Überdosen an Bedeutung und Doppelbedeutung
Über neue Musil-Studien und ihre Fahrten zwischen der Skylla der Theorie und der Charybdis ästhetischer Unbestimmtheit
Von Oliver Pfohlmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseI
Autoren vom Kaliber eines Hermann Broch oder Robert Musil, deren Texte deutliche Affinitäten zu den wissenschaftlichen Diskursen ihrer Zeit aufweisen, machen ihre literaturwissenschaftliche Untersuchung regelmäßig zu einer Fahrt zwischen Skylla und Charybdis. Wer sich auf die Rekonstruktion der vom Autor rezipierten und in seinen Werken ver- und eingearbeiteten zeitgenössischen Theorien und Philosopheme konzentriert, läuft Gefahr, dabei die Literatur aus den Augen zu verlieren, mithin die Dichtung als protowissenschaftlichen Text misszuverstehen. Schon zu Lebzeiten klagte Musil einmal über seine Interpreten: "Es hat sich in meinem Leben gezeigt, daß die Leute mich [...] gescholten haben und mich einen kranken Menschen, einen Intellektualisten, einen unmoralischen Menschen, einen Wissenschaftler, kurz alles gemeint haben, was ich nicht bin, und sich nur zögernd, unter dem Druck Einzelner, sich bequemen mich für das zu halten, was ich zu sein glaube, und sein will: ein Dichter."
Literaturwissenschaftler, die aber umgekehrt das Wissens- und Voraussetzungssystem eines solchen "Dichters" ignorieren und dafür allein die ästhetischen Qualitäten seiner Werke fokussieren, übersehen leicht wesentliche, durch die Unterfütterung seiner Texte mit naturwissenschaftlichen, mathematischen und psychologischen Theoremen erzeugte Bedeutungsschichten, die womöglich für das gebildete zeitgenössische Publikum offensichtlich waren. Behauptete derselbe Autor doch auch: "Aller seelische Wagemut liegt heute in den exakten Wissenschaften. Nicht von Göthe, Hebbel, Hölderlin werden wir [die Dichter] lernen, sondern von Mach, Lorentz, Einstein, Minkowski, von Couturat, Russel[l], Peano ..."
II
Ein Blick auf neuere Musil-Studien zeigt denn auch unterschiedliche Umgangsweisen mit dieser Problematik. Hans-Joachim Pieper beispielsweise rekonstruiert "Musils Philosophie", will dabei aber, wie er in seinem Vorwort betont, weder Musils Rang als Dichter herabsetzen, noch ein philosophisches System aus dessen Werken destillieren. Letzteres, gesetzt es wäre überhaupt möglich, würde auch, Pieper zufolge, eben dieser Musilschen Philosophie widersprechen. Steht doch in deren Zentrum das primär von Ernst Mach und Nietzsche angeregte Konzept des (systemfeindlichen) Essayismus, welches im "Mann ohne Eigenschaften" von der Hauptfigur Ulrich nicht nur (theoretisch, in seinen Äußerungen und Reflexionen) vorgestellt, sondern in der Form des Romans zugleich angewendet bzw. realisiert wird. Pieper, in Bonn Privatdozent für Philosophie, bezeichnet daher das Gestaltungsprinzip des Romans als "performativen Essayismus", womit mehr gemeint ist als die nie befriedigende Binse, dass in großer Kunst die Form dem Inhalt irgendwie entspricht. Denn dass Musil seine essayistisch-perspektivistische Weltanschauung nicht nur behauptet bzw. durch sein Sprachrohr Ulrich behaupten lässt, sondern sie zugleich selbst mit den Mitteln der Ästhetik essayistisch-perspektivistisch problematisiert, relativiert und gleichsam selbst durchstreicht (oder: nur in durchgestrichener Form dem Leser präsentiert), schützt ihn, so Pieper, vor der Fallgrube des "performativen Selbstwiderspruchs".
In diese fallen noch heute so manche postmoderne Denker hinein, indem sie die Perspektivengebundenheit jeder Wahrheit behaupten und damit für genau diese Behauptung keine Perspektivengebundenheit in Anspruch nehmen:
"Indem der Roman an seiner Titelfigur, dem Mann ohne Eigenschaften, sein Kompositionsprinzip offen legt und kritisch reflektiert - bis hin zur Vorstellung eines sozusagen essayistisch verfahrenden Schöpfergottes -, erweist er sich als Dokument einer beliebig iterierbaren Reflexion, die sich durch ihre permanente Iteration als Lebensweise disqualifiziert, dadurch allerdings auch das weltverändernde Zupacken, die Züge von Gewalt verliert und stattdessen literarischen, Welttheater inszenierenden Charakter annimmt. [...] Es resultiert daraus auch die distanzierte Registratur der Weltereignisse: der sich selbst als Position negierende performative Essayismus als einzig mögliche, als reale Daseinsform jedoch unmögliche Einstellung zum Leben. Das 'Leben im Sinne der maximalen Forderung', im Sinne des Essayismus, ist allein als Leben im 'Schreiben' möglich."
Piepers plausible These von einem "performativen Essayismus" und die damit verbundenen Folgerungen werden freilich selbst mehr behauptet, denn konkret am literarischen Text exemplifiziert. Seine Studie besteht im Wesentlichen aus der präzisen Darstellung "grundlegender Strukturen der Wirklichkeitsauffassung und -wiedergabe" Musils und ihrer Abhängigkeit von seiner Mach- und Nietzsche-Rezeption. Dass Pieper dabei, anders als viele seiner Vorgänger in der Musil-Forschung, den Physiker Mach nicht nur aus zweiter Hand kennt, sondern textnahe, zitierfreudige Lektüren präsentiert, zählt zu den Stärken seiner Arbeit. Ob es um den Perspektivismus Nietzsches geht, um Musils Verhältnis zum Positivismus, die Begriffe von Subjekt und Kausalität bei Mach und Nietzsche oder die Favorisierung funktionaler statt kausaler Beschreibungen und ihre Bedeutung für die Musilsche Poetologie: Stets liefert Pieper konzise, die einschlägigen Zitate und Belegstellen versammelnde Rekonstruktionen, so dass seine Arbeit als eine Art Nachschlagewerk zu diesen Problemfeldern dienen kann.
III
Pieper geht also den Unwägbarkeiten einer Beschäftigung mit dem polyvalenten literarischen Text selbst weitgehend aus dem Weg und beschäftigt sich, Philosoph der er ist, primär mit der Theorie, dies allerdings auf hohem Niveau. Geradezu waghalsig mutet dagegen das Unternehmen des Göttinger Literaturwissenschaftlers Fred Lönker an. Versucht er doch etwas, was wohl schon seit Jahrzehnten niemand mehr in der Musil-Forschung riskiert hat - nicht zuletzt deshalb, weil die auch in der Musil-Forschung eher unfruchtbaren Zeiten der Werkimmanenz seit langem als ebenso glücklich überstanden gelten wie auch die Idee der "einen" Bedeutung. Lönker versucht sich an einer über weite Strecken rein textimmanenten Rekonstruktion der Werkbedeutung, vom Schlussteil abgesehen frei von Rekursen auf Philosopheme der Jahrhundertwende, wie auch, man wagt es kaum zu sagen, auf aktuelle Literaturtheorien. Und dies ausgerechnet bei zwei der schwierigsten, interpretationsbedürftigsten Texte, die die deutsche Literatur überhaupt zu bieten hat, den "Vereinigungen". Es gibt nicht wenige Arbeiten über diese beiden Novellen, die den Verdacht aufkommen lassen, ihre Autoren referierten vor allem deshalb so ausführlich zeitgenössische oder heutige Theorien, um sich trotz ihres Scheiterns an der Musilschen Hermetik über die Runden zu retten und die nötige Zahl von Seiten zu füllen.
Solche Arbeiten dürfte es nach Lönkers Grundlagenforschung nicht mehr geben. Was Musil über die "Vereinigungen" schrieb, kann auch von ihr gelten, die ja mit nur 200 Seiten für eine Habilitationsschrift auf den ersten Blick erstaunlich knapp ausfällt: "Eine sorgfältig ausgeführte Schrift, die unter dem Vergrößerungsglas (aufmerksamer, bedachtsamer, jedes Wort prüfender Aufnahme) das Mehrfache ihres scheinbaren Inhalts enthielt." Extrem textnah und quasi Satz für Satz verfolgt Lönker mit großem Scharfsinn und philologischer Präzisionsarbeit die Motivkomplexe, Oppositionen und Vergleiche, die beide Novellen strukturieren, sowie die damit verbundenen vielfältigen Konnotationen und Verweisungen. Es ist ihre vom Leser Schweißarbeit fordernde Komplexität und Dichte, die die Lektüre der Novellen zu einer Tortur werden lässt, über die sogar der Autor selbst im Rückblick stöhnte: "Es ist das einzige meiner Bücher, worin ich noch manchmal lese. Ich ertrage keine großen Stücke. Aber ein bis zwei Seiten nehme ich jederzeit ..."
Lönkers Ausgangsthese bemüht sich dabei um eine neue Lösung jenes in der Forschungsliteratur seit langem herrschenden Streits über die Bedeutung des in die Novellen eingegangenen (gestalt-)psychologischen und psychoanalytischen Wissens. Wer Musils Wort ernst nimmt, wonach "alle Psychologie in der Kunst [...] nur der Wagen [ist], in dem man fährt", also nur Mittel für ästhetische Zwecke, kann mit Lönker zu dem Schluss kommen: "Nicht um Individualpsychologie also geht es hier [in den "Vereinigungen"], nicht einmal um klar umrissene Individuen, sondern um etwas, das den Menschen als Gattungswesen betrifft. [...] Es geht um anthropologische Grundverhältnisse, die für die Figuren schicksalhaften Charakter haben."
Nach dem ersten textanalytischen (Haupt-)Teil von Lönkers Studie wird Musils "poetische Anthropologie" in einem nur knapp ausgefallenen zweiten Teil systematisch rekonstruiert, wobei Lönker an dieser Stelle zumindest in Fußnoten auch verstärkt auf Philosopheme Nietzsches und zeitgenössische gestaltpsychologische Konzepte rekurriert. Lönker zeigt, "daß den Erzählungen ein Verständnis von Subjektivität zugrunde liegt, das eine radikale Vereinzelung des menschlichen Daseins und - dem korrespondierend - eine ebenso radikale Fremdheit der Welt und des Anderen impliziert, die in jedem Verstehen und sinnhaften Handeln nur überdeckt wird. Diese Vereinzelung oder Einsamkeit ist der Ausgangspunkt der Musilschen Anthropologie. Ihnen wird im Selbstgefühl des Körpers eine Form der Erfahrung gegenübergestellt, die zunächst als ursprüngliches Beisichsein charakterisiert werden kann." Die beiden Novellen erproben nach Lönker alternative Modelle, das subjekthafte Bewusstsein aufzuheben und zu neuen Erfahrungsformen zu gelangen, die die Unterscheidungen der Wirklichkeit unterlaufen. Möglich, so das Ergebnis der von Musil mit seinen Protagonistinnen angestellten Erzähl-Experimente, ist allenfalls eine temporäre Auflösung des Selbst in den allgemeinen Liebeszusammenhang des Lebens, und dies nur unter der Bedingung einer unpersönlichen Sexualität, ist doch das sich in Unterscheidungen bewegende Bewusstsein - Georg Simmel und Niklas Luhmann lassen grüßen - das Gattungsschicksal des Menschen.
Auch wenn man sich am Ende von Lönker eine stärkere Einbettung seiner Ergebnisse in übergreifende kultur- und denkgeschichtliche Zusammenhänge gewünscht hätte, auch wenn im Schlusskapitel über Musils von Vergleichen dominierte Schreibweise und ihre Auswirkungen auf die Rezeption theoretisches Rüstzeug bzw. einschlägige Rezeptionstheorien geradezu schmerzlich vermisst werden - zukünftig sollte jede Lektüre der "Vereinigungen" von Lönkers minutiösen Kommentaren begleitet werden!
IV
Verglichen mit den zuvor besprochenen Arbeiten ist die Dissertation der Schweizer Kommunikationswissenschaftlerin Villö Huszai zweifellos am stärksten im gegenwärtigen Diskurs avancierter Literatur- und Erzähltheorien beheimatet. Besonders das gegen die Narratologie gerichtete Konzept der "Metafiktionalität", womit eine konsequent gegen sich selbst gewendete Erzählweise (also letztlich eine dem Inhalt widersprechende Form) gemeint ist, hat es ihr angetan. In ihm glaubt sie den Schlüssel für alle mit Musils Texten verbundenen Probleme der Erzählperspektive sowie des Verhältnisses von Erzähler und Figur gefunden zu haben. Liege doch bei allen wichtigen Texten Musils eine (fingierte, bewusst konstruierte) Verquickung von fiktivem (!) Dichter und Helden vor. Musils literarischen Texte erzählen also nicht nur von ihren Figuren, sondern es gehört zu ihrer Konstruktion, dass die Protagonisten zugleich auch die Erzähler bzw. Autoren (!) sein sollen: Eine Figur erzählt von sich in der dritten Person, sodass ähnlich wie bei einer Ich-Erzählung zwischen erlebendem und erzählendem Ich unterschieden werden kann, diese aber dennoch eins sind - und zugleich natürlich vom realen Dichter Robert Musil verschieden.
Nähme man diese These von einer Fiktionalisierung der Textgenese ernst - und sie hat einiges für sich -, handelte man sich freilich weitreichende Folgen ein. Beispielsweise oszilliert die Perspektive in vielen Texten Musils, auch und gerade im "Mann ohne Eigenschaften", zwischen den Innenwelten der Figuren ständig, wird das Geschehen mal aus Ulrichs, mal aus Agathes oder einer anderen Figur und mal aus einer auktorialen Perspektive geschildert. Diese Tatsache scheint Huszais These klar zu widerlegen. Huszai will ihre These aber gerade an dieser Problematik verifizieren. Ihr zufolge sind diese Perspektivwechsel Produkte von nur einer Instanz: nämlich die eines gealterten Ulrich, der sich beim Schreiben in der Maske eines auktorialen Erzählers in die verschiedenen Figurenpsychen hinein imaginiert, und Aufgabe des Lesers ist es, genau diese Konstruktion des realen Autors, also Musils, einzuholen und entsprechende Schlüsse zu ziehen - über Ulrich.
Nun untersucht Huszai allerdings nur en passant den "Mann ohne Eigenschaften". Im Zentrum ihrer Arbeit steht "Tonka", und auch in dieser Novelle aus den "Drei Frauen" wird nicht nur aus der Perspektive des männlichen Protagonisten, sondern passagenweise immer wieder auch aus der Perspektive Tonkas, seiner Geliebten, erzählt. Wie eben am Beispiel "MoE" erklärt, behauptet Huszai nun, um ihre These von der Identität zwischen der männlichen Hauptfigur und dem Erzähler aufrechtzuerhalten, bei diesen Passagen handele es sich in Wahrheit um Stellen, in denen sich die männliche Hauptfigur/der Erzähler das Bewusstsein einer ihm fremden Figur - unter dem Deckmantel der Objektivität - imaginiere, mithin also gar nicht um Tonkas "wirkliche" Innensicht, sondern nur um die, wie "Mann" sie sich halt so vorstellt. Demnach würden also Passagen, die scheinbar aus einer anderen Perspektive als die der Hauptfigur berichten, einzig etwas über deren Vorstellungswelt verraten, in diesem Fall also nichts über Tonka, sondern darüber, welches Bild die Hauptfigur/der Erzähler von Tonka hat. Oder: Wie er sich, zur Selbstrechtfertigung, Tonka wünscht. Über die andere Figur, in diesem Fall über Tonka, erfahren kann der Leser allenfalls indirekt etwas über die Wiedergabe ihrer wörtlichen Rede - wobei nicht recht klar ist, wieso ausgerechnet hier dem Erzähler zu trauen sein soll. (Weitaus absurdere Rettungsversuche für ihre These stellt Huszai bei anderen Texten Musils an: So geht sie etwa davon aus, dass am Ende von "Grigia" Homo aus der Höhle, in der er eingeschlossen wird, gerettet wird - könnte er doch sonst nicht mehr "Grigia" "verfassen". Eine Rettung, von der freilich im Text selbst nichts zu finden ist.)
Diese raffinierte "Tonka"-Lektüre "gegen den Strich" erlaubt, so Huszai selbstbewusst, auch die Lösung jenes Rätsels, von dem der Erzähler (und mit ihm 80 Jahre Musil-Forschung) behauptet, es sei unlösbar, nämlich die Beantwortung der Frage nach dem Verursacher von Tonkas Schwangerschaft. Da Huszai das Ergebnis ihres Vaterschaftstests gleich zu Beginn ihrer Arbeit veröffentlicht, gilt es ihr doch im Vergleich mit den mit ihm verknüpften Folgen für Erzählweise und Rezeption der Novelle als sekundär, wird es erlaubt sein, es hier zu verraten: Der Kaufmann soll es sein, in dessen Geschäft Tonka arbeitet und der sie, als ihre Schwangerschaft unübersehbar wird, entlässt. Ist er doch, so Huszai, genau jener einzig in Frage kommende Dritte, von dem der namenlose Protagonist/Erzähler behauptet, es gäbe ihn gar nicht. Damit zeigt Huszai nicht nur der orthodoxen Musil-Forschung, die dem Erzähler bislang in dieser Behauptung allzu schnell gefolgt ist, was eine Harke ist: Sie hebelt auch gleich noch die Gegenposition der psychoanalytischen Musil-Forschung aus. Diese hatte behauptet, in Wahrheit wäre der Protagonist und/oder der reale Autor (in seiner Beziehung zu Herma Dietz, dem Vorbild für Tonka in der Autorrealität) der Vater und wolle diese Wahrheit durch eine Lügengespinst aus Eifersucht und Wunderglauben im Freudschen Sinn verdrängen und verleugnen, vor sich und dem Leser.
Nach Huszai ermöglicht es nun diese kriminalistische Lektüre (wie sie sich Musil vom impliziten Leser erhofft haben soll!), dass der Leser einen Gegensatz zwischen der fiktiven Realität und der Meinung des Helden wahrnimmt und damit im Nachhinein entscheiden kann, welche der vom Erzähler/der Hauptfigur ihm "eingetrichterten" Wahrheiten er annimmt und welche nicht. Mehr noch: Der Leser erkennt, dass es Musil darum geht, zeitgenössische Idealisierungen des Dichterbildes wie auch seine eigenen neuromantischen Anfänge zu destruieren: "Die Poetik der Novelle 'Tonka' ist in dem Sinn radikal 'böse', daß ihr Kern ein rein negativer ist, denn ihre 'Aufgabe' besteht darin, die emphatische Utopie der dichterischen Erkenntnis zu konterkarieren." Mit "Tonka" und dem "Mann ohne Eigenschaften" habe Musil letztlich sein Frühwerk widerrufen:
"Die Funktion der Novelle erweist sich erst im werkgenealogischen Zusammenhang als konstruktive: Die Demontage des emphatischen Dichterbildes in 'Tonka' ist die Grundlage, auf der nach 'Tonka' eine dialektische Form der dichterischen Erkenntnis aufgebaut werden kann, in welcher die Ironie an die Stelle des reinen Pathos' des Frühwerks und an die Stelle der Satire in 'Tonka' tritt."
Anders als im Realismus ermöglicht Musils Metafiktionalität, so Huszai, dass der Leser beim Lesen sich selbst begegnet, sein eigenes Tun wahrnehmen kann. Jedenfalls der kriminalistische Idealleser Huszais, von dem Musil geträumt haben soll; alle real existierenden Leser wären demnach noch immer im Realismus verhaftet.
Liest man die einschlägigen Textstellen Musils daraufhin, angeregt durch Huszais "kriminalistischer", "radikal nicht-empathischer Lektüre" noch einmal nach, muss man zugeben, dass sie Recht haben könnte: Möglich wäre des Kaufmanns Täterschaft tatsächlich; wirklich beweisbar scheint sie aber nicht. Dass Huszai ihre Belege und Hinweise in der Folge immer wieder für Beweise ausgibt und praktisch ihre gesamte Theorie von der Metafiktionalität sämtlicher Texte Musils mit all ihren Folgerungen daran knüpft, gibt denn doch Anlass zu Skepsis: Zwar könnte Huszais Arbeit die spannendste Musil-Studie seit Peter Henningers "Der Buchstabe und der Geist" sein, und sie bietet ohne Zweifel eine Vielzahl anregender Gedanken, Ansätze und Beobachtungen. Auch bestätigen ihre Thesen erschreckend perfekt die sich nur allmählich durchsetzende Erkenntnis, wonach Musil seine Texte mit allerlei doppelten Böden und dazugehörigen Falltüren ausgestattet hat - bösartige, das Kunstwerk scheinbar sabotierende Vexierbilder, in denen das Ja des vordergründigen Textes durch hintergründige Neins aufgehoben wird. Dazu gehören nicht zuletzt psychoanalytische Subtexte wie etwa die versteckte ödipale Erklärung für die "Verwirrungen des Zöglings Törleß". (Weshalb, nebenbei gesagt, Huszais Behauptung, Musil habe am Ende sein Frühwerk widerrufen, sehr zweifelhaft ist.) Dies alles zugegeben, wird man beim Lesen dieser Arbeit doch den Verdacht nicht los, dass Huszai bei ihrer "kriminalistischen" Lektüre à la Sherlock Holmes irgendwann weit übers Ziel hinausschießt und nur ein neues Opfer dessen wird, was Albert Kümmel in seiner Studie über Musils "MoE-Programm" das "Konzept einer paranoiden Lektüre" genannt hat. Zu ihr sollen nach Kümmel Musils Texte geradezu systematisch stimulieren, weil man, wie der Rezensent aus eigener Erfahrung bestätigen kann, bei solchen Überdosen an Bedeutung und Doppelbedeutung irgendwann noch hinter jeder Konjunktion und jedem Komma Abgründe zu vermuten beginnt.
Denn gesetzt, Huszai hätte Recht mit ihrer These von der sich selbst destruierenden Erzählung: Dann wären "Tonka" eben nicht einfach seit nunmehr 80 Jahren sämtliche Leser auf den fingierten kitschig-neuromantischen Leim gegangen - was ein reizvoller Gedanke wäre. Sondern Musil müsste dann ein ausgesprochen mieser Autor gewesen sein, wenn bislang jedem seiner Leser (ausgenommen Villö Huszai) die zentrale Textbedeutung entgangen wäre.
V
"Lassen Sie uns etwa an große Schriftsteller denken. Man kann sein Leben nach ihnen richten, aber man kann nicht Leben aus ihnen keltern. Sie haben das, was sie bewegte, so fest gestaltet, daß es bis in die Zwischenräume der Zeilen wie gepreßtes Metall dasteht. Aber was haben sie eigentlich gesagt? Kein Mensch weiß es. Sie selbst haben es niemals ganz in einem gewußt. Sie sind wie ein Feld, über dem die Bienen fliegen; zugleich sind sie selbst ein Hin- und Herfliegen." (Musil, Mann ohne Eigenschaften)
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