Daß ich nichts verlasse / wenn ich nicht mehr bin

Thomas Braschs Gedichte aus dem Nachlass

Von Alexander MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1977, Thomas Brasch hatte ein Jahr zuvor die DDR verlassen, schrieb Heiner Müller im "Spiegel" über Brasch als "große Begabung seiner Generation": "Ich entschuldige mich nicht dafür, daß ich den 32. Versuch von Thomas Brasch, Auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen, nicht einfach als Literatur lesen und rezensieren konnte. Er geht mich zu viel an, und ich hoffe, daß ihm auch der 33. Versuch mißlingt. Er ist immer noch in seiner Haut der Beste, und Schiffsuntergänge sind kein Alibi für Selbstmord." In seiner Grabrede vom November 2001 scheint der Kritiker Fritz J. Raddatz, langjähriger Freund des Verstorbenen, dieses Bild weiterführen zu wollen: "Thomas Brasch war Haut. In der Haut, so sagt man, nistet die Seele des Menschen. Er hat seine Haut über diese Welt gespannt, und die Welt zerbarst. Und seine Haut zerriß." Gemeinsam mit Braschs Lebensgefährtin Katharina Thalbach hat Raddatz nun die bemerkenswerten, wenn auch manchmal unfertigen Gedichte des Freundes aus dem Nachlass herausgegeben. Sie umfassen ein weites Spektrum, bleiben leider undatiert und waren von Brasch vorwiegend selbst zur Publikation vorgesehen. Allein einige Werkstattproben unter der Rubrik "Varia" veranschaulichen den Prozess des Dichtens.

Rasch wird hier deutlich, wieviel Enttäuschung und Einsamkeit den Gedichten Braschs zugrunde liegen muss. Ein Blick auf seine Biographie mag weiterhelfen, wird aber nur einige Risse kenntlich machen, die sich quer durch Braschs Werk ziehen: Der 1945 im englischen Westow geborene Sohn eines jüdischen Emigranten und späteren Politikers der DDR begehrte früh auf gegen die staatstragende Vätergeneration, später, nirgends heimisch, gegen zwei deutsche Staaten und deren Kulturbetrieb. Das Studium der Journalistik scheitert aufgrund einer Zwangsexmatrikulation wegen "existentialistischer Ansichten und Verleumdungen führender Staatsbürger der DDR". Ein Vietnam-Programm an der Volksbühne wird wegen Linksradikalismus verboten. 1967 nimmt Brasch erneut ein Studium auf, das der Dramaturgie an der Babelsberger Filmhochschule, das nur von kurzer Dauer sein sollte. Er wird, weil er Flugblätter gegen die Besetzung der CSSR verfasste und verteilte, 1968 verhaftet und zu 27 Monaten Haft verurteilt. Ein Jahr später wird er auf Bewährung entlassen. Es folgen Anstellungen als Schlosser, ein Jahr Arbeit im Brecht-Archiv, und endlich erste Stücke des freien Schriftstellers, die bis zu seiner Ausreise nur selten aufgeführt oder gedruckt und dafür öfter verboten werden. Als Jungdramatiker gehört er zeitweise dem Kreis um Heiner Müller an, der ihm als übermächtige Vaterfigur aber bald zu arbeitshemmend wird. In den siebziger und achtziger Jahren, nach dem "Land-Wechsel", gehört er schließlich zu den szeneprägenden Dramatikern Westdeutschlands, dreht Filme, wird zum rebellischen und in den Medien gefeierten Bohemien. Sein letztes Lebensjahrzehnt hingegen wird von gewaltigen Vorhaben - der Shakespeare-Übersetzung und dem nach großem Entwurf später arg zusammengeschrumpften "Mädchenmörder Brunke" - bestimmt, an denen er scheiterte. Der Titel der Gedichtsammlung, "Wer durch mein Leben will, muss durch mein Zimmer", wird daher für diese letzten Jahre leitmotivisch. Als es still um Brasch geworden war, verbarrikadierte er sich lange Zeit in seiner Wohnung, hinter der Arbeit: "Mein eigenes Haus zum Theater gemacht / drin eingeschlossen und ausgedacht".

In diesem Sinne wurde ihm alles Private zugleich öffentlich, wie ihn das Politische umgekehrt persönlich betraf. Scheinbar mühelos vereint er diese Sphären, geschult an Brechts Werken, gibt sich verletzlich und zornig, verzweifelt und triumphierend, einsam und euphorisch; sein gelegentlich resignativer Weltekel richtet sich zuweilen gegen ihn selbst. Melancholie und Sarkasmus sind die Folge. Die Nachlassgedichte korrespondieren darüber hinaus mit dem bereits vorhandenen Œuvre, indem zahlreiche angefangene Dialoge und Bruchstücke fortgesetzt, ergänzt und variiert werden. So schlägt sich neben der stets gegenwärtigen deutsch-deutschen Geschichte z. B. die Arbeit an den Shakespeare-Übersetzungen in einigen Texten nieder, die Claus Peymann, der etwa "Richard II" oder "Maß für Maß" uraufführte, gewidmet sind und die Stücke wiederum in einen zeitgenössischen Kontext rücken. Dem einst so erfolgreichen Gedichtband "Der schöne 27. September", der Marcel Reich-Ranicki im Frühjahr 1980 "am tiefsten berührt" hat, folgt nun das Poem "Der schöne 27. November", in dem sich anders als gewohnt doch etwas ändert, wenn auch sicher nicht hoffnungsfroh. Selbst die "Engel aus Eisen" in den "Varia" gemahnen an den gleichnamigen Film, für den Brasch 1982 den Bayerischen Filmpreis erhielt. Und auch Heiner Müller, der ja von so vielen Autoren - man denke an Thomas Kling oder Durs Grünbein - mit eigens über ihn geschriebenen Texten beehrt wurde, erhält eine verbitterte Antwort: "Wer zu ihm geht zu lernen, begreift: / es gibt nichts zu lernen von ihm." Brasch hatte offensichtlich andere Vorbilder - Shakespeare, Heine und Brecht -, deren Rang er nie erreichen würde; dennoch war er ohne Zweifel ein vorzüglicher Dichter, der seinen eigenen Weg stetig gesucht und durchgesetzt hat. Diesen gleichsam selbstzerstörerischen Weg kann man anhand der sehr schönen Auswahl aus dem Nachlass ein Stück weit verfolgen.

Titelbild

Thomas Brasch: Wer durch mein Leben will, muß durch mein Zimmer. Gedichte aus dem Nachlass.
Herausgegeben von Fritz J. Raddatz, Katharina Thalbach.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
206 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3518413430

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