Auf dem Weg zur großen Theorie
Der erste Band des Briefwechsels zwischen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer
Von H.-Georg Lützenkirchen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAls nach der nationalsozialistischen Machtergreifung in Deutschland das Frankfurter Institut für Sozialforschung, dessen Leitung Max Horkheimer 1930 übernommen hatte, geschlossen wurde, konnten Horkheimer und sein Freund Friedrich Pollock, der vorausschauend das Stiftungsvermögen ins Ausland gerettet hatte, schon 1934 das Institut in New York wiedereröffnen. Damit begann ein bis heute wirkungsmächtiges Kapitel in der Geschichte der Kritischen Theorie. Über die frühe Phase dieses Kapitels informiert der vorliegende Briefwechsel zwischen Horkheimer und Theodor W. Adorno, dessen erster Band die Briefe von 1927 bis zu Adornos Übersiedlung von England nach Amerika versammelt.
Die politischen Umstände hatten die beiden Geistesverwandten räumlich voneinander getrennt. Horkheimer organisierte von New York aus die Geschicke des Instituts während Adorno, dem ebenfalls die akademische Tätigkeit in Deutschland untersagt war, seit 1934 als "advanced student" meistenteils in England lebte. Über die Entfernung hinweg wurde der Briefwechsel zum wichtigen Kommunikationsmedium. Als "wissenschaftliche Korrespondenz" diente er der Vergewisserungen über die Grundlagen einer großen gemeinsamen Arbeit zur Kritischen Theorie. Liest man, wie euphorisch-zustimmend der eine jeweils die aktuellen Arbeiten des anderen bewertete und wie sehr sie in diesen Arbeiten die jeweilige Ergänzung der eigenen Gedanken und Theorieprämissen erkannten, dann erscheint die geplante gemeinsame Anstrengung als geradezu natürlich-zwangsläufige Konsequenz - verhindert lediglich noch durch die äußeren Umstände.
Zu diesen gehörte der Neuanfang des Instituts, den Adorno aus der Ferne misstrauisch beobachtete. Es ging ihm um sein exklusives Verhältnis zu Horkheimer, das er zeitweise durch gezieltes Taktieren aus Horkheimers engem Umfeld gefährdet sah. "Ich will nur hinzufügen," schrieb er am 24. November 1934, "daß ich recht wohl weiss, daß die Widerstände hier nicht bei Ihnen liegen, sondern bei Ihrem Freund [gemeint ist Pollock], der psychologisch zum Geheimhalten neigt, und bei Löwenthal, der diese Neigung sozusagen machtpolitisch gegen mich einsetzt." Umso bedauerlicher sei dies, "da", wie er am 13. Mai 1935 mitteilte, "Sie, Herr Horkheimer, nach wie vor der einzige Mensch sind, mit dem ich mich in solcher Breite einig weiß, daß ich in voller Gemeinschaft mit ihm arbeiten könnte." Eben diese "Einschätzung der extremen Notwendigkeit unserer Zusammenarbeit" rechtfertigte Attacken gegen vermeintlich zweifelhafte Mitarbeiter: "Es versteht sich," schrieb Adorno weiter, "daß es sich dabei konkret um die Position von Herrn Marcuse handelt und es wird sie nicht wundernehmen, wenn es mich traurig macht, daß Sie philosophisch unmittelbar mit einem Mann arbeiten, den ich schließlich für einen durch Judentum verhinderten Faszisten halte."
Die eifersüchtigen Anfeindungen muten einigermaßen kurios an und wurden von Horkheimer auch eher beiläufig zur Kenntnis genommen. Zudem hatte dieser seinem Geistesfreund schon am 16. November 1934 versichert: "Wenn Sie sich nicht sehr verändert haben, dann sind Sie einer der ganz wenigen Menschen, von denen das Institut und die besondere theoretische Aufgabe, die es zu erfüllen sucht, geistig etwas zu erwarten haben. [...] Wir sind die einzige Gruppe, deren Existenz nicht von einer fortschreitenden Assimilierung abhängt, sondern welche den in Deutschland erreichten relativ hohen Stand der Theorie halten und weiter erhöhen kann."
Doch erst nach einem persönlichen Wiedersehen Ende 1935 in Paris und Amsterdam war Adorno beruhigt, so dass er am 20. Januar 1936 Horkheimer schreiben konnte: "Aber ich bin nun sicher, daß zwischen uns everything alright ist. Und daß sich diese Formel auf unseren gemeinsamen theoretischen Entwicklungsstand erstreckt - daß wir wirklich heute beide so weit sind, gemeinsam eine Arbeit in Angriff zu nehmen, deren Tragweite sich kaum überschätzen läßt, ist daran das schönste."
Immer schwingt in den Briefen das selbstbewusste und stolze Bewusstsein mit, eine philosophisch-theoretische Elite zu vertreten. Doch drohte ihr im Konkurrenzkampf mit den bürgerlichen Denktraditionen noch Gefahr. Dies mag ein Grund für die gehetzte Aggressivität in solchen Briefpassagen sein, die sich auf vermeintliche 'Philosophiekonkurrenten' und ihre Werke beziehen. So teilte Horkheimer Adorno in einem Brief vom 4. Februar 1936 mit, was von dem niederländischen Kulturhistoriker Johan Huizinga zu halten war: "Huizinga [...] hat ein Buch 'Im Schatten von morgen' erscheinen lassen. H. ist ein Gegner des Faschismus und steht der deutschen Emigration, soviel ich höre, freundlich gegenüber. Als Inbegriff naiven Professorengeschwätzes fordert das Buch jedoch dazu heraus, dass wir einen Trennungsstrich zwischen uns und diese Art von Freunden machen. Es gehört zu jener Sorte wohlmeinender Literatur, mit der wir aufräumen sollten." Entsprechend entschieden antwortete Adorno einige Tage später: "Huizinga: ich bin natürlich ganz Ihrer Ansicht, daß man sich solch schwatzender Freunde zu erwehren hat. [...] Wer wird den Streich führen?"
Immer geht es ums Ganze. Dabei ist beiden Briefpartnern bewusst, dass das eigentlich entscheidende Kriterium im Konkurrenzkampf mit den etablierten Denkschulen der bürgerlichen Gesellschaft nur die 'bessere' Theorie sein kann. Daraus resultierte die Einforderung eines qualitativen Mindeststandards insbesondere für die Beiträge der in Paris erscheinenden "Zeitschrift für Sozialforschung". Was hier erschien, sollte in jeder Hinsicht höchsten Anforderungen gerecht werden. Doch brauchte man dafür geeignete Mitarbeiter und Autoren. "Es ist ungeheuer schwer", schrieb Adorno am 21. Januar 1937, "Menschen zu finden, mit denen wir wirklich zusammenarbeiten können und die Versuche, die ich im letzten halben Jahr nach dieser Richtung gemacht habe, bringen mich mehr und mehr dazu, Ihre Ansicht zu akzeptieren, daß wir unsere Arbeit sozusagen nur auf uns selber gestellt durchzuführen haben."
Adorno, dem Horkheimer wohlbedacht die Reorganisation des Besprechungsteils der Zeitschrift angetragen hatte, entwickelte mit Walter Benjamin Leitfäden für die Mitarbeiter. In einem Brief vom 15. Dezember 1936 nannte er eine Liste von Namen, "die Leute betreffen, deren kritische Mitarbeit mir unmöglich erscheint (wohlverstanden sachlich: die Frage der taktischen oder privaten Notwendigkeit, sie heranzuziehen, lasse ich dabei ganz außer Betracht)."
Doch eben diese taktischen und persönlichen Notwendigkeiten waren im Bereich der personalpolitischen Überlegungen, über die Adorno regelmäßig Mitteilung machte, unausweichlich. Ein Hauptproblem war die katastrophale soziale Lage vieler der aus Deutschland vertriebenen Intellektuellen. Zwangsläufig ergab sich eine soziale Verantwortung des Instituts, das noch überlebensnotwendige Auftragsarbeiten vergeben konnte. Adorno 'begutachtete' die Kandidaten indes oft mit einem 'kalten', vermeintlich sachlichen Maßstab, der die Folgen für die Betroffenen außen vor ließ. Die eigentliche Entscheidung überließ er, der selber aufgrund familiärer Vermögensverhältnisse keine materiellen Nöte zu erleiden hatte (und dem Horkheimer kurz vor seiner Ankunft in Amerika beruhigend mitzuteilen wusste, dass es in Amerika genügend Möglichkeiten gebe, "dass Sie und Gretel wirklich grossbürgerlich leben können"), allerdings Horkheimer. Dieser hatte nun die taktisch-finanziellen Notwendigkeiten und Möglichkeiten des Instituts zu beachten. Wie problematisch die angeblichen (oder echten) Institutsbedürfnisse mit den tatsächlichen Bedürfnissen der 'Kandidaten' zu vereinbaren waren, zeigte besonders der 'Fall Kracauer', der in diesem Briefwechsel breiten Raum einnimmt. Den alten Freund aus frühen Frankfurter Zeiten, der sich in Paris nur mühsam über Wasser halten konnte, hielt Adorno für einen schwierigen Charakter, den man aber dennoch für das Institut nutzen konnte, wenn es nur gelänge, ihn zu disziplinieren. Doch der eigenwillige Kracauer empfand dergleichen Absichten als unwürdige Abhängigkeit. Folgerichtig suchte er auch anderweitig nach Stipendien und Unterstützungsmöglichkeiten. In einem Brief vom 23. November 1936 interpretierte Adorno Kracauers Verhalten als "narzißtische Aggressionen" gegen ihn, Adorno, und er unterstellte ihm "Verfolgungsideen", weil er sich vom Institut zurückgewiesen fühlte. Auch Horkheimer missfiel Kracauers Störrigkeit, wie er in einem Brief vom 11. Januar 1937 ausführte: "In der Angelegenheit K. habe ich nicht bloss meine Affekte aus früheren Anlässen unterdrückt, sondern auch solche aus jüngerer Zeit. Wir haben K. niemals die geringste Unbill zugefügt und ihm trotz des geringen Entgegenkommens [...] auch in den letzen Jahren wiederholt unserer Zusammenarbeit angeboten. Trotzdem hat er sich nicht an uns, sondern an andere gewandt." Gerade das aber verletzte das elitäre Bewusstsein der philosophischen Avantgarde.
Anders lag der Fall bei Walter Benjamin. "Benjamin", so schrieb Horkheimer am 22. Januar 1936, "ist einer der wenigen Menschen, die wir um ihrer Denkkraft willen nicht zugrunde gehen lassen dürfen." Infolgedessen war er bemüht, ihm durch Aufträge des Instituts Mindesteinkünfte zu ermöglichen. Doch die Auftragsarbeiten zogen Energie ab vom "eigentlichen chef d'oeuvre Benjamins", dem "Passagenwerk". Adorno hielt dies für eine "geniale Konzeption", eine "Sache von der denkbar größten theoretischen Tragweite". Und weiter schrieb er am 8. Juni 1935: "ich glaube, wir könnten es nicht verantworten, wenn wir nicht alles versuchen wollten, wenn einmal uns wirklich eine Produktivkraft von dieser Gewalt begegnet - die schließlich auch wir, durch unsere Produktionsverhältnisse, nicht fesseln sollten." Doch die produktive Freiheit für Benjamin ließ sich letztlich nicht verwirklichen. Benjamins Lebens- und Arbeitsbedingungen verschlechterten sich bis zu seinem tragisch missglückenden Fluchtversuch vor den deutschen Besatzern, bei dem er sich 1940 das Leben nahm.
Zu diesem Zeitpunkt war Adorno längst in Amerika. Im Verlauf des Jahres 1937 war es mit Hilfe des Instituts gelungen, ihm und seiner Frau Gretel ein Einreisevisum für Amerika zu verschaffen. Am 24. Dezember 1937 schrieb Horkheimer dem Erwarteten: "Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie sehr ich mich auf Ihre Ankunft freue." Und auch dies noch: "Der Umstand, dass wir in ständigem Kontakt bleiben, wird nicht ausschließen, dass Ihr Leben auch weiterhin die Existenz eines selbständigen Theoretikers sein soll ... Der Unterschied gegen andere Existenzen besteht darin, dass Sie dabei mit einer vorläufig noch nicht ganz machtlosen Institution in fester Solidarität verbunden sind. Dass diese nach besten Kräften und bestem Wissen gehalten wird, das kann ich Ihnen zum neuen Jahr erneut versprechen."
Damit endet dieser kompetent kommentierte erste Band des Briefwechsels, der durch einige weitere Briefe an Dritte, Gutachten und Memoranden sinnvoll ergänzt wird.
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