Die Skala der Intensitäten ändern

Roland Barthes' "Chronik"

Von Walter WagnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Wagner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vom Dezember 1978 bis zum März 1979 betreute Roland Barthes für die französische Wochenzeitung "Le Nouvel Observateur" eine Glosse. Es entstand ein genuines Schreibprojekt, das sich zum Ziel setzte, so genannte ",schwache' Ereignisse" in der Presselandschaft zu etablieren.

Wer die intellektuelle Herausforderung der "Chronik" annimmt, erkennt unter dem Palimpsest der gelungenen Übersetzung nicht nur Barthes' lakonischen Duktus, sondern begegnet auch dem genialen Denker wieder, der das exklusive Gebäude der Sprachwissenschaft verlässt, um die "Mythen des Alltags", so der Titel eines 1957 erschienenen Standardwerks der Semiotik, aufzuspüren.

Alltagsbeobachtungen, die unabänderlich der "Erregung des Verstandes" folgen, werden in Prosafragmenten festgehalten und als pointierte Repliken einer Wahrheit zugeführt, deren "Unzulänglichkeit" darin besteht, Sinn festzulegen, wo unendliche Zerstreuung statthaben sollte. Es wird die Stimme des Philosophen Jacques Derrida vernehmbar, wenn Barthes sein linguistisches Credo verkündet: "Denn ich habe das Schreiben seit langem als jene Kraft der Sprache aufgefasst, die den Sinn der Dinge vermehrt und ihn schließlich aufhebt."

Dass ein derartiges Verfahren wohl "einen Versuch wert" sei, bekennt der Autor, um sich zugleich einzugestehen, dass er die Möglichkeiten der Zeitung vermutlich überschätzt. Wo Literatur mit der unendlichen Sinnverschiebung ihr Spiel treibt und Mitspieler findet, erweist sich die Presse mit ihrem diametral entgegengesetzten Informationsanspruch freilich als denkbar ungeeignetes Medium.

Dieser Erkenntnis zum Trotz haben die insgesamt 55 Glossen der "Chronik" ihren Wert und ihr Gewicht. Sie bestätigen den unbeirrbaren Blick des Intellektuellen, der danach trachtet, augenscheinliche Belanglosigkeiten auf die Höhe einer Mitteilung zu hieven, was nur dadurch gelingen kann, dass man "die Skala der Intensitäten ändert".

In dieser Perspektive wird der Besuch des Autors beim Friseur ebenso ein Erlebnis wie der Kauf von Kirschen auf dem Markt von Saint-Germain. Naturgemäß sind wir dazu verleitet zu fragen, wen die von Barthes zum Besten gegebenen Harmlosigkeiten denn eigentlich angehen sollen. Hier fordert der Autor lange vor der Entdeckung der Entschleunigung einen Lesertypus, der gewillt ist, die detailreichen, nicht mit Aperçus geizenden Miniaturen in kleinen Dosen auf sich einwirken zu lassen.

Unprätentiös im Stil, nimmt der Autor den Neugierigen bei der Hand und zeigt ihm, dass die Literatur das Leben prägt und nicht umgekehrt. So etwa beim Besuch einer Vorstellung des damals noch kaum bekannten Nurejew, wo Barthes die Wiederholung einer Szene erkennt, die bereits Proust in seiner "Recherche" geschildert hat: "und genau das ist wahrscheinlich Lesen: den Text des Werkes direkt im Text des eigenen Lebens neu schreiben".

In ebendieser Ausweitung der Wissenschaft auf eine breitere, wenngleich gebildete Leserschaft, besteht das Verdienst der kleinen Schrift, die von Zeiten erzählt, wo die Kommentare der Intellektuellen in jenen Medien abgedruckt wurden, wo heute leicht Verdauliches die Spalten füllt.

Was an Barthes' Notizen jenseits der analytischen Prägnanz besticht, ist das sensible Auffangen von kulturhistorischen Veränderungen, deren bedrohliche Konsequenzen im Erscheinungsjahr dieses Bändchen bis in die hintersten Winkel der postindustriellen Gesellschaft spürbar geworden sind. Brillant umreißt er die Anfänge und bindet sie ans Zeitlose, wenn etwa vom Aufkommen des Infotainments die Rede ist: "Kurz, das Recht auf Langsamkeit: ein ökologisches Problem."

Desgleichen nimmt er die im Zuge der Globalisierung um sich greifende Homogenisierung der Gesellschaft vorweg, die einerseits Individualinteressen betont, anderseits die Differenz erstickt, und warnt vor einer Kultur des immer Gleichen: "Wir akzeptieren (das ist unsere Meisterleistung) die Partikularismen, aber nicht die Singularitäten, die Typen, aber nicht die Individuen. Wir schaffen (geniale List) Chöre von partikularen Wesen, die eine fordernde, gellende und doch ungefährliche Stimme besitzen. Aber der absolut Isolierte? [...] Der nicht einmal zu einer Minderheit gehört?"

Wir meinen, einen ad infinitum zwischen signifiant und signifié eingespannten Roland Barthes zu kennen. Doch man täusche sich nicht! In den Pausen der Diskursivität begegnet uns ein feinfühliger Chronist, dessen Mahnungen frei von Patina die Gegenwart erreichen: "Aber sobald das Publikum aus Spott oder aus einer Art Grobheit der Gefühle lacht, sobald man über eine Empfindsamkeit oder Unschuld lacht, sobald man hinter seinem Rücken über einen Autor lacht, kommt die Barbarei zum Vorschein."

In keinem anderen Werk tritt Barthes engagierter und humaner auf. "Chronik" führt uns in die polyphone Welt des verhinderten Diaristen ein, der zutiefst in der Tradition französischen Denkens steht und dessen cartesianische Selbstgewissheit von der Brüchigkeit des modernen Subjekts erschüttert wird. Insofern kündet dieser Band auch von der Verletzlichkeit des Intellektuellen. An mancher Stelle hätte man gern nachgefragt. Allerdings lässt uns der Meister mit unserer privaten Hermeneutik im Stich. Wahrscheinlich hat er das so gewollt: Die Fermente guter Lektüre wirken nämlich langsam.

Titelbild

Roland Barthes: Chronik.
Übersetzt aus dem Französischen von Mira Köller.
Merve Verlag, Berlin 2003.
66 Seiten, 7,50 EUR.
ISBN-10: 3883961884

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch