Erfreuliches und ein Desaster ohne Ende

Anmerkungen zur Editionsgeschichte von Freuds Schriften

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Erfreuliche zuerst: Noch nie waren die Werke Freuds in diesem Umfang zu einem derart niedrigen Preis zu bekommen. Für nur 75 Euro ist inzwischen im Reprint als Taschenbuchausgabe zu haben, was bis dahin in gebundener Form 2850 DM kostete: die umfangreichste Freud-Edition in deutscher Sprache, bestehend aus den 17 Bänden, die, von Anna Freud initiiert, zwischen 1940 und 1952 erstmalig erschienen, aus dem 1968 vorgelegten, so umfangreich wie nützlichen "Gesamtregister" und aus dem 1987 erschienenen "Nachtragsband". Weniger kostete zeitweilig nur eine inzwischen vergriffene Taschenbuchedition der "Studienausgabe", die freilich längst nicht so umfassend ist.

Das günstige, fast 9000 Seiten umfassende Angebot sollte sich niemand, der häufiger mit Freuds Schriften befasst ist, entgehen lassen - zumal langfristig keine bessere Werk-Ausgabe in Sicht ist. Doch eben damit erinnert sie an das, was nach mehr als hundert Jahren, in denen die Psychoanalyse eine beispiellose Wirkung auf alle Bereiche unsere Kultur entfaltete, bedauerlich, wenn nicht skandalös ist.

Der S. Fischer Verlag verdankt sein heutiges Ansehen maßgeblich drei der bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts: Franz Kafka, Thomas Mann und Sigmund Freud. Zu Kafkas Werken hat er mittlerweile eine historisch-kritische Ausgabe vorgelegt. Das editionsphilologische Desaster im Umgang mit Thomas Mann beginnt der Verlag inzwischen zu beseitigen. Im Umgang mit Freud scheint es kein Ende zu nehmen.

Für den Nachtragsband der "Gesammelten Werke" berichtete 1985 die Mitarbeiterin Ilse Grubrich-Simitis über die Geschichte und Problematik der Freud-Editionen. Mit Recht erinnerte sie an die heute immer noch unterschätzte Bedeutung, die der legendären Londoner "Bloomsburry group" für die Verbreitung und editorische Betreuung der Psychoanalyse zukommt. Aus dem Umkreis dieser Gruppe erwuchs jene Ausgabe der ins Englische übersetzten Werke Freuds, deren Qualität bei allen inzwischen erkannten Mängeln insgesamt die der deutschen Freud-Ausgaben weit übertrifft: die von James Strachey, dem Bruder von Lytton Strachey, herausgegebene "Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud". Sie erschien in der "Hogarth Press", also dem Verlag, den Virginia und Leonhard Woolf gegründet hatten und den Leonhard Woolf noch immer leitete, als die ersten Bände vorlagen. Auf dieser "Standard Edition" basieren die elf Bände der deutschen "Studienausgabe", die zwischen 1969 und 1975 erschienen, und auch der Nachtragsband der "Gesammelten Werke", dessen editorische Qualität die der anderen Bände deutlich übertrifft.

Der abschließenden Einschätzung zur Editionslage, die Ilse Grubrich-Simitis 1985 in ihrer Einleitung zu dem Nachtragsband formulierte, ist noch heute kaum etwas hinzuzufügen: Der Nachtragsband sei "lediglich so etwas wie eine solide Zwischenstation [...] - auf dem Wege zu einer definitiven historisch-kritischen deutschen Freud-Gesamtausgabe, die auch die voranalytischen Werke und die Briefe zu umfassen hätte. Diese Edition ist und bleibt ein Desiderat."

Es scheint, als hätte man sich inzwischen damit abgefunden.

Titelbild

Sigmund Freud: Gesammelte Werke. In 18 Bänden mit einem Nachtragsband.
Herausgegeben von Anna Freud u. a.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
8.880 Seiten, 75,00 EUR.
ISBN-10: 3596503000

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