dass von den vier Aufsätzen zum Werk der Poiriers sich drei nicht wirklich von ihnen herausgefordert fühlen. Sowohl Lambert Schneider als auch Jan und Aleida Assmann lassen sich zwar zu Reflexionen über die Grenzen der historiographischen Erinnerung einladen und kommen dabei zu fundierten Einschätzungen der jeweiligen Kunstwerke. Allerdings bleibt dieser Blick gewissermaßen auch bildungsbürgerlich und neutral. Er ist interessiert und fundiert, bleibt letztlich aber doch distanziert. Lambert Schneider geht ebenso wie Jan oder Aleida Assmann analytisch von den Arbeiten der Poiriers aus, um ihren immanenten Sinn zu rekonstruieren. Ein Spannungsfeld von Geschichtswissenschaft und ästhetischer Imagination wird dabei kaum eröffnet.

Freilich, die ästhetischen "Parodien unseres Gewerbes", die Jan Assmann und Lambert Schneider "neugierig" zur Kenntnis nehmen, eröffnen einen Blick auf all die subjektiven Zutaten und all jene objektivierenden Ausgrenzungen der historiographischen (Re-)Konstruktionsarbeit. Aber als reflektierte Methodologen können Assmann und Schneider durch derartige Einsichten nicht erschüttert werden. Eher dankbar für den geleisteten Tribut an den Gegenstand der eigenen Arbeit als verstört durch die methodologische Herausforderung erscheinen ihre Kommentare. Dass die historische Welt auch ästhetisch erschlossen wird, während sie der nüchterne Historiker nur modellhaft, gleichsam als Gestell (re-) konstruiert, dass ferner die Einsätze und Leidenschaften in der ästhetischen Praxis rehabilitiert werden, während sie der Historiker mit aller Macht zu sublimieren sucht, das gestehen Assmann und Schneider - in bewusster Anerkennung jener Trennung von Kunst und Wissenschaft - großzügig zu. An der Grenze von Geschichte und Gedächtnis zu rütteln, fühlen sie sich ernsthaft nicht herausgefordert.

Aleida Assmann führt in ihrem denkbar kurzen Aufsatz einen einzigen Begriff ins Feld. Aby Warburgs Begriff des "Leidschatzes" entdeckt sie hinter den ästhetischen Codes der Arbeiten Anne und Patrick Poiriers. Mit ihm lasse sich die Inszenierung historischer Erfahrungen charakterisieren, wie sie in den Arbeiten der Poiriers aufgespeichert sind. Weniger eine Spannung von Historiographie und ästhetischer Imagination als einen - etwas sentimentalischen - Nebensinn der geschichtlichen Erinnerung stellt sie damit am Beispiel von Anne und Patrick Poirier in den Vordergrund.

Allein der Althistoriker Egon Flaig stellt quer sich zu solch gemütlicher Deutung des Poirierschen Projekts einer Gedächtnis-Kunst. Er stellt die Frage nach "der Übersetzbarkeit ästhetischer Erfahrung in Impulse, die forschungspraktisch relevant sind". Konkrete Hinweise, das sei vorweggenommen, findet Flaig bei Anne und Patrick Poirier nicht.

Flaig zieht vehement die Grenze zwischen Geschichte und Gedächtnis nach, die in den Beiträgen Assmanns und Schneiders - im Gestus toleranter Milde - anerkannt ist. Gedächtnis, im Sinne einer werthaft durchzogenen Erinnerung (womöglich noch einer einzigen Makrokultur), das sei kein Gegenstand der Wissenschaft. Es wäre wahrscheinlich noch nicht einmal ein Gegenstand der Kunst, zumindest dann nicht, wenn sie sich vor der repressiven Repräsentation von Makrodiskursen (Kultur) und Sentimentalisierung scheut. Flaig deutet eine solche Kritik der Poirierschen Arbeit an, führt sie jedoch nicht aus. Sollte sie zwischen den Zeilen stehen, behielte er damit vermutlich Recht. Aber Flaig betont ausdrücklich und wiederholt "nicht über ihre Qualität zu urteilen". Und das ist schon heilsam angesichts der interpretativen Freundlichkeit, die Schneider und die Assmanns ihr entgegenbringen.

Ohne Relevanz für die Geschichtswissenschaft seien die Arbeiten der Poiriers auch deshalb, weil sie nur verschwundene Kulturen suggerieren, in Wahrheit aber auf gar keine Kulturen rekurrieren, die es jemals gegeben hat. Zwar benutzten sie historische Formeln und Anspielungen, allerdings nie konsistent. Somit wird Erinnerung in allgemeiner Weise zu ihrem Thema, nicht aber historisch konkrete Erinnerungen. Dass ihre Pathosformeln durch diesen Grad der Allgemeinheit nicht unbedingt gewinnen, sei dahingestellt.

Es ist auch Egon Flaig - und auch deshalb ist sein Text der beste im ganzen Band - der Erinnerung in ihrer Selektivität und Politizität benennt. Der kitschige Charakter, der der gesamten Diskussion um Gedächtniskunst anhaftet, erfährt dadurch eine Opposition. Die Sentimentalisierung von Geschichte, die doch eine Geschichte konkreter Kämpfe ist, wird ein bisschen in ihre Grenzen verweisen. Denn der Universalisierung von Erinnerung zu "der Erinnerung" kann mit Recht misstraut werden.

Flaigs These hinsichtlich des historiographischen Werts der Arbeiten der Poiriers ist eindeutig: die bildende Kunst kann der Geschichtswissenschaft nicht helfen. So richtig widerspricht ihm in diesem Band zwar niemand. Allerdings kommt ihm allein das Verdienst zu, das deutlich auszusprechen. Die anderen Autoren überlassen ihm das schüchtern. Alle Autoren zusammen überlassen es dem Rezensenten, vorsichtig den Wert der ästhetischen Beispiele für die vorliegende Diskussion zu bezweifeln.

Titelbild

Bernhard Jussen (Hg.): Archäologie zwischen Imagination und Wissenschaft: Anne und Patrick Poirier.
Wallstein Verlag, Göttingen 1999.
168 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-10: 3892443475

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