Was sei ein Leben in Plüsch?

Michael Ebmeyers Debütroman "Plüsch"

Von Julia-Charlotte BrauchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia-Charlotte Brauch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der expressionistische Dramatiker Carl Sternheim bezeichnete die Epoche, in die er 1878 hineingeboren wurde, als "Plüschzeit". Mit spitzen Sätzen karikiert er das dekadente Lebensgefühl der Bismarck-Zeit:

"In klein- und großbürgerlichen Wohnzimmern stand das geschweifte Sofa aus rotem Plüsch, der als Gardine vor Fenstern, über jedem Alkoven in alle Lebensfeste hing, als Wolke von vergoldeten Putten auf Bürgerbetten schwebte, den bessere Damen als Kleider trugen. Gesprochen wurde Plüsch, indem jedem Thema die Spitze, das Persönliche abgebrochen wurde, es bürgerlich geglättet war; Politik und Wirtschaft schienen Plüsch, und am plüschesten junger Mädchen träumerische Augen, die wir abgöttisch liebten. Kurz der Deutsche war vom lieben Gott in Plüsch gebettet."

Pünktlich zur nächsten Jahrhundertwende greift der Berliner Schriftsteller Michael Ebmeyer das Kultwort "Plüsch" wieder auf, diesmal jedoch jenseits der miefigen Bedeutung, die es bei Sternheim hat. Bei ihm wird "Plüsch" zum Kodewort für das Streben nach einem "Leben in Würde". Gibt es dennoch Parallelen zwischen Sternheims und Ebmeyers "Plüsch"?

Im Kern des Romans stehen die beiden Freunde Tim Schadeck und Karel Maul. Der Eindruck täuscht nicht, die Namen sind sprechend: Tim ist ein eher unauffälliger, zögerlicher Zeitgenosse, während Maul den extrovertierten und souveränen "Poser" spielt, zusammen geben sie ein ungleiches Gespann und sind doch beide Ritter von der traurigen Gestalt. Am Ende ihres abgebrochenen Studiums fehlt ihnen eine Zukunftsperspektive, und so entsteht im Drogendelirium einer lauen Kneipennacht der Plan, sich eine Galgenfrist von zwei Jahren für den Aufbruch aus ihren "jämmerlichen Existenzen" zu setzten: "Ab sofort solle Plüsch Sammelbegriff für alles sein, was dazu beitrüge, unser Leben entschieden zu verbessern. [...] Als Beschwörung. Als Zeichen unseres guten Willens." Das Symbol dieses Vorhabens ist ein knallrotes Plüschsofa, ein Altar als Station auf der Gralssuche. Gemessen wird das Lebensprojekt übrigens anhand eines Punktesystems ohne feste Regeln. Außer dem Sofa also vorerst keine Referenzen an Sternheim.

Ein festes Ziel haben Tim und Maul nicht. Sie verbringen die Frist ihres Paktes mit ihrer Band "Scholli G.", touren durch Deutschland, ohne dass sich rauschender Erfolg einstellte, und halten sich mit skurrilen Jobs über Wasser: Maul verdient sein Brot beim durchgeknallten Antiquarienhändler Dieter Christiany, Tim schweißt Stahlobjekte für den sozialistisch angehauchten Künstler Victor Panzer. Nur ex negativo erfahren die Freunde lebenswerte Alternativen: Bei der Begegnung mit Studienfreunden kommt es immer wieder zum Bruch, weil sie sich weder mit der Aussicht auf eine Existenz als Anwalt oder als Kommunikationstrainer mit weltverbesserischem Ansatz anfreunden können, noch mit Entwicklungshilfe in Ghana, und schon gar nicht wollen sie den Gral in einem Audi TT oder einer biederen Hochzeit erkennen. Tim übt sich derweil lieber in lakonischen Betrachtungen, so zum Beispiel, wenn er eine wüste Litanei über das menschliche Wesen aus Tepls spätmittelalterlichem "Ackermann" dem "Wichtigtuer-Kauderwelsch" einer Consulting-Agentur gegenüberstellt.

Dadurch, dass der Roman über weite Teile aus der Perspektive des resignierenden Tim erzählt wird, wirkt die Geschichte weniger wie eine heroische Geste gesellschaftskritischer Randfiguren als vielmehr als Kapitulation vor hochfliegenden Lebensträumen. Auf einer Reise nach Barcelona stehen die zwei nüchtern vor den Gräbern der spanischen Anarchisten, Maul hat Enzensbergers "Kurzen Sommer der Anarchie" nebst Houellebecqs desillusionierenden Roman "Elementarteilchen" im Gepäck. Bezeichnenderweise verschweigt Tim hier, bei der Abrechnung über die vergangenen zwei Jahre, die letzten Worte der Durruti-Biographie: "Aber was vorbei ist, ist vorbei. Man macht nicht zweimal dieselbe Revolution." Die Visionen der Vorbilder sind verraucht, die Zukunft haben die beiden erst nicht im Griff. Tim kehrt mutterseelenallein ins deutsche Lotterleben zurück, Maul verschwindet spurlos im Nichts.

Also alles verpufft? Es scheint so, denn Tims reichlich desorientierte Erzählung gleicht dem Erwachen aus einem Albtraum. In Rückblicken versucht er die zwei Plüschjahre und vor allem das Zerbrechen seiner Freundschaft mit Maul zu rekonstruieren. Seine Plüschmappe erweist sich vor dem Hintergrund seiner Biographie als Dokumentation eines kontinuierlichen Scheiterns, eines "Rückfalls in die Pubertät". Tim weiß die Liebesbeweise seiner Umwelt nicht als Motor für besagtes "Leben in Würde" umzusetzen, suhlt sich statt dessen in quälendem Selbstmitleid. Auch die Kritik einer Freundin über "das Lebensmüde als Pose" prallt eindruckslos an Tim ab. An sezierender Selbstbeobachtungsgabe fehlt es diesen "heimlichen Helden der Jahrhundertwende" nicht, vielmehr mangelt es daran, sich entweder für eine bewusst gewählte Alternative oder eben doch fürs verfemte Establishment zu entscheiden. Sie straucheln so lange gegen ihre Feindbilder aus der "bekloppten Berliner Republik" an, bis sie unweigerlich wieder in der Sackgasse der verpassten Möglichkeiten landen. Und Tim diagnostiziert geknickt: "Tim der Verlorene [...] das Bild einer Existenzweise, die ihr Verfallsdatum überschritten hat" und "Klein Doofi mit Plüschohren".

Wohlbemerkt, es ist nicht so, dass Ebmeyer in seinem Roman alternative Lebensentwürfe außer Acht ließe. Doch auch hier präsentiert er dem Leser gescheiterte Biographien, nämlich die Eltern seiner Helden. Alle diese 68er hatten einmal große Vorstellungen von einem wünschenswerten Leben, doch auch sie verfielen einem lähmenden Alltagstrott. Tims Vater wird zum moralinsauren Wohlstandsnörgler, seine Exfrau taucht in Depressionen ab, und Mauls Mutter versumpft nach dem Selbstmord ihres Mannes in der nordfriesischen Pampa. So können sich die Kinder, geplagt von Scheidungstraumata und den Ideologiekrisen der Eltern, von vornherein gar nicht mehr zu politischem Engagement aufrappeln. Eine Mitgliedschaft bei den Grünen ist schnell ad acta gelegt, und die weltweite Protestwelle gegen den WTO-Gipfel in Seattle erleben sie weltschmerzelnd in die eigene Studentenbude zurückgezogen.

Tim und Maul können nicht formulieren, was sie suchen. An dieser Stelle lässt sich doch noch der Bogen zu Carl Sternheim spannen: "Was ich in diesem furchtbaren Jahrzehnt von 1897-1907 erlebte, gab mir Gewißheit, es fehlte den Zeitdeutschen der eigentliche Sinn, ein Element, das ich glühend entbehrte, ohne es nennen zu können; das die Nation verloren hatte." An derselben Motivaktionslosigkeit krankten die 90er des 20. Jahrhunderts. In Sternheims "bürgerlichem Heldenleben" gilt es, gemäß seinem Feindbild ganz konform "Plüsch unter Plüsch zu s c h e i n e n" und gleichzeitig in vergnügter "Privatkurage" den "Trieb zur persönlichen Charakterfreiheit" auszutoben, also durchaus ein "Leben in Würde" zu führen, wenn auch keinesfalls nach idealistischen Maßstäben. Ebmeyers Protagonisten sind ebenso weder positive noch negative Identifikationsfiguren: Zwar schafft Maul in Barcelona den Sprung aus der Lethargie, doch er entflieht der Gesellschaft, um weiterhin eine klägliche Rebellenpose zu demonstrieren, und Tim fügt sich letztlich ohne exzessive Glücksgefühle dem, was das Leben so bringt. Von Sternheimscher Selbstverwirklichung also keine Spur. Ebmeyer stellt Lebensentwürfe zur Diskussion, rollt alte Ideen nochmals aus schräger Perspektive auf und klinkt sich durch subversive Alltagsbeobachtungen ins Gewissen des Lesers ein. Wie bei Sternheim liegt seine Provokation darin, dass er eben kein klares Urteil über das Leben seiner Helden fällt, keine passablen Gegenentwürfe vorstellt, den Leser mit offenen Fragen verstört.

Tröstlich ist - Ironie des Schicksals -, dass der handlungsunfähige Tim einen zufälligen One-Night-Stand ausgerechnet mit der Traumfrau Nike (!) hat, an der sich der viel zu coole Maul einen Sommer lang verzweifelt die Zähne ausbiss; will sagen, das kurze Glück kann sich auch ohne große Showeffekte noch einschleichen. Weil Tim aber just in diesem Moment wieder nicht die Gunst der Stunde wittert und seine notorischen Skrupel nicht über Bord werfen kann, gibt er selbst hier eine schwache Figur ab - sogar hier muss dieser Untergeher sich der Ehrenrettung halber noch hinter einem Zitat von Großmeister Goethe verbergen! Überhaupt, die Bettgeschichten: Ebmeyer hat ein besonderes Händchen dafür. Im Gegensatz zu anderen Autoren der Pop-Liga (sic!) schreibt er nicht von unerotischen, weil allzu schönen Körpern und Profilneurotikern ohne Hemmungen, sondern rückt die ersten, letzten, verkorksten und ausgebliebenen Male ins Licht, ohne dabei den Respekt vor seinen eigenen Romanfiguren zu verlieren. Ebenso entlarvt der Autor vermeintlich romantische Situationen als Pflichtstationen des Lebens, während die wahrhaft goldenen Momente zugleich die traurigsten sind. Je schiefer die Sache läuft, desto glänzender ihre Beschreibung. Ebmeyer hat ein feines Gespür für die heimlichen "unerhörten Begebenheiten" des Lebens. Seinen Figuren legt er eine gelungene Sprache für die Unfreude am Leben in den Mund, die sich an Nebensächlichkeiten manifestiert wie dem Kaffeeautomaten, dessen Auswurf nach "Asche und Brühwürfel" riecht - ein befremdlicher Nachgeschmack sei dem Leser garantiert.

"Plüsch" ist endlich ein Buch über die Generation der 90er, das weder hilflos im Trüben stochert, noch abgebrühte Überlegenheit vortäuscht. Ein widerborstiges Lesevergnügen, das einen gleichermaßen in die hintersten Winkel einer deutschen Studentenstadt wie auf die kurzzeitig plüschbringende Reise nach Barcelona mitnimmt. Übrigens sollte, wer noch Gelegenheit dazu hat, unbedingt die Chance nutzen, einer Lesung von Michael Ebmeyer beizuwohnen. Er gehört zu den wenigen Autoren, die ihren Texten eine angemessene Stimme verleihen. Und: Welcher Verlag macht sich endlich an eine Hörbuchversion von "Plüsch"?

Titelbild

Michael Ebmeyer: Plüsch. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002.
320 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3462031309

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