Orgien der "Fackel"-Lektüre und leichtere hebräische Texte

Unbekannte Briefe Franz Kafkas an Robert Klopstock

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Lieber Robert, wie ist denn das; ich hätte gar nicht geschrieben? 2 Briefe und eine Karte, es kann doch nicht alles verloren sein." So beginnt das früheste erhaltene Schreiben Franz Kafkas an den damals einundzwanzigjährigen Robert Klopstock. Kafkas Vermutung, die drei oben genannten Korrespondenzstücke seien verloren gegangen, hat sich ebenso als richtig erwiesen, wie der Umstand, dass 26 weitere Briefe und Postkarten an Robert Klopstock nicht mehr auffindbar sind. Im Gegensatz dazu haben sich glücklicherweise 38 Briefe erhalten, die Martin Peche in einem Katalog des Antiquariats Inlibris ediert hat und die das Gros von Kafkas Schreiben an den von Max Brod wenig schmeichelhaft als "verrückt" bezeichneten "Dr. Klopstock" bilden. Der bisher verschollene Korrespondenzbestand enthält neben 14 nur unter teils relevanten, bis zu ganzseitigen Auslassungen von Brod gedruckten auch sieben gänzlich unveröffentlichte Schriftstücke Kafkas. Die Briefe stammen sämtlich aus den vier letzten Lebensjahren Kafkas, aus der Zeit der Krankheit des Prager Literaten also, die fast ausschließlich durch Erfahrungsberichte an die Freunde und die Familie dokumentiert ist. Nach Hartmut Binder war es Robert Klopstock, dem Kafka innerhalb des genannten Kreises die größte Bedeutung und die ausführlichsten Schreiben zusandte. Der Korrespondenz mit Klopstock kommt bis zur letzten Postkarte deshalb eine, wie Max Brod 1924 treffend bemerkt hat, besondere Bedeutung zu, weil jede "einzelne [Mitteilung] dieselbe Natürlichkeit und Intensität besitzt wie Kafkas literarisches Werk". Der Briefwechsel endet erst mit jenem Schreiben, in dem Kafka den Freund ersucht, von der "Gewalttat" eines Besuchs bei ihm Abstand zu nehmen. Bekanntlich ist Klopstock trotzdem in Wien erschienen, hat Kafka bis zu seinem Tod im Sanatorium Kierling betreut und bildete gemeinsam mit Dora Diamant die "kleine Familie" des Sterbenden. Klopstock war, wie Klaus Mann in seinen Tagebüchern notiert, derjenige, in "dessen Armen Franz Kafka gestorben" ist.

Das eigentliche Ereignis dieser bisher unbekannten Kafka-Briefe liegt nun vor allem darin, eingehender nach Robert Klopstock zu fragen, mehr über den aus Ungarn stammenden Medizinstudenten mit literarischen Ambitionen zu erfahren, als es die dürren Informationen bieten, nach denen Kafka den sechzehn Jahre jüngeren Klopstock 1921 im Sanatorium in Matliary kennen gelernt hatte und Klopstock 1972 in New York als anerkannter Mediziner und hochrangiger Wissenschaftler auf dem Gebiet der Lungentuberkulose gestorben ist. Das hat vermutlich seine Ursache in Klopstocks lebenslanger Zurückhaltung, sich zu Kafka zu äußern oder gar über das ihnen Gemeinsame und damit auch über sich selbst zu berichten. Folgerichtig hat Klopstock, der von einigen Kafka-Biographen als "undurchdringlich und rätselhaft" wahrgenommen wurde, seinen Nachlass zu Lebzeiten auf das ihm wesentlich Erscheinende reduziert. Wo es ihm möglich war, hat er versucht, die persönlichen oder privaten Spuren zu verwischen oder gar zu tilgen. Gleichwohl ist, wie Christopher Frey in der Aufarbeitung des Überlieferten zeigen kann, genug erhalten geblieben, um sich eine Vorstellung von Kafkas letztem Freund zu machen, die weit über das bisher Bekannte hinausgeht. Eine erste Skizze zu Klopstocks Biographie zeichnet Frey als Einleitung zum kommentierten Katalog der Nachlässe Robert und Giselle Klopstocks in dem erwähnten Band.

Von besonderer Bedeutung ist das Verhältnis Klopstocks zur Familie Mann. Das im Nachlass befindliche Widmungsexemplar von Klaus Manns Essaysammlung "Escape to Life" ist der einzige erhaltene Zeuge für dessen enge Bindung an Robert Klopstock. Möglicherweise hat die vollständige Vernichtung der ehemals "dichten Korrespondenz" Klaus Manns mit Klopstock seinen Grund in der ungeklärten Rolle, die Klopstock 1949 beim Freitod seines Freundes gespielt haben soll. Für Thomas Mann war jedenfalls gesichert, wie er unter dem Datum des 25. Mai 1949 in seinem Tagebuch notiert, dass sein Sohn "das Gift [...] von dem idiotischen Klopstock erhalten" hat. Der zuvor regelmäßig gepflegte Austausch mit Robert Klopstock war für den Vater damit natürlich beendet. Das erstaunt umso mehr, da Thomas Mann schon Ende Juni 1936 an Albert Einstein in Princeton "in Sachen des Budapester Dr. Klopstock" geschrieben hat, wohl mit der Bitte, er möge für ihn nach Arbeitsmöglichkeiten in Amerika Ausschau halten. Ganz unter dem Eindruck des österreichischen "Anschlusses", den er aus den USA mitverfolgt, bemüht sich Mann schon seit März 1938 wiederum um Hilfe für Klopstock, dieses Mal schließlich auch erfolgreich. Eine Trouvaille in Klopstocks Nachlass verdient in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit: das Widmungsexemplar von "Lotte in Weimar", enthält es doch Thomas Manns eigenhändige Korrekturen gerade in jenem Kapitel, das Klopstock schon am Weihnachtstag 1938 bei einer abendlichen Lesung vom Autor selbst zu hören bekommen hat.

Klaus Mann bleibt in der Neuen Welt die erste medizinische Vertrauensperson, da Klopstock ihn zur Entwöhnung und zur Milderung der Entzugserscheinungen offenkundig mit dünnen Opiaten versorgt. Auch mit Thomas Mann trifft er sich fast jede Woche, zumeist zum Lunch. Klopstock hält Mann über Klaus' Gesundheitszustand auf dem Laufenden und gibt ihm Vitamintabletten. Wie Mann in seinen Tagebüchern notiert, sprechen sie über die ihn spätestens seit der Arbeit am "Zauberberg" interessierende Lungenchirurgie und Inhalationsapparate. Klopstock behandelt Michael Manns Gelbsucht und beruhigt Thomas Mann aus medizinischer Sicht über die Wirkungen seiner Morgenzigarre. Als Informationsquelle zu Kafka stellt er sich vornehmlich Klaus Mann zur Verfügung, der den Kafka-Abschnitt seines Essaybandes "Distinguished Visitors" auf der Grundlage von Klopstocks Briefen verfasst. Der Text, der zu Lebzeiten nur in umgearbeiteter Form als Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von "Amerika" publiziert wurde, erwies sich als sein "einziger Erfolg von Dauer in den USA" und brachte seinem Verfasser ebendort den posthumen Ruf eines Kafka-Experten ein. Obwohl die enge Freundschaft der beiden spätestens seit Mitte der 40er Jahre an Intensität nachgelassen zu haben scheint - nach Mai 1943 findet sich der Name Klopstock nicht mehr in Manns Tagebuch -, reißt der Kontakt offenbar nicht ganz ab, da Klopstock seinen Schützling auch in Europa noch mit "Entwöhnungsmitteln" versorgt hat, bei denen es sich um eine neue, "den südfranzösischen Landärzten noch nicht bekannt[e]" Substanz, vermutlich ein verdünntes Morphium, gehandelt hat. In jedem Fall hätte es Klaus Mann zur Erzielung einer Rausch- oder Todeswirkung mit starkem Rauschgift kombinieren können, was die Heftigkeit der Reaktion Thomas Manns auf den Suizid seines Sohnes erklären mag. Gleichwohl sprechen alle bekannten Fakten gegen diesen Verdacht. Zeugnisse von Freunden, Patienten und Kollegen unterstreichen Robert Klopstocks behutsame Menschlichkeit, seine Integrität und seinen Willen, sich in die zum Teil schwierige Situation der ihm anvertrauten Menschen hineinzuversetzen. In seiner, ein knappes Jahrzehnt nach Kafkas Tod entstandenen Dissertation weist er auf "den großen subjektiven Wert" hin, der die von ihm vorgeschlagene Behandlungsmethode, "für diese hoffnungslos Kranken" habe: "Die Tatsache, daß es gelingt, mit [ihrer] Hilfe diese Schwerkranken bis zu ihrem Tode von ihren entsetzlichen Qualen zu befreien, erscheint uns vom Standpunkte der ärztlichen Hilfeleistung von großer Bedeutung."

Was darüber hinaus aus den Nachlässen von Robert und Giselle Klopstock zum Sprechen gebracht werden könnte, wenn man das darin Enthaltene systematisiert und in einen größeren Deutungskontext zu stellen vermag, davon geben die im letzten Teil des Bandes abgedruckten Beiträge von Leonhard M. Fiedler, der die enge auch auf literarischem Gebiet fruchtbare Beziehung Kafkas zu Klopstock nachzeichnet, und Leo A. Lensing, dessen Anmerkungen zu Kafkas Briefen an Robert Klopstock sich auf den "Fackel"-Leser und Werfel-Verehrer konzentrieren, eine erste durchaus beeindruckende Vorstellung. Lensing unterstreicht zu Recht, dass das in den meisten biographischen Versuchen vermittelte Bild von Klopstock als ärztlichem Helfer und Pfleger die Sicht auf einen wichtigen Aspekt seiner Bedeutung für Kafka verstellt. Er war nicht nur "Mediciner", sondern er war auch, wie es in verschiedenen Briefen an Max Brod und Ottla identisch heißt, "sehr literarisch". Jesus und Dostojewski seien seine Leitfiguren, vermerkt Kafka. Dass er Jude, aber kein Zionist sei, wird auch beiden Briefpartnern mitgeteilt. Klopstock entwickelt sich zum Gesprächspartner für Themen, die mit Max Brod nur bedingt zu erörtern sind. Das betrifft nicht nur die wachsende Ambivalenz gegenüber dem Zionismus, sondern auch seine Ansichten über eine deutsch-jüdische Literatur. Unter den in Klopstocks Nachlass erhaltenen Korrespondenzstücken befinden sich zudem beinahe alle Karten und Briefe, in denen Kafka Karl Kraus und "Die Fackel" erwähnt, was, wie Lensing treffend bemerkt, umso wertvoller ist, als Kafka diesen Namen der ihn in den letzten Jahren seines Lebens so intensiv berührenden deutsch-jüdischen Literatur nur einige wenige Male überhaupt niedergeschrieben hat. Der österreichische Satiriker und sein Werk kommen in Briefen an Klopstock zwischen Dezember 1921 und Februar 1924 viermal, und damit doppelt so häufig vor, wie im ganzen Tagebuch und in Briefen an anderen. Schon diese kleine von Lensing bemühte Statistik verdeutlicht, wie wichtig der mit Klopstock geführte Dialog über Kraus und sein Werk für Kafka gewesen und wie er auch im Zusammenhang der zeitweise gespannten Beziehung zu Brod zu lesen ist.

Die von der Forschung nicht wahr genommene Präsenz von Karl Kraus in den Briefen fällt umso mehr auf, als in den gleichen Briefen Kafkas späte Beschäftigung mit dem Hebräischen im weiteren Sinne dicht daneben steht. Dies ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil sich in Kafkas literarischen Arbeiten keine direkten Spuren des intimen Verhältnisses zum Hebräischen und Jiddischen findet. Nur in den Briefen und im "Oktavheft F" des Nachlasses von Kafka lassen sich einige Hinweise für dessen tiefgründiges Interesse an der hebräischen Sprache finden. Immerhin fühlte sich Kafka sicher genug, um in einem Brief an Max Brod die Sprachkenntnisse seines Freundes mit den Worten eines Experten zu kommentieren: "Dein Hebräisch ist nicht schlecht, am Anfang sind einige Fehler; ist dann aber die Sache in Gang, wird es fehlerlos." Binnen relativ kurzer Zeit ist Kafka in der Lage, an seine Hebräischlehrerin Puah Menschel (Ben-Tovim) einen einfühlsamen Brief zu schreiben. Kafka glaubte, dass Puah ihren Eltern in einem Brief mitgeteilt habe, dass sie Prag und die Universität verlassen, und darauf noch keine Antwort erhalten habe. Er versuchte, die ihm nahe stehende Puah mit den folgenden Worten, die an die präzisesten Eintragungen seines Tagebuchs und seiner Briefe erinnern, zu beruhigen: "kama peanim bechajaji baarti bcharada cazot" ("Manches Mal in meinem Leben brannte ich mit einer ebensolchen Angst"). Wie umfangreich seine Hebräischkenntnisse gewesen sein dürften, belegt nicht zuletzt die Tatsache, dass Kafka mit seiner letzten Lebensgefährtin, Dora Diamant, Josef Chaim Brenners Epoche machendes Werk "Sch'chol we'kischalon" ("Sterben und Scheitern", 1920) gelesen hat. In dem Brief vom 30. Juni 1922 ist die nun neu zu beobachtende Nähe des Hebräischen zu Kraus-Texten durch den unmittelbaren Übergang von dem Bild der "Fackel" als "süsse Speise aller guten und bösen Triebe" zum Titel von Hans Blühers antisemitischem Pamphlet "Secessio judaica" wohl am kompliziertesten. Kafka fordert Klopstock in diesem Brief auf, eine Replik zu schreiben, zu der er sich selbst nicht imstande sieht, da der "Talmudist", den er "irgendwo in [s]einer Geschlechterfolge" sitzend vermutet, ihn nicht genug aufmuntere. Unverkennbar bezieht sich Kafka hier auf Kraus, dessen Stil, wie Walter Benjamin es 1928 treffend formuliert hat, als "der großartigste Durchbruch des halachischen Schrifttums mitten durch das Massiv der deutschen Sprache" zu verstehen ist. Gershom Scholem berichtet, dass Benjamin und er auch schon im Herbst 1921, also ungefähr gleichzeitig mit den von Kafka und Klopstock geführten Briefdialogen, "über die Herkunft des Stils von Kraus aus der hebräischen Prosa und Dichtung des mittelalterlichen Judentums [...], der Sprache der Halachisten" diskutiert hätte.

In einem Brief von Mitte November 1923, in dem Kafka Klopstock für die Übersendung der Aufsatzsammlung "Untergang der Welt durch schwarze Magie" dankt, heißt es, er lese sonst nur wenig und "nur hebräisch, keine Bücher, keine Zeitungen, keine Zeitschriften oder doch: die Selbstwehr". In seinem letzten Brief, in dem von den "Orgien" der "Fackel"-Lektüre die Rede ist, berichtet Kafka schließlich, dass er auch "in einem hebräischen Buch [...] täglich ein wenig las. Man darf gespannt sein, zu welchen neuen Erkenntnissen diese in den Briefen an Klopstock begegnende Gleichzeitigkeit von Kraus-Lektüre und hebräischen Leseübungen, die der Forschung bislang entgangen ist, führen wird. Fraglos wäre dies nicht das geringste Verdienst dieser vorbildlich edierten und sorgfältig kommentierten Ausgabe der zum Teil faksimilierten Briefe Kafkas an seinen "letzten Freund" Robert Klopstock.

Titelbild

Hugo Wetscherek (Hg.): Kafkas letzter Freund. Der Nachlaß Robert Klopstock (1899-1972). Mit kommentierter Erstveröffentlichung von 38 teils ungedruckten Briefen Franz Kafkas.
Bearbeitet von Christopher Frey und Martin Peche.
Inlibris Verlag, Wien 2003.
312 Seiten, 65,00 EUR.
ISBN-10: 3950081399

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