Verlorene Kindwelt, verlorenes Land

Das poetische Debüt "Tito ist tot" von Marica Bodrožic

Von Stephan LandshuterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Landshuter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Juni 2001, als sie sich beim Jahrestreffen des Hermann-Lenz-Freundeskreises auf einem Donauschiff bei Passau umgeben von Granden der Kultur wie Hubert Burda, Peter Hamm, Michael Krüger und Peter Handke wiederfand, wirkte die junge, zierliche Marica Bodrožic beinahe ein wenig eingeschüchtert, denn noch war sie eine Autorin ohne Buch. Ihre Erzählungen, für die sie eines der Hermann-Lenz-Stipendien zugesprochen bekommen hatte, waren bis dahin nur einigen wenigen Insidern bekannt. Aber wer genau hinsah, der konnte hinter ihrer Zurückhaltung schon eine gewisse Selbstsicherheit erkennen. Vermutlich wusste sie ihre literarische Klasse schon einzuschätzen. Ein halbes Jahr später erschien ihr erstes Buch bei Suhrkamp mit dem Titel "Tito ist tot", nun konnte auch öffentlich nachvollzogen werden, dass Marica Bodrožic im Hermann-Lenz-Freundeskreis durchaus nicht fehl am Platze war, da ihre Literatur tatsächlich eine geistige Verwandtschaft zu Lenz oder Handke aufweist. Denn diese beiden Sprachkünstler haben in ihren Werken wie nur wenige sonst ein Auge auf die kleinen, scheinbar unbedeutenden Dinge. Diese Philosophie des Ins-Recht-Setzen des Kleinen, leicht zu Übersehenden teilt offenbar auch Marica Bodrožic. So strahlen die impressionistischen Erzählungen ihres Erstlings, die sich um den Verlust der Kindheit und der jugoslawischen Heimat drehen - die nunmehr 30-Jährige kam erst im Alter von zehn Jahren nach Deutschland -, allesamt eine fragile Poesie aus.

Die Erzählungen lassen sich grob in zwei Klassen einteilen: Einmal sind da die Texte, in denen sich eine mehr oder minder explizit vortretende erwachsene Frau, die vermutlich viel mit der realen Autorin zu tun hat, in einem halb träumerischen, halb wachen Erzählton an verlorene Kindwelten erinnert. Zum anderen gibt es Texte, in denen anhand von Einzelschicksalen die Realität eines fremden Landes erfahrbar gemacht wird. Es gehört dabei zu den Qualitäten dieses Buches, dass die einzelnen Texte nicht immer eindeutig von Jugoslawien erzählen, wenngleich dieses zerfallende Land gewiss hier den Nährboden bildet. So bewahren sich die Geschichten eine universelle Gemeingültigkeit. Gewiss zu den besten Erzählungen dürfen "Katarina Jadovna" und "Der Lilienliebhaber" gerechnet werden, die beide in die zweite der erwähnten Rubriken fallen. Betrachten wir also diese beiden kleinen Meisterwerke näher, anhand derer die Fähigkeiten der Autorin gezeigt werden können.

In "Katarina Jadovna" kommt eine Frau aus dem Ausland allein ins Dorf ihres Mannes, der im Ausland weiter als Gastarbeiter tätig ist. Niemand kennt sie dort, man findet es "gottlos", dass ihr Mann sie ohne ihn ins Haus seiner Eltern schickt, und überträgt diese Aversion auf sie. So bleibt Katarina den Dorfbewohnern fremd und umgekehrt, zu unterschiedlich sind die Denkwelten. Bereits die bunten Kleider, die sie anhat, als sie sich nach ihrer Ankunft zum Haus der Schwiegereltern durchfragt, werden in dem Werte- und Normensystem der Dorfwelt als anstößig empfunden. Wer farbige Kleider anhat, kann ja nur eine "Wilde" sein. Auch die Omnipräsenz eines strafenden Gottes, der den ganzen Tagesablauf im Dorf bestimmt, schafft einen Graben zwischen Katarina und den Einheimischen. Am Ende kommt ihr Mann zurück ins Dorf, jedoch in einem Sarg, er war in der Fremde einem Herzversagen erlegen. Nun erkennt Katarina, dass alles, was sie auf dieser Welt besitzt, eine Plastiktüte voller Hochzeitsfotos ist, die sie mit einem Mann zeigen, mit dem sie nie ein Leben geteilt hat. Sie setzt sich auf eine Klippe und lässt die Fotos ins Meer fliegen. Eingewoben in diese kurze Geschichte ist eine glänzende Episode, in der geschildert wird, wie die Frauen, jede für sich, Holz sammeln. Einige werden dabei von giftigen Schlangen gebissen, da die Schlangen im heißen Sommer kein Wasser mehr finden und somit auf das Blut der Menschen angewiesen sind. Die Frauen sterben nach stundenlangen Kämpfen einen einsamen Tod im Wald. Eine aber gibt es, die so einen Biss überlebt, was ihr allerdings ein merkwürdiges Schicksal in der Dorfgemeinschaft beschert, da man dort glaubt, wer dies überlebe, müsse eine Hexe sein, was faktisch zum Ausschluss aus der Gemeinschaft führt. Selbst wer einen Schlangenbiss überlebt, wird also metaphorisch von den Menschen getötet. Man könnte hier auch an die vielen vergewaltigten Frauen auf dem Balkan denken, die die Kinder ihrer Peiniger austrugen und mit denen nun die nächsten Verwandten nichts mehr zu tun haben möchten, so als wären diese Frauen für ihr Schicksal verantwortlich.

In "Der Lilienliebhaber" steht ein Sonderling namens Mirko im Mittelpunkt, der seinen ganzen Landbesitz der Liebe zu den Lilien widmet. Wieder, wie schon in "Katarina Jadovna", erweist sich die Dorfgemeinschaft als subkutan und schließlich manifest brutal: "Andersheit" - mehr braucht es nicht - erzeugt zunächst Argwohn und schließlich Hass. Als der Blumenfreund, der niemandem etwas zu Leide tat, einmal bettlägerig ist, "verdreifacht sich der Mut der Dorfbewohner in kürzester Zeit" (Kann man Feigheit schöner beschreiben?). In sinnloser Zerstörungswut vernichtet das Dorf die Lilienfelder: die Blumen werden aber nicht einfach ausgerissen, sie werden in martialischen Riten gefressen und verbrannt. Ob diese Erzählung von der Autorin auch als Parabel für die Genozide oder die Schändung von Kulturgütern, die in Jugoslawien stattfanden, gedacht ist, ist nicht eindeutig nachweisbar, gleichwohl dürfte diese Lesart legitim sein.

Doch das wahre Geheimnis dieser jungen Autorin ist ihr Umgang mit Sprache. Sie bedient sich einer auffällig metaphernreichen, doch nicht überladenen Sprache, und bis auf wenige kleine Fragwürdigkeiten sind ihre Vergleiche stimmig und originell. Mit Hilfe ihres ganz eigenen Erzähltons gelingt es ihr, diesen seltsamen melancholischen Zauber zu erzeugen, der über jeder Seite dieses Buches liegt. Diese sprachliche Meisterschaft ist selten bei jungen Autoren, umso mehr ist sie hervorzuheben bei einer Autorin, die nicht in ihrer Muttersprache schreibt.

"Tito ist tot" erschien zwar schon vor über einem Jahr, doch um auf gute Literatur hinzuweisen, ist es hoffentlich nie zu spät. Marica Bodrožic ist ein weiteres Beispiel dafür, dass die nach dem Ableben von Siegfried Unseld in vielen Artikeln vertretene Hypothese, die deutschsprachige Literatur im Suhrkamp Verlag sei nicht mehr in gleicher Weise relevant wie noch vor zwei, drei Jahrzehnten, so wohl nicht haltbar ist. Autoren wie Daniel Kehlmann, Peter und Anne Weber, und eben auch Marica Bodrožic sind nur ein paar Beispiele dafür, dass man im Hause Suhrkamp sehr wohl immer noch ein Händchen für junge Talente hat, die alle das Zeug haben, einmal zu den ganz Großen ihrer Kunst zu gehören.

Titelbild

Marica Bodrožić: Tito ist tot. Erzählungen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
154 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3518413082

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