Geschichtspolitische Irrwege

Ein nützlicher Sammelband zum neuen deutschen Bewusstsein

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Geschichte ist zweierlei: Was in der Vergangenheit wirklich geschah erstens, zweitens die Erzählungen darüber, was denn geschehen sei. Wenn in der Regel Unterschiede zwischen beiden bestehen, dann nicht allein wegen mangelnder Wahrheitsliebe der Erzähler; Vergangenes ist nie unmittelbar zugänglich, es muss aus Überliefertem rekonstruiert werden. Über unvermeidliche Abweichungen hinaus, die auch bei aufrichtigem Bemühen unterlaufen, führt guter oder böser Wille zu Interpretationen, deren Zweck vor allem die Beeinflussung der Gegenwart und damit der Zukunft ist. Für solches Tun, etabliert seit Jahrtausenden, hat sich in jüngster Zeit der Terminus "Geschichtspolitik" eingebürgert.

Die bundesrepublikanische Geschichtspolitik kennt verschiedene Kampffelder; nach dem etwas kurzatmigen Versuch in den achtziger Jahren, wieder Preußen als positiven Bezugspunkt deutscher Identitätsbildung zu etablieren, ist neuerdings die Deutung der Revolte um 1968 umstritten. Angelpunkt der nationalen Geschichtsdiskussion war und ist jedoch der deutsche Faschismus. Mit zunehmendem zeitlichen Abstand intensivierte sich die Auseinandersetzung noch: Die neunziger Jahre brachten mit den Diskussionen um die Wehrmachtsausstellung, um Goldhagens Buch über "Hitlers willige Vollstrecker", um die Entschädigung von Zwangsarbeitern, um das Berliner Holocaust-Mahnmal und schließlich um Walsers Paulskirchenrede eine dichte Folge von Konfrontationen.

In ihnen allen war nicht allein Thema, was denn ein halbes Jahrhundert zuvor geschehen sei. Streitpunkt war auch, im Falle der Walser-Debatte fast ausschließlich, wie denn mit diesem Geschehen heute umzugehen sei - ein sicheres Indiz dafür, dass Geschichtspolitik die Geschichtsschreibung dominierte, was auch immer Goldhagen oder die Organisatoren der Wehrmachts-Ausstellung beabsichtigt haben mochten. In keiner dieser Debatten konnten sich Apologeten der deutschen Vergangenheit durchsetzen. Allgemeines Bewusstsein dürfte heute sein, dass nicht allein Hitler und die SS, sondern eine Vielzahl "normaler" Bürger und im Osten zahlreiche Verbände der Wehrmacht an den schlimmsten NS-Verbrechen teilhatten. Gleichfalls kaum mehr umstritten ist das Ausmaß von Zwangsarbeit, mag auch - Preis der Ausblendung geschichtlicher Realität - die vorgebliche Entschädigung, die tatsächlich gezahlt wird, nicht einmal den Arbeitslohn abdecken, geschweige denn Verschleppung und Misshandlungen, "wiedergutmachen", wie es so putzig heißt. Walser zwar vermochte am Ende jener Dekade über Ignatz Bubis zu triumphieren - doch um den Preis, dass seine medialen Unterstützer Walsers Forderung, öffentlich gar nicht mehr über deutsche Verbrechen zu reden, in eine Kritik an bestimmten ritualisierten Formen jenes Gedenkens abschwächen mussten.

Keine schlechte Bilanz also auf den ersten Blick, und doch handelt es sich um das Jahrzehnt, in dem Deutschland in aller Offenheit sich als kontinentaleuropäische Führungsmacht etablierte und an dessen Ende es sich sogar an einem Einmarsch in jenes Serbien beteiligen konnte, das wie kaum ein anderes Land unter der deutschen Wehrmacht gelitten hatte - bei marginalisierter öffentlicher Kritik mit ausgerechnet der Propagandalüge, es gelte ein neues Auschwitz zu verhindern. Offensichtlich ist eine neue Lage entstanden und hält der Hinweis auf deutsche Vergangenheit die deutsche Politik nicht mehr im Zaum, sondern vermag sie noch zu legitimieren. Dieser Lage stellt sich in einem Sammelband des Gießener "Netzwerks für politische Bildung, Kultur und Kommunikation", der "geschichtspolitische Wege ins 21. Jahrhundert" untersucht, eine Reihe von Autoren auf durchweg hohem Niveau.

Auf abstraktester Ebene berührt der Aufsatz von Gerd Wiegel den Kern der Problematik. Wiegel mahnt zu Recht, dass einerseits eine Erinnerung, die Auschwitz als uneinholbar Böses außerhalb jeder Geschichte ansiedelt, der Verpflichtung nicht gerecht wird, Ähnliches in der Zukunft zu verhindern, und dass andererseits stets Instrumentalisierung droht: "Im Kampf um die moralische Hegemonie ist der Holocaust zu einem entscheidenden Gut geworden, das von allen Parteien für ihre Interessen genutzt wird." Den Ansatz von Daniel Levy und Natan Sznaider, die die universalisierte Erinnerung an den Holocaust als Fortschritt feiern, betrachtet Wiegel mit Skepsis: Levy und Sznaider überschreiben einer globalisierten liberalen Elite die Deutungsmacht, wer denn ein neuer Hitler sei. Dabei reduzieren sie komplexe internationale Probleme auf ein einfaches Täter-Opfer-Schema; nebenbei erlauben sie so auch den Deutschen, die beliebte Rolle des Retters einzunehmen und sich damit der konkreten Auseinandersetzung mit der vergangenen Täterschaft zu entziehen. In einem ähnlichen Muster sieht Wiegel auch den Erfolg Goldhagens bei einem großen Teil seiner deutschen Leserschaft begründet: Goldhagen bescheinigte der Bundesrepublik unbesehen einen Bruch mit dem "Dritten Reich" und fasste Täterschaft als Folge einer individuellen moralischen Entscheidung auf. Gegen eine solch bequeme Historiographie, die dem Leser ungeprüfte Identifikation natürlich mit dem anständigen Verweigerer anbietet, setzt Wiegel eine Geschichtsschreibung, die konkrete Einzelfalluntersuchungen mit übergreifenden strukturellen Fragestellungen verbindet.

Am weitesten führt der Beitrag von Marc Schwietring in die Vergangenheit zurück, der den Wandel der Konzeptionen von NS-Gedenkstätten skizziert. Schwietring belegt, wie in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre vorhandene Gedenkstätten sogar aufgegeben oder zugunsten einer undifferenzierten Erinnerung an alle Kriegstoten, also auch die deutschen Täter, umgewidmet wurden; er umreißt kurz die Erinnerungspolitik der DDR, die bis wenige Jahre vor ihrem Ende reduktionistisch auf den kommunistischen Widerstand fokussiert war. (Die in den Aufsätzen des Bandes verstreuten empirischen Daten belegen eher nebenbei, dass die Bevölkerung der neuen Bundesländer trotz größerer wirtschaftlicher Probleme eine geringere Anfälligkeit gegenüber antisemitischen Ressentiments zeigt als die des Westens - was darauf hindeutet, dass der vielgeschmähte "verordnete Antifaschismus" so wirkungslos doch nicht war.) Schwerpunkt des Beitrags ist die Umwidmung der Gedenkstätten in den neuen Bundesländern nach 1989. Nun bedrohten Totalitarismuskonzeptionen das konkrete Erinnern. Schwietring bagatellisiert die Opfer des Stalinismus nicht, doch verweist er zurecht darauf, dass nicht nur die Zahl der Toten das faschistische KZ Buchenwald und das sowjetische Speziallager nach 1945 am gleichen Ort unterscheidet: Die Differenz ist die zwischen intendiertem Massenmord und Versorgungsengpass im Nachkriegshunger, aber auch die Tatsache, dass zahlreiche, wenn auch nicht alle der Insassen des sowjetischen Lagers NS-Täter waren. Die Gleichsetzung von Faschismus und Stalinismus, die in der Neukonzeption der Gedenkstätte Buchenwald nur partiell und vielfach gar nicht vermieden wurde, bedeutet eine "Entkontextualisierung und Entkonkretisierung der Orte". (Schwietring)

Gewalt wird damit anthropologisiert, historischer Erklärbarkeit entzogen, wie es auch dem Arbeitsprogramm des Hamburger Instituts für Sozialforschung entspricht. Dem Ansatz entgegen gelang dem Institut die alte Wehrmachtsausstellung, die auch in einer breiten Öffentlichkeit mit dem Mythos des sauberen deutschen Soldaten aufräumte und in ihrer neuen Version statt der Emotionalisierung, die durchaus ihren Wert hatte, eine genauere Rekonstruktion von Entscheidungsmechanismen versucht. Michael Klundt schreibt gegen den Strich; wohlbegründet, da die Kritik an der vergangenen deutschen Aggression das neue deutsche Großmachtstreben wirksam begleitete. Er weist den Ausstellungsmachern, sogar dem auf rechten Druck hin entlassenen Hannes Heer, Anthropologisierung und totalitaristische Enthistorisierung von Gewalt nach und zeigt, warum Bilder vom Völkermord an Serben Bomben auf Serbien legitimieren konnten. Freilich entgeht ihm die ambivalente Wirkung von Emotionalisierung. Ganz aktuell: Mag der gegenwärtige Pazifismus für den Irak deutschen Staatsinteressen entsprechen, so befestigt er doch eine Haltung, die im nächsten Fall lästig werden kann. Recht hat Klundt freilich mit seiner Wendung gegen eine Sozialwissenschaft, die sich auf die Opferperspektive beschränkt: Indem Kontexte ausgeblendet und die Opfer nichts als Opfer sind, vollzieht solche Wissenschaft noch einmal die Reduktion von Personen zu Opfern nach.

Eindeutiger liegt der Fall der Vertriebenenpolitik. Im deutschen Diskurs, in der Instrumentalisierung der flüchtenden Kosovo-Albaner bis hin zur Rezeption von Grass' "Krebsgang"-Novelle und neuesten Fernseh-Dokumentationen von ARD und ZDF, zeigt sich eindeutig die Tendenz, die Vergangenheit nicht mehr zu leugnen, sondern mittels der früheren Verbrechen die je aktuelle Politik zu legitimieren. Samuel Salzborn, Kenner der Politik von Vertriebenenverbänden, vermag auch im medialen Detail zu belegen, wie legitimatorische Reste historischer Erkenntnis zur Wirkungslosigkeit verdammt werden und die Perspektive der deutschen Opfer dominiert.

In seinem zusammen mit Schwietring verfassten Beitrag zum Antisemitismus wird die unmittelbare Wirkung von Äußerungen wie denen Möllemanns oder Walsers deutlich. Die Etablierten beschränken sich auf den sekundären Antisemitismus: den Juden anzulasten, sie profitierten vom Völkermord. Die Aktivisten verstehen, was gemeint ist: Sofort stieg die Zahl von Übergriffen auf jüdische Friedhöfe, stieg auch die Zahl antisemitischer Schmierereien und Gewalttaten. Bedenklich stimmt, dass nach Salzborn und Schwietring nicht Möllemanns Ausfälle, sondern erst der Eindruck, die FDP sei in sich zerstritten, zum ernüchternden Wahlergebnis vom September 2002 führte - mit Gewinnen in Möllemanns Nordrhein-Westfalen.

Offensichtlich haben revisionistische Ideologien bis weit ins Bürgertum hinein Fuß gefasst. Ein Band wie der vorliegende, der nicht allein die Entwicklung beklagt, sondern analytische Kategorien bereitstellt, sie zu verstehen, ist da um so hilfreicher.

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Michael Klundt / Samuel Salzborn / Marc Schwietring / Gerd Wiegel: Erinnern, Verdrängen, Vergessen. Geschichtspolitische Wege ins 21. Jahrhundert.
Netzwerk für politische Bildung, Kultur und Kommunikation e. V., Giessen 2003.
176 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 300010741X

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