Die Gärstoffe der Toleranz

Karl S. Guthke et altera beleuchten Lessings Horizonte und deren Bedeutung im Jahre 2003

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im 18. Jahrhundert vorwiegend als "Duldsamkeit in Religionsdingen" verstanden (so etwa in Zedlers "Universal-Lexicon" von 1745), war Toleranz eine der wesentlichen Ideen der Aufklärung, der Kampf gegen religiösen "Verfolgungsgeist" daher ein zentrales Thema aufklärerischer Publizistik. Die Forderung nach Toleranz erwuchs aus der Erinnerung an die Gräuel vergangener Religionskriege und dem Abscheu vor Ausbrüchen des Fanatismus, wie sie auch noch im 18. Jahrhundert zu beobachten waren. Das in Deutschland seit dem Augsburger Religionsfrieden herrschende Prinzip "cuius regio, eius religio" musste dem Zeitalter der Vernunft als unbefriedigend erscheinen, ebenso dass die geltenden Gesetze zwar die christlichen Konfessionen, aber nicht die kleinen Sekten und schon gar nicht Juden, Muslime und Deisten schützten.

Die wichtigsten Beiträge zur Toleranz-Debatte waren jedoch schon vor der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert erschienen: Spinozas "Tractatus Theologico-Politicus" (1670), Bayles "Commentaire Philosophique (1686), Lockes "Letter concerning Toleration" (1690). Voltaires viel diskutierter "Essais sur la tolérance" brachte dagegen kaum etwas Neues. In Deutschland, wo die genannten Schriften bald rezipiert, aber nicht durchgängig gebilligt wurden, kamen die bedeutendsten Beiträge von Thomasius, Mendelssohn und Lessing. In der Toleranz-Debatte kamen unterschiedliche Argumente ins Spiel, die durchaus nicht neu waren: der naturrechtliche Gesichtspunkt, dass der Mensch im bürgerlichen Zustand zwar seine unbeschränkte Handlungsfreiheit aufgeben muss, aber auf sein freies Urteil nicht verzichten kann; die Einsicht, dass der Staat in religiöser Hinsicht neutral sein muss, wenn er den Frieden sichern soll; der Respekt vor dem Gewissen, selbst wenn es irrt; die Hoffnung auf ökonomischen und kulturellen Aufschwung wie in den Niederlanden; schließlich sogar Gleichgültigkeit gegenüber der Religion. Ein fruchtbarer Beitrag kam, wie Günter Gawlick hervorgehoben hat, aus dem Kontext des englischen Deismus, dessen Vertreter klar erkannten, dass die friedliche Koexistenz von Menschen verschiedenen Glaubens in einem Staat nicht gewährleistet war, solange alle meinten, das Bekenntnis eines bestimmten Offenbarungsglaubens sei Bedingung für den Eintritt in das Reich Gottes. Die Deisten erklärten demgegenüber die Anerkennung Gottes und die Befolgung seiner ethischen und religiösen Gebote für heilsnotwendig, womit der übliche Grund der Glaubensverfolgung und Missionierung entfiel.

Ging es zunächst nur um die Duldung christlicher Konfessionen und Sekten, so kamen später weitere Forderungen hinzu: die rechtliche Gleichstellung der Juden und die Anerkennung des Islam. Eine Besonderheit der deutschen Aufklärung war die Debatte um die "Duldung der Deisten", die durch Lessings erstes Wolfenbütteler Fragment ausgelöst wurde. Die hierbei erhobene Forderung, die Deisten als eigenständige Religionsgemeinschaft anzuerkennen und einen öffentlichen Kultus der natürlichen Religion einzuführen, blieb jedoch erfolglos. Die Aufklärung hat nicht nur eine spürbare Verbesserung der Rechtslage in vielen Staaten erbracht, sondern auch der Einsicht zum Sieg verholfen, dass es im Grunde um viel mehr geht, nämlich um Religions- und Gewissensfreiheit.

In Lessings Texten ist die Toleranzforderung, die er verschiedentlich erhob (etwa in den Lustspielen "Der Freigeist" und "Die Juden" sowie die "Rettung des Hier. Cardanus", in der der Rang- und Wettstreit der Religionen im Vordergrund steht), von dem Bemühen begleitet, sich ein konkretes Wissen über die anderen Religionen zu erwerben. Vom Judentum wird ihm Moses Mendelssohn erzählt haben. Doch interessierte sich Lessing zeitlebens auch für den Islam, von dem damals noch wenig bekannt ist. Er übersetzte die Werke, die über die arabische Welt informierten: "Des Abts von Marigny Geschichte der Araber unter der Regierung der Califen" (1753; franz. 1750) und Voltaires Aufsätze über Mohammed und die Geschichte der Kreuzzüge; den letzteren hatte er eigens aus dem "Mercure de France" herausgesucht. Primär ist Lessing der Tradition der Toleranzforderung in den drei Buchreligionen Judentum, Islam und Christentum nachgegangenen, mit geradezu terminologischer Exaktheit spiegeln sich seine Funde und Ergebnisse in seinem dramatischen Gedicht "Nathan der Weise". Richtschnur und Leitfaden der Religionskritik ist bei Lessing die Philosophie. Die Mahnung, aus der Kraft der Liebe zu handeln, konnte er bei Leibniz und Spinoza ebenso wie in den religiösen Texten nachlesen, überall stieß er auf die beschwörenden Formeln, dass in der Liebe zu Gott die einzig wahre Frömmigkeit bestehe. "Ergebenheit in Gott" ist auch für Leibniz und Spinoza die einzige Haltung, die dem Menschen das "Heil" bringen kann. Dabei geben für Lessing die Philosophen die Kriterien an die Hand, nach denen die Offenbarungsreligionen zu interpretieren sind. Die Kernfrage lautet jedoch noch immer: Läuft Toleranz auf die sittliche Autonomie des Menschen hinaus, oder gründet sie in metaphysischer, transzendenter, offenbarter Wahrheit. Der Forschungstrend favorisiert die Lesart, dass Lessings religiöse Toleranz in ihrer aufklärerischen Intention in einen Bereich jenseits aller Religionen ziele, also in die Immanenz eines säkularen Humanismus oder einer moralischen Autonomie, in der das ethische Handeln als "ultimate concern" (Paul Tillich) validiert werde. Traditionelle Religion hätte insofern nur die instrumentelle Funktion, sich überflüssig zu machen, indem sie einer Sittlichkeit zur Selbständigkeit verhilft, die sich zukünftig nicht mehr religiös begründet.

Dass eine solche Begründung bei Lessing viel zu kurz greift, haben einige gewichtige Gegenstimmen der letzten Jahre verdeutlicht. Der jüngste Versuch, den Begriff der 'Toleranz' aus "Lessings Horizonten" zu untersuchen, stammt aus der Feder des ausgewiesenen Lessing-Experten und mit Akribie arbeitenden Literaturdetektivs Karl S. Guthke, der seit mehr als 35 Jahren Geschichte, Kritik und Theorie der Literatur mit Scharfsicht und Humor geschrieben hat. Seine Schriften, vor allem die zu Lessing, bestechen durch die luzide Herangehensweise des Verfassers, mit der er alten Texten neue Einblicke abringt. Ausgangspunkt der kleinen Studie Guthkes über "Grenzen und Grenzenlosigkeit der Toleranz" ist die Beobachtung, in Lessings Texten herrsche eine "Lust am permanenten Zweifel" vor. Lessing widerstrebe "das Ins-Wort-Fassen seiner eigenen Position eben deswegen, weil solches Fixieren des 'Gültigen' zur eigenen Intoleranz verführte, 'Vorurteile und Einseitigkeiten verfestig[te]'". Indem er alle Lehrsysteme in Zweifel zieht, vermag das Nicht-Festlegen den unabhängigen Untersuchungs- und Entdeckungswillen überhaupt erst anzuregen. Auf dieser "dem Menschen konstitutiven Ungewißheit" beruht nach Guthke Lessings Toleranz. Davon ausgehend erörtert der Verfasser die kulturgeschichtlichen Perspektiven von Lessings Toleranzdenken und kommt zu dem durchaus anregenden Ergebnis, dieses Denken spiele sich in drei Horizonten - einem globalen, einem kosmischen und einem historischen - ab.

Der erste Horizont bezeichnet "eine kontinent-übergreifende Bewußtseinserweiterung, die eigene Positionen, auch religiöse, im Vergleich mit anderen in Frage stellt, relativiert". Diese globale Optik, die anstelle einer rein humanistisch-historischen Optik, auch fremde Religionen und Sitten in den Blick nimmt, sieht Guthke in der "curiositas"-Figur angedeutet, die im Vorbericht zu Lessing "Erziehung des Menschengeschlechts" begegnet, wo sich der angebliche Herausgeber "auf einen Hügel gestellt [hat]", von dem er eine "Aussicht" in "unermeßliche Ferne" hat und die ihm "alle positiven Religionen [...] jedes Orts" auf der Erde vor Augen stellt. Das Epochemachende an Lessings Votum für die Toleranz erkannte Moses Mendelssohn 1782 in seiner Vorrede zu "Manasseh Ben Israels Rettung der Juden" in seiner Ausweitung der Perspektive auf außereuropäische Glaubenssysteme: "Was aber auch über Toleranz bisher [vor Lessing] geschrieben und gestritten ward, gieng blos auf die drey im R[ömischen] R[eich] begünstigten [christlichen] Religionsparteyen. An Heiden, Juden, Mahometaner und Anhänger der natürlichen Religionen ward entweder gar nicht oder höchstens nur [von den "Widersachern derselben"] in der Absicht gedacht, um die Gründe für die Toleranz problematischer zu machen", also um Nicht-Christen nicht zu tolerieren. Mendelssohn verweist darauf, dass solche Intoleranz in deutscher Sprache erst mit Lessing aufhöre, Toleranz also global ausgedehnt wird auf Religionen jenseits des Christentums, und zwar nicht erst mit dem "Nathan", wie häufig zu Unrecht angenommen wird, sondern schon 1754 mit seiner "Rettung des Hier. Cardanus". Toleranz für andere Religionen ergibt sich aus Lessings Sicht hier aus jenem Blick in die geographische Weite und Ferne, den das zweite Entdeckungszeitalter zu einer Angelegenheit der intellektuellen Neugier gemacht hat, die gleichzeitig aber auch zum Schock der Infragestellung der eigenen theologischen Position führen konnte.

Der zweite Horizont kann nach Guthke ebenfalls aus Lessings Toleranzschrift "Die Erziehung des Menschengeschlechts" extrapoliert werden. Ähnlich wie Herder in den "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" (1784) erweitert Lessing hier den Gesichtswinkel zur Einbeziehung von bewohnten Welten im Kosmos - Welten mit Lebewesen von höherer geistiger Perfektion, Welten, in die auch die Seelen der Menschen nach dem Ableben ihrer Körper "wandern" werden, wo sie dann zu entsprechender spiritueller Höherentwicklung gelangen. Seine "Milchstraßenspekulationen" (Thomas Mann) schließt Lessing in der "Erziehungs"-Schrift mit dem Ausblick auf eine "Ewigkeit" der Seelenwanderung: Seelenwanderung zwar als spirituell höher entwickelte Wiederkehr "auf dieser Welt" statt in planetarischen Welten im Kosmos, aber ebenso wie Herder kann Lessing sich nie so recht, wie Guthke ausführt, "zwischen globalem und kosmischem Seelentourismus" entscheiden. Dennoch erweitert Lessings Vorstellung von der Mehrheit der Welten (auch im Sinne extraterrestrischer Religionen, wie dies Melanchthon, Kepler und vor allem Robert Fludd diskutiert haben) die globale Grenzenlosigkeit seines Toleranzdenkens ins Kosmische. Der Gedanke einer interplanetarischen Wanderung der Seelen begegnet im 18. Jahrhundert vor allem in Charles Bonnets Schrift "Palingénésie" (1769): als Migration der Seele von Planet zu Planet zu immer höheren Bewusstseinsstufen, deren Indizien die vermehrten Sinne als Instrumente der erhöhten Wahrnehmung sind. Der globale Vergleich von Religionen und Bewusstseinsstufen im Hinblick auf Toleranz wird derart bereichert um eine kosmische Dimension.

Schließlich bringt sich nach Guthke in der "Erziehung des Menschengeschlechts" noch ein dritter Horizont von Lessings Toleranzdenken zur Geltung: ein geschichtlicher oder heilsgeschichtlicher. Die Entwicklung des religiösen Bewusstseins der Menschheit wird dort als ein Werk der göttlichen "Vorsehung" verstanden. Wenn die Geschichte der Religionen jedoch von der Vorsehung geleitet ist, dann gibt es natürlich nichts Untolerierbares auf der Welt. Infolgedessen sind alle Religionen gottgewollt und in einem transzendentalen Heilsplan verankert. Das würde konkret bedeuten, dass auch die Religionen vor und außerhalb der von der göttlichen Erziehung geleiteten Abfolge der jüdisch-christlichen Glaubenssysteme wie zum Beispiel die Religion der Ägypter und die der Perser und andere Formen von "Abgötterey" zu tolerieren sind. Es gibt aber, im "Nathan" etwa, auch Religionen, die von Lessing nicht für konkurrenzfähig erachtet werden: Parsismus und Hinduismus werden explizit genannt. Sie brauchen offenkundig nicht toleriert zu werden im Sinne der vollen Anerkennung als Zugeständnis möglicher Wahrheitshaltigkeit, sondern allenfalls als Gewährenlassen des Irrtums. Ebenso gibt es, worauf Guthke noch einmal aufmerksam macht, in der "Erziehung des Menschengeschlechts" Religionen, die abseits vom Heilsweg, vom geschichtlichen Gang der Vorsehung liegen, nicht providentiell sanktioniert sind: die im Text eigens genannte ägyptische, die chaldäische und die persische Religion, dazu viele andere nicht näher bezeichnete "Götzen"-Dienste der "Heiden". Diese Glaubenssysteme sind nach Lessing schlicht "Irrwege", sodass eine Grenze der Toleranz erkennbar wird. Toleranz kann nicht dem "ganzen Menschengeschlecht" in gleicher Weise gelten. Hinzu kommt, dass die Erziehung der "Heiden" durch die von Gott Erzogenen eine Art von Nicht-Duldung der zu Erziehenden voraussetzt. In diesem Horizont begegnet, wie Guthke zu Recht unterstreicht, ein wenig vertrauter Lessing, "der selektiv tolerante". "Außerhalb des jeweiligen historischen Wirkungsbereichs der Vorsehung gibt es erstens, nämlich abseits von ihrem Wege, die exotischen Glaubenssysteme, wie die ägyptischen oder das chaldäische. [...] Außerhalb des Wirkungsbereichs der Vorsehung sind aber, so scheint es, auch alle jene Glaubenssysteme oder Varianten von Glaubenssystemen, die zwar auf dem Weg der Vorsehung liegen, aber wie Stolpersteine: die ihr Fortschreiten, ihren 'Gang' hemmen und Stagnation bewirken. Das sind im achtzehnten Jahrhundert die Orthodoxie und die Neologie, die sie stützt."

Soll man daraus nun den Schluss ziehen, dass jene nicht-jüdischen und nicht-christlichen Religionen, die, der "Erziehung des Menschengeschlechts" zufolge außerhalb der Vorsehung liegen, aber in anderen Texten Lessings von ernsthaftem Interesse sind, ihrerseits jenseits der Toleranzgrenze liegen, weil sie ethisch zweifelhaft seien? Dagegen spricht eindeutig vor allem Lessings lebenslange Hochschätzung für den Islam, den er bereits vor dem "Nathan" ins Spiel bringt, wenn es um die Toleranzforderung geht. Sowohl in der "Cardanus"-Schrift wie auch in der "Rettung" des Adam Neuser arbeitet Lessing die Konsequenz heraus, mit der im Islam der Ein-Gott-Glaube formuliert ist. In letzter Zeit sind neben den evidenten Parallelen zwischen der Ringparabel und der rabbinischen Tradition der Schriftauslegung (Schmitt) auch solche zu zentralen Aussagen im Koran über die Vielfalt der Religionen entdeckt worden. Die These, Lessing lasse in seinem Toleranz-Drama vor allem den Islam zu Wort kommen (Kuschel, Niewöhner), findet ihre Begründung in der Auslegung der Wendung "Ergebenheit in Gott", die für Nathan das alle Religionen transzendierende Moment ist. Unter Lessings Quellen-Exzerpten zu "Nathan der Weise" findet sich etwa folgende interessante Notiz: "Islam ein Arabisches Wort, welches die Überlassung seiner in den Willen Gottes bedeut [sic]". Interessant war der Islam im 18. Jahrhundert für die Vertreter der Aufklärung vor allem deshalb, weil man ihn als Paradigma einer bzw. der "natürlichen Religion" deuten konnte, wobei man allerdings den Offenbarungsanspruch, die Rolle des Propheten, Ritus und Kultus ignorierte.

Es ist dieses Konstrukt der "natürlichen Religion", wodurch Lessing und seine Zeit vom heutigen Denken unwiderruflich getrennt sind. Wir können uns keine Vorstellung mehr von dem Vertrauen machen, wie es noch Lessing beseelte, dass eine "vernünftig", theoretisch abgesicherte Gotteserkenntnis möglich sei. Diese Gotteserkenntnis ist der Ausgangspunkt für Lessings Vergleich der Religionen. Hieran finden alle theologischen und philosophischen Aktualisierungsversuche der Gegenwart ihre Grenzen. Das zeigt auch die im Wallstein-Verlag publizierte Anthologie dreier Kurzessays, die sich der Frage widmen, ob sich die Lessingsche Formel der Toleranz, beispielhaft gehofft für die Toleranz der jüdischen, christlichen und islamischen Gläubigen, auch heute noch verkündigen lasse oder gar lebbar in unserer gegenwärtigen Welt sei. Die Literaturkritikerin und freie Autorin Angelika Overath ist diesbezüglich skeptisch. Ihrer Meinung nach ist die Ringparabel "eine ästhetische Versöhnungsfigur, keine Anleitung zu versöhnender Praxis". Sie verdanke ihre Gültigkeit der besonderen erzählerischen Gestalt, den Bildern und Personifikationen, den unverhofften Wendungen und Pointen und nicht zuletzt jenen holpernden und doch seltsam bestechenden Versen, in denen das "Märchen" von den drei Ringen vorgetragen wird. Die davon abziehbare Moral der gegenseitigen Achtung und Überbietung in menschenfreundlicher Praxis bleibe dagegen, für sich genommen, blass. Schon auf der Handlungsebene des Stücks sei sie nicht in eine allgemeine Praxis überführbar, da über konkrete Handlungsweisen zum Beenden der Kreuzzüge auch die neue Familie am Ende des Stücks nicht verfüge.

Zumindest ambivalent ist der Grundtenor in Navid Kermanis Text. Für den Islamwissenschaftler hat Lessing zu seiner Zeit "Gift in die Blutbahnen der herrschenden Meinungen gespritzt". Die Bestreitung der Existenz einer absoluten religiösen Wahrheit im Europa des 18. Jahrhunderts, die Absicht, Juden und Muslime als Menschen auf die Bühne zu bringen, die den christlichen Protagonisten an Weisheit und Güte überlegen waren, zeugt für Kermani von "einem provokanten Humanismus, wie er im aufklärerischen Denken kaum je eingefordert wurde". Lessing sei es um Kritik, nicht um Affirmation gegangen: "Indem er den möglichen Frieden der Religionen beschwor, kritisierte er die reale Gewalt des Christentums." Folgerichtig sei der "Nathan" kein "Lehrstück" über das Judentum oder den Islam, sondern "über die Möglichkeit, menschlich zu sein, ohne ein Christ zu sein". Kermani zufolge ist Lessings Botschaft in Zeiten des Genozids, des religiösen Terrorismus und der weltweiten Kulturalisierung politischer Konflikte, sechzig Jahre nach der Auslöschung jüdischen Lebens, zehn Jahre nach der christlichen Belagerung Sarajewos und in den Tagen, da die führende Nation des Westens den Kreuzzug gegen das Böse propagiert, nicht überholt. Gleichwohl konzediert Kermani, dass Lessings Botschaft dadurch trivialisiert werde, dass sie zum Allgemeingut verharmlost wurde, mit dem selbst diejenigen noch sich brüsten, die nicht mehr nur gegen politische Gegner, sondern gegen ganze Kulturen kämpfen.

Gegen den geistlosen Toleranz-Kitsch, zu dem Lessings Parabel von Kulturschaffenden und Politikern mittlerweile degradiert wurde, wendet sich auch der dritte und letzte Text dieser Anthologie. Für den österreichischen Schriftsteller Robert Schindel steht der "Nathan-Kitsch" in unmittelbarem Zusammenhang mit der "Hornhaut", die Auschwitz möglich gemacht hat: "Wir wollen doch alle angenehm sein und gar angenehm gemacht werden, damit wir uns ergehen im Bewusstsein unserer Gutheit, unserer Toleranz. Jeden nach seiner Fasson glücklich werden lassen, gemütlich dem Treiben der Welt zusehen, durchdrungen von Wohlgeratenheit. Rassisten sind immer die anderen. Selber durchtunneln wir Lebenswelten, sind zukunftsoffen, weitwinklig. Kann dieses Bewusstsein seiner selbst ausreichen, um angenehm zu sein? Lassen sich die Melodien der eignen Lebensbewältigung mit den Brusttönen der Überzeugung korrepetieren? Jeder ist von seiner Religion überzeugt und achtet zugleich die Überzeugung der andern von deren Religion. Wir sagten es immer wieder, bis es zur Sage ward. Hernach kann Gottes Sonne wohl Myriaden von gerechten Scheiteln bescheinen." Folgerichtig plädieren alle drei Texte gegen die Verflachung von Lessings Toleranzdenken im Rahmen einer souveränen Rhetorik des Gedenkens. Stattdessen ist Lessings Lust am Zweifel, an der Ungewissheit als zentralem Aspekt seines Toleranzdenkens neu zu entdecken. Schließlich stößt man in seinen Texten weniger auf druckreife Denkergebnisse als vielmehr auf die Lessing so gemäßen "fermenta cognitionis": auf geistig-gelehrtes Terrain, das Lessing nicht ganz zu Ende sondiert hat, auf Gärstoffe der Erkenntnis, die auch heute noch - gerade angesichts von Terrorismus, Globalisierung und einem anbrechenden Zeitalter kultureller Kreuzzüge - von erschreckender Aktualität sind. Befreit vom Toleranz-Kitsch gilt es dieser Botschaft der Ringparabel eingedenk zu sein.

Kein Bild

Karl S. Guthke: Der Blick in die Fremde. Das Ich und das andere in der Literatur.
Francke Verlag, Tübingen 2000.
450 Seiten, 75,70 EUR.
ISBN-10: 3772028829

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

William Collins Donahue / Scott Denham: History and Literature. Essays in Honor of Karl S. Guthke.
Stauffenburg Verlag, Tübingen 2000.
512 Seiten, 127,50 EUR.
ISBN-10: 3860576437

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Lessing Yearbook/Jahrbuch XXXIV.
Herausgegeben von Herbert Rowland, Richard E. Schade.
Wallstein Verlag, Göttingen 2003.
264 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3892446261

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Karl S. Guthke: Lessings Horizonte. Grenzen und Grenzenlosigkeit der Toleranz.
Wallstein Verlag, Göttingen 2003.
72 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 3892446415

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Angelika Overath / Navid Kermani / Robert Schindel: Toleranz. Drei Lesarten zu Lessings "Märchen vom Ring" im Jahre 2003.
Wallstein Verlag, Göttingen 2003.
56 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-10: 3892446881

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch