Harte Oma, fremde Welt

Isabel Allendes erstes Jugendbuch "Die Stadt der wilden Götter" birgt Vertrautes und behandelt das gänzlich Fremde

Von Julia DombrowskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Dombrowski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Isabel kann es also nicht lassen." So in etwa lautet der unwillkürliche, aber liebevolle Gedanke des Allende-Kenners schon nach wenigen Seiten des ersten Jugendbuches der wohl berühmtesten aller Chileninnen, mit Seitenblick auf frühere Romane der Vielschreiberin. Neues Genre, altes Markenzeichen: Kein Roman ohne eine starke Frau, die es allen zeigt, die den Konventionen ihrer Gesellschaft nicht entspricht, quer denkt, lebt und handelt, Ecken, Kanten und Schrullen hat, aber sich irgendwie dennoch - oder wohl eher gerade deshalb - in die Herzen der Leser zaubert. Die routinierten Leser kennen das schon: Die mal zauberhaften, mal zaubernden Frauengestalten aus dem "Geisterhaus" oder "Eva Luna", die cholerische Variante aus "Porträt in Sepia" und wie sie auch alle heißen und auftreten. Jugendliche als weniger routinierte Leser lernen eine solche Frau im 2002 erschienenen Abenteuerroman "Die Stadt der wilden Götter" kennen.

Im Leben des 15-jährigen Alex geht es übel zu. Die Mutter erkrankt schwer, der Vater ist überfordert mit Haushalt und Erziehung der beiden Kinder. Verstört reagiert der Pubertierende auf die Veränderungen im Elternhaus, so dass die Eltern beschließen, den Jungen mit seiner Großmutter, der resoluten Reiseschriftstellerin Kate Cold, auf eine Amazonasexpedition zu schicken. Und damit beginnen die schockierenden Erlebnisse für Alex erst so richtig. Es ist keine fürsorgliche kuchenbackende Oma, die mit der Sorge um ihn betraut wird, sondern eine harsche Überlebenskünstlerin, die den Enkel aus der Provinz ungerührt allein im nächtlichen New Yorker Großstadtdschungel irren lässt, um ihn auf die wahren Gefahren eines noch dunkleren und noch gefährlicheren Urwaldes vorzubereiten. Um keinen Preis will Alex mit seiner wilden Oma allein gelassen werden - sein Protest verhallt ungehört.

Zaghaft freundet sich Alex mit der zwölfjährigen Nadia an, die ihm als Tochter eines brasilianischen Expeditionsführers in den Wirren und Gefahren der Wildnis haushoch überlegen ist. Gemeinsam machen sie sich auf, um auf die Spur einer Bestie zu kommen, die blutrünstig ihr Unwesen im Amazonasgebiet treiben soll. Niemand hat das Wesen bisher zu Gesicht bekommen, Gerüchte um ein angeblich sagenhaftes Mythentier kursieren. Die beiden werden von einem bislang unentdeckten Indianerstamm entführt, erleben Abenteuer und das Zusammenleben mit den neuen Weggefährten und müssen an ihren Aufgaben wachsen, um zu überleben.

Das Geheimnis um die Amazonasbestie lüftet sich den Jugendlichen nach und nach. So ungleich die Lebenswelten auch sind, in denen die zwei gänzlich verschiedenen Kids aufgewachsen sind - was sie hier erleben und erfahren, übersteigt ihrer beider Vorstellungskraft vollkommen.

Isabel Allende hat ein Jugendbuch über die Mühe und den Schmerz des Erwachsenwerdens geschrieben, sie thematisiert die Frage nach dem "Wer bin ich eigentlich?" und gibt ein leises aber bestimmtes Versprechen ab, dass jeder Heranwachsende mehr in sich entdecken kann, als er selbst von sich erwartet hätte. Sie appelliert an den Glauben an die eigene Person - und ihr Buch fordert in fast autoritärem Stil eine Verantwortung für die Welt, in der wir leben. Verantwortung auch und gerade für das, was wir nicht kennen und erst recht nicht verstehen. Kate Cold würde diese Forderung übrigens in ihrer wenig großmütterlichen Art erbarmungslos und gebieterisch unterschreiben, Hüten Sie sich davor, sich dem Willen dieser Frau zu widersetzen - fragen Sie mal Alex!

Titelbild

Isabel Allende: Die Stadt der wilden Götter. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Svenja Becker.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
325 Seiten,
ISBN-10: 3518413503

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