Gut aufgefegt

Suhrkamps "Popvisionen" kitten, was in Scherben lag

Von Stephan KleinerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Kleiner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Unwort. Das P-Wort. Schon wieder.

Jürgen Teipel, hol' den Punk zurück. 80er-Revival, jetzt mal im Ernst.

Die erste Reaktion der Ablehnung ist verständlich. Seit mehreren Jahren bereits scheint wirklich alles und jeder Pop zu sein. Man kann. Es nicht. Mehr hör'n.

Dazu die immer wieder aufs Neue auftretende und nie zufriedenstellend gelöste Schwierigkeit, ein Feld zu beackern, dessen Ränder nach wie vor so unscharf sind, dass viele, die es wagen, zappelnd hintüberkippen. Was ja auch lustig sein kann. Also mal schauen.

Im Hause Suhrkamp macht man sich also daran, die von Jochen Bonz et al. zurückgelassenen "Pop-Splitter" ("Sound Signatures", 2001) aufzufegen. Mit Pierre Bourdieu im Rücken sucht man nun nach den einenden Prinzipien im Pop, nachdem zuletzt alles entzweit schien. Die Mikroszenen werden in Bezug zum globalen Gefüge gesetzt, als regionale "Dialekte einer globalisierten Popsprache", das Spannungsfeld zwischen Kunst und Kommerz erfährt eine erneute Betrachtung, und die edition suhrkamp trägt dem nicht mehr so ganz taufrischen Diskurs ihren neuesten Theoriehammer bei bzw. hinterher.

Der von den Soziologen Klaus Neumann-Braun, Axel Schmidt und Manfred Mai herausgegebene Band "Popvisionen - Links in die Zukunft" bündelt die Ergebnisse der bereits im November 2000 stattgefundenen Essener Tagung "Quo vadis, Pop". Leider sind daher die Texte nicht nur von recht unterschiedlichem Nutzwert, sondern wirken thematisch zum Teil auch etwas dated, so zum Beispiel, wenn Thomas Groß über "Napster und die Folgen" schreibt. Sein Versuch einer Mythologisierung der Netz-Musik-Piraten will nicht recht aufgehen, nicht, weil er sich auf die Hacker-Romantik der frühen 80er von Gibson und Sterling bezieht, sondern weil der heutige durchschnittliche Musiksauger sich so gar nicht mit dem Bild des "nerdigen" Rebells vertragen will, der einst mit vollem Einsatz für das Recht an Information kämpfte. In seinen finsteren Moment trifft das Schreiben über Pop auf ein vollkommen hermetisches, um sich selber kreisendes Objekt, das sich der Theorie durch Ignoranz widersetzt.

Ein wenig beschleicht den Leser dieses Gefühl auch bei Volker Kalischs Essay, in dem dieser mit "fünf gängigen Thesen" affirmativer Natur zum Thema Musikerzeugung mit Computern aufräumt. Seine Enthüllung der Limitationen digitaler Musikproduktion (die sich im Kern auf den optisch gesteuerten Prozess und die Prägung des Produzenten durch andere Computermusiken stützt) verrät eine Distanz zum Thema, die die Theorie vergeblich zu überbrücken sucht und entbehrt, man muss es so sagen, nicht einer gewissen Komik. Seine eigentlich sympathische Wiedereinführung des "Ich" in den Diskurs und das redundante Beharren auf der eigenen Subjektivität bekommt so den Charakter einer angesichts der Fallhöhe improvisierten Sicherungsleine.

Ein Text des notorisch an der Theoriespitze surfenden Diedrich Diederichsen komplettiert den ersten Teil des Bandes, www.pop.com (der Titel zeigt das Problem des Bandes ganz gut: "That is so nineties!"). Da Diederichsen der real existierenden Zeit ohnehin immer so um die zwei Jahre voraus zu sein scheint, kann sein Text zur "Dialektik von Clicks & Cuts" in etwa an der Wirklichkeit anschließen. In seinem mehr als lesenswerten Essay beschaut er, was vom Techno übrig blieb, rekapituliert die Entwicklung dessen, was man heute "elektronische Musik" nennt, davor Intelligent Dance Music, das heute im Spannungsfeld zwischen E und U oszilliert, und zeigt dabei noch im Handumdrehen, was an Datenstreams eigentlich sexy ist. Unter Berufung auf Bourdieu und Horkheimer/Adorno dechiffriert er die Codes der Electronic Music Community und ihrer extremen Diversifizierung am Beispiel von aktuellen Technolabels wie Force Inc./Mille Plateaux und ihres Outputs und Äußerungen eines eigenen Habitus wie Schweigsamkeit und Pseudonymkultur. Er unterstreicht die Emanzipation von elektronischer Musik zu Pop und wiederum von Pop zu Feuilletonpop, wie er an everybody's darlings Mouse on Mars und Mike Ink zeigt (wobei man sich einmal fragen müsste, warum es eigentlich genau und immer wieder diese zwei Namen sind, die immer in dieser Diskussion fallen, und ob es dann wirklich so weit her sein kann mit der Akzeptanz), um dann aber gleich wieder in Frage zu stellen: ist elektronische Musik Pop? Und ist U E? Um dann die Frage wieder in Frage zu stellen. Und die Antwort in der Kritik zu finden. Seine Kritik der Kulturkritik offenbart die gar nicht so feinen Unterschiede. Selber nachlesen, spannend.

Im zweiten Teil, Global Music, richten Gabriele Klein und Malte Friedrich den soziologischen Blick auf die Bilderwelten des Pop ("Globalisierung und die Performanz des Pop") und beleben vor allem den von Ronald Robertson 1998 geprägten Begriff der "Glokalisation" wieder, der das Wechselverhältnis zwischen Globalisierung auf der einen und Zersplitterung in Mikroszenen auf der anderen Seite bezeichnen soll. Bei massivem Bezug auf die Frankfurter Schule bietet der Text dennoch einen neuen, interessanten Denkansatz zur Untersuchung der globalen Kulturindustrie.

Olaf Karnik erforscht dagegen die Spuren der Re-Politisierung des Pop und ist damit auf nicht brandheißer, aber immerhin noch nicht gänzlich erkalteter Spur. Natürlich wird er fündig, im HipHop bei Samy Deluxe, Jan Delay und Curse, aber auch bei Blumfeld und - erneut - Mouse on Mars. Eine Bestandsaufnahme, in ihrer archivarischen Funktion beinahe selber schon Pop. Das Problem ist eindeutig: Hier eilt der Diskurs in den Feuilletons der Tageszeitungen und vor allen Dingen Publikationen wie "Spex" und "de:bug" dem 'langsamen' Buch um Meilen voraus.

Seite an Seite mit Diederichsen schreitet Felix Klopotek, der zuletzt mit seinem Jazz-Buch beeindruckt und mit feinen Spex-Texten begeistert hatte, das Spannungsfeld zwischen Kunst und Kommerz ab - auch das nicht denkbar ohne Bourdieu, auf den im Allgemeinen und auf dessen Habitus-Begriff im Speziellen Klopotek sich stützt. Auch er nimmt die Kulturkritik ins Visier und erinnert daran, dass diese immer Teil des von ihr kritisierten kulturellen Systems bleiben muss. Gleichzeitig kritisiert er die Feuilleton-Kritik und ihr System ewiger Werte, mit dem Pop nach seiner Meinung nicht zu fassen ist. Seinen Essay zu lesen macht Spaß - doch bleibt er merkwürdig ambivalent und hüllt sich mitunter in quasi-tautologisch wabernde Unschärfen. Zudem will seine am Beispiel der Post-Rocker Tortoise exerzierte Habitus-wird-zur-self-fulfilling-prophecy-Story nicht wirklich aufgehen, und plötzlich wirkt das ganze Gebilde wacklig und herbeigezerrt.

Manfred Mai macht alles wieder gut, indem er zeigt, was Kultur-Kitt ist. Die "Gemeinsamkeiten der Kulturkritik" bestehen für ihn hauptsächlich in ihrer Antiquiertheit, der die Kultur als "Integrationsfaktor der Gesellschaft" gegenübersteht. Er legt damit einen gut recherchierten und sehr brauchbaren, wortreichen aber nicht geschwätzigen Bericht zur Lage vor.

Teil drei ist überschrieben: Globalkolorit, was die Tendenz der Popliteratur und dieses Buchs zum knapp daneben liegenden, eher pseudocoolen, Wortwitz zeigt, und durchaus nervt. An so unterschiedlichen Beispielen wie Bayreuth, der Indie-Szene und der Techno-Community werden die sozialen Codes, Habitus und Selbstpositionierung bzw. -stilisierung der Protagonisten exemplarisch vorgeführt. Trotz stetig zunehmender Individualisierung der Gesellschaft etablieren sich in Szenen Zugehörigkeits-Codes und Rituale, die durch Distinktion wieder Gemeinsamkeit schaffen.

Mit all denen, die sich nicht in einer solchen Peer group organisieren, den sogenannten Stinknormalen oder "allgemein jugendkulturell orientierten Jugendlichen" (AJOs), befassen sich Axel Schmidt und Klaus Neumann-Braun im abschließenden Text, zeichnen ein Bild von einer inkludierenden statt ausschließenden Gemeinde, die ein versöhnliches Buch zu einem versöhnlichen Ende bringt.

Alles darf Pop sein unter dem großen Baldachin.

Ist doch alles gar nicht so schlimm.

Titelbild

Klaus Neumann-Braun / Manfred Mai / Axel Schmidt (Hg.): Popvisionen. Links in die Zukunft.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
276 Seiten, 11,00 EUR.
ISBN-10: 3518122576

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