Der allgegenwärtige Teddie
Theodor W. Adorno zum Hundersten
Von Johan Frederik Hartle
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAdorno im Museum
Seit einigen Wochen lässt sich im Feuilleton der großen Zeitungen beinahe täglich über den Jubilar lesen: In diesem Jahr, am 11. September, wäre Theodor W. Adorno 100 Jahre alt geworden. Lange Jahre war Adorno nicht mehr der Held des Feuilletons. Jetzt, für einen kurzen Augenblick, ist er es wieder. Eine denkbar große Welle von Würdigungen wird ihm noch einmal zuteil. Zugleich wird dabei in einer spöttischen und vereinnahmenden Intimität - überall ist nur noch von "Teddie" die Rede - über ihn verfügt, als würde er im Grunde keine Herausforderung und kein Geheimnis mehr darstellen. Das Entwürdigende solcher falschen Intimität geht auf Kosten des Gehalts: Über "unseren Teddie" wäre eben nichts Neues mehr zu sagen. Ferner war es gerade jenes Moment der Distanzlosigkeit, des Zu-Leibe-Rückens, gegen das seine intellektuelle Biographie ein sensibles Exempel statuiert. Deswegen sind es zumeist jene, die über ihn als "Teddie" schreiben, die sich für sein Werk überhaupt nicht mehr interessieren.
Vereinnahmung und Verniedlichung sind zentrale Eigenschaften der Musealisierung, die nun auch Theodor W. Adorno widerfährt. Eine kontroverse und kritische Adorno-Aneignung, die sich an seinem Werk noch heute entzünden könnte, bringen sie nun gerade nicht zum Ausdruck. Der allgegenwärtige "Teddie" des Feuilleton erscheint daher schnell als der wahrhaft tote Adorno - ein Stück Bildungsgeschichte und nicht mehr.
Diese Musealisierung führt auch buchstäblich ins Museum. In Zürich wurde gerade eine Adorno-Ausstellung eröffnet, wo man beispielsweise ein kleines Nilpferd sehen kann, das vielleicht einmal auf seinem Schreibtisch gestanden hat. Auch die Spitznamen, die man sich im intimsten Umfeld Adornos gab, kann man dort erfahren. Ein Haufen Bilder lässt sich betrachten und vielleicht führt das alles dazu, dass Adorno am Ende auch gelesen wird. Alle Meister der Didaktik beginnen mit bunter Kreide. Adornos Sache war solche Didaktik nicht. Und als besonders naheliegend erscheint dieser Weg zu Adorno auch nicht - vorausgesetzt, es ist von dem Adorno die Rede, der uns heute in seinen Schriften noch gegenwärtig ist. Denn in der musealen Vitrine erscheint der Intellektuelle wohl auch ein bisschen wie ein Freak, zumindest aber als längst verstorben. "Tod im Museum", das wäre der naheliegende Titel einer Kriminalgeschichte der "intellectual history", in der Adorno ein neues Kapitel erhält.
Entgegenzusetzen wäre dem ein intellektueller Gestus, der Adorno selbst zeitlebens kennzeichnete. Als ein streitbarer Intellektueller, dessen Kritische Theorie sich auch als kritischer Eingriff in den gemütlichen Alltag verstand, so wäre er nur eben auch dadurch angemessen zu würdigen, dass er erneut in Anschlag gebracht, dass geltend gemacht würde, wofür er stand, und sei es in kritischer Fortführung. Choräle gemütlichen Einvernehmens waren seine Sache nicht. Es bleibt zu fragen, warum und für wen dieser Aufwand des Gedenkens. Welcher Adorno und warum Adorno? Und es bleibt zu fragen, wie bequem Adorno wirklich ist, wenn man ihn bis an die Grenzen liest. Nicht selten wird er derzeit auch von konservativen Politikern und Journalisten zur "Chefsache" erklärt. Sollte Adorno heute allerdings nur noch bequem sein, so dürfte er, - gemessen an seinem eigenen Anspruch - auch im Regal stehen bleiben.
Doch einen Schritt zurück. Denn einiges am Einvernehmen ist stichhaltig. Trotz aller Tendenz zur Musealisierung hat der erinnernde Blick auf Adorno einen naheliegenden Sinn. So wie es sein eigener Anspruch war, Gesellschaft im Medium der Erfahrung zu erschließen und im Individuum im doppelten Wortsinn eine Reflexionsform des Sozialen zu erkennen, so steht nun auch seine Biographie für mehr als nur sich selbst. Das zeigt auch die mediale Aufmerksamkeit, die Adornos 100. Geburtstag vorausgeht. Immer wieder wird darauf hingewiesen, wie sehr sich in der Biographie des Intellektuellen ein ganzes Jahrhundert verdichtet, inwiefern auf kultureller ebenso wie auf politischer Ebene sein Leben und Werk exemplarisch ein "Zeitalter der Extreme" (Eric Hobsbawm) reflektiert. Nahezu alle Kommentare, Porträts und biographischen Äußerungen weisen darauf hin, und sie weisen zu Recht darauf hin.
Denn Adorno war wie kaum ein zweiter an den kulturellen Produktionen des 20. Jahrhunderts beteiligt. Die Liste seiner (nicht immer nur glücklichen) intellektuellen Beziehungen liest sich wie ein who is who der kulturellen Moderne: Bei Alban Berg hatte er studiert, Hanns Eisler, Bertolt Brecht und Fritz Lang zählten zu seinem engeren Umkreis im amerikanischen Exil, wo er mitunter auch bei Charlie Chaplin zu Gast war. Mit Thomas Mann verband ihn in Kalifornien eine enge Arbeitsbeziehung, ohne die der "Dr. Faustus" so nicht geschrieben worden wäre. Samuel Beckett und Paul Celan war er begegnet. Er stand in gutem Kontakt mit Marieluise Kaschnitz und Ingeborg Bachmann. Die Liste der Intellektuellen, die seinem engeren intellektuellen Milieu angehörten, liest sich kaum weniger eindrucksvoll: Walter Benjamin, Ernst Bloch, Siegfried Kracauer, Herbert Marcuse, Leo Löwenthal und allen voran Max Horkheimer - sie waren seine Weggefährten. Eine weitere Liste wäre anzuschließen - die Liste der Schüler, die von Adorno und dem kritischen Denken, für das er stand, geprägt wurden. Auch diese Liste wäre eindrucksvoll. Nur führte sie nahezu ins Unendliche. Adorno bildet einen Knotenpunkt der kulturellen Moderne, schon aus biographischen Gründen.
Und Adornos Biographie steht ferner inmitten der historischen Kämpfe und Katastrophen, die das zwanzigste Jahrhundert gezeichnet haben. Seine Biographie ist unweigerlich und von Beginn an eine politische, wenn er auch im engeren Sinne nie als politischer Marktschreier oder Funktionäre aufgetreten ist. Doch das Dickicht der gesellschaftlichen Erfahrungen hat kaum anderes als eine Kritik im Handgemenge ermöglicht, an der seine Philosophie ihren Lebensnerv haben sollte.
Adorno wuchs im gebildeten bürgerlichen Milieu der Freistadt Frankfurt auf, lernt als hochbegabter Sohn des getauften Juden Oskar Wiesengrund früh die - wie er es nannte - "Rancune" des Mobs kennen, halb unverständiges Ressentiment gegenüber dem Musterschüler, halb jedoch schon der antisemitische Hass auf das Anderssein. Mit Distanz zum Militarismus vermerkte der noch nicht Dreizehnjährige in seinem Tagebuch aufmerksam die Entwicklungen des Ersten Weltkrieges, schrieb immer wieder den Wunsch dazu, er möge doch aufhören.
Als junger Mann fühlte sich Adorno dem sowjetischen Sozialismus verbunden, dessen Entwicklung er aus der Distanz verfolgte, den er jedoch auch, spätestens mit den Moskauer Schauprozessen der Jahre 1936-1938, scheitern sah. Die antifaschistischen Exilanten stritten leidenschaftlich darüber. Die Debatten über die Sowjetunion sind ein Brennpunkt der Intellektuellengeschichte, dem häretischen Marxisten Adorno waren diese Auseinandersetzungen nicht fern.
Den Nationalsozialismus erlebte Adorno über ein Jahr lang in Deutschland selbst, während sämtliche Kollegen vom Institut für Sozialforschung Hitler-Deutschland bereits 1933 verließen. Unmittelbar wurde ihm seine noch junge venia legendi entzogen. Ängstlich und nicht ohne Naivität suchte er nach Möglichkeiten einer intellektuellen Karriere - zunächst sogar in Deutschland, seit 1934 dann jedoch im englischen, dann im amerikanischen Exil. Erst nach der ,Reichspogromnacht' 1938, bei der seine Eltern verhaftet wurden, gelang jenen über Kuba die Emigration nach Amerika. Noch im Exil hatte Adorno in dieser Weise an der Todesangst der in Europa Verbliebenen teil. Sie wurde exemplarisch noch einmal spürbar für ihn, als er die Nachricht vom Tod seines Freundes Walter Benjamin erhielt, der sich aus Angst vor der Gestapo das Leben nahm.
Der nationalsozialistische Völkermord war vielleicht für keinen Philosophen so prägend wie für Adorno. "Nach Auschwitz" - diese zwei Worte kennzeichnen sein Denken. Das Weiterleben nach der Menschheitskatastrophe, nach dem Scheitern der Aufklärung und mit ihr der hohen Traditionen der bürgerlich deutschen Kultur, an die Adorno glaubte und mit denen er von früh auf verbunden war, das war die intellektuelle Herausforderung, der sich sein Werk fortan zu stellen hatte. Die Verweigerung aller philosophischen Positivität, was zugleich Euphemismen wie auch positiv Benennbares bezeichnete, war seine Konsequenz aus dem "Zivilisationsbruch" (Dan Diner), den Auschwitz bedeutete.
Als eine Studentengeneration, die Generation der Söhne und Töchter von Tätern und Mitläufern, aufbegehrte, da stand Adorno wieder und eher unfreiwillig in vorderster Front. Frankfurt wurde zu einer Hochburg der Studentenbewegung, Adorno zu einem Fixstern am Ideenhimmel der Revoltierenden. Was Kritische Theorie bedeuten konnte, schien einen praktischen Sinn zu bekommen, denn Wesentliches, wogegen der Protest sich richtete, war zentral von Adorno benannt worden. Seine Faschismusanalyse war eine im Kern kapitalismuskritische, seine Analyse der bundesrepublikanischen Gesellschaft benannte antidemokratische und totalitäre Tendenzen.
Zu jeder Zeit hat Adorno durch die Kraft zur Distanzierung auch ein politisches Urteil wahren können, das über den Eifer der unmittelbaren Auseinandersetzung hinausreichte. So war Adorno, der kein Freund der revolutionären Ungeduld und des studentischen Aktionismus gewesen ist, noch über die Verantwortung für das Scheitern der Studentenbewegung erhaben. Denn seine Distanz verwies den Revolutionarismus auf Besonnenheit und auf die Mühen der Ebene, die der politische Kampf unter den veränderten Bedingungen Nachkriegsdeutschlands darstellte. Mehr als die meisten seiner Gegner, die ihn damals und heute als Antreiber der Studentenrebellion diffamieren wollen, war er der demokratischen Öffentlichkeit verpflichtet. Für sein Intellektuellendasein war sie das Habitat.
Sein Tod im August 1969 fällt noch mitten in die Hochphase der Studentenbewegung, deren weitere Entwicklung er nicht mehr verfolgen konnte. Und dennoch steht sein Leben, das sich auch hier mitten im Zentrum des zwanzigsten Jahrhunderts befand, im Zusammenhang mit der "Fundamentalliberalisierung" (Jürgen Habermas), die mit dem Signum "'68" verbunden werden kann. Sowohl die weitreichende Rezeption Adornos als auch das Fortwirken über seinen Tod hinaus, haben mit diesem historisch politischen Datum zu tun. Der "Marsch durch die Institutionen" trägt einen auch durch seine Schriften getragenen Emanzipationsgedanken in die Welt. Adornos Jahrhundert ist mit seinem Tod noch nicht beendet. Eben deswegen stellt sich 33 Jahre nach seinem Tod die Frage erneut: Was bleibt von seinem Leben und Werk als fortdauernder Gehalt als Tradition kritischen Denkens, an das weiterhin anzuknüpfen wäre?
Einer vollständigen Musealisierung scheint sich Adorno noch heute zu widersetzen. In den leisen Differenzen der Kommentare, der Biographien und Publikationen über Adorno wird deutlich, dass "Unabgegoltenes" (Ernst Bloch) in seinem Denken schlummert, das weiterhin als Zündstoff öffentlicher Kontroversen und kritischer Einwände fungieren könnte. Anders lassen sich allein die Unterschiede in der Wahrnehmung kaum erklären, die in den zentralen Biographien enthalten sind, die nun, anlässlich seines 100. Geburtstages, auf den Markt kommen.
Aus dem Nachlass heraus
Eine eigentümliche Perspektive nimmt selbst die vom Theodor W. Adorno-Archiv herausgegebene Bildmonographie ein, die in gründlicher Detailarbeit eine Reihe von veröffentlichten und unveröffentlichten Quellen zusammenstellt. Sie ist eigentümlich trotz ihrer archivarischen Gründlichkeit. Denn zweifellos verfügt das Archiv über einen schier unendlichen Reichtum an Hinweisen zu Adornos Leben, zur Entstehungsgeschichte seiner großen Schriften und ein ganzes Arsenal an unveröffentlichten Vorträgen, Aufsätzen und Korrespondenzen. Zweifellos ist auch die Bildmonographie ein Zeugnis der detaillierten, historisch und philologisch strengen Arbeit am überlieferten Material, die im Archiv geleistet wird. Tagebucheintragungen, Notizen sowie einige unveröffentlichte Briefe sind die entscheidenden Dokumente, die dem Buch seinen Reiz geben.
In der Bildmonographie werden Freundschaften konturiert und intellektuelle Begegnungen und Auseinandersetzungen dokumentiert. Vor allem aber treten das zweifellos bemerkenswerte intellektuelle Profil Adornos und seine außerordentliche Begabung in den Vordergrund. Der hochbegabte junge Adorno wird durch das montierte Material einerseits plastisch, ohne dass ihm andererseits allzu sehr (und allzu spekulativ) auf den Leib gerückt würde. Was über ihn zu erfahren ist, ist bemerkenswert: Zwölfjährig analysiert und kommentiert er sprachgewandt Goethe und Eichendorff. Dreizehnjährig schreibt er einen seitenlangen Kommentar zu Wagners Opern, die er teils "blödsinnig" findet. Mit 18 veröffentlicht er seine erste Musikkritik in einer Fachzeitschrift. Auch eine Tendenz zur Vergeistigung und zur Altklugheit lässt sich zwischen den Zeilen ablesen - etwa in der Selbstanalyse frühen erotischen Begehrens, die Adorno in seinem Tagebuch gibt.
Die Kommentare der Herausgeber sind exakt und zurückhaltend. Sie ordnen und leiten ein. So halten sie selbst die nüchterne Distanz ein, die schon durch die schlichte Montage des Materials gegeben ist. Interessant und eben eigentümlich ist dabei jedoch der Sprachgestus, der selbst von einer intensiven Auseinandersetzung - und Identifikation? - mit Adorno zeugt. Da ist einmal die Rede davon, dass Adorno der "Erbsenzählerei der sogenannten musikalischen Analyse" "nicht minder abhold" gewesen sei als Schönberg. Jeder Adorno-Leser wird dabei den Ton des Meisters (und seiner Epigonen) im Ohr haben, der schon in den sechziger Jahren antiquiert geklungen haben muss. Auf der anderen Seite heißt es einmal ganz salopp, dass Adorno nun "sein Abitur in der Tasche" habe. Und so wiederholt sich im sprachlichen Gestus der Kommentare eine Spannung zwischen altklugen Wortgesten und spontaner Einfachheit der Sprache, wie sie auch und gerade Adorno selbst gekennzeichnet hatte.
Als weniger zurückhaltend und nicht immer als ganz überzeugend treten die Herausgeber in der Wahl des Materials und der Ordnung des Buches hervor. Weitgehend rekonstruiert der Band anhand des Archivmaterials den Lebensweg Adornos und (nicht immer nur chronologisch, sondern durchaus auch thematisch) seine entscheidenden Stationen und Begegnungen. Mitunter jedoch werden thetisch Gedanken Adornos ins Spiel gebracht, deren herausragende Stellung aber nicht immer einleuchtet. So finden sich etwa zwischen den biographischen Abschnitten "Auf Kuba" und "In Kalifornien" - teils abgedruckt, teils in Paraphrase - Äußerungen zu George und Hofmannsthal, die erstens keinen herausgehobenen biographischen oder systematischen Stellenwert für Adorno gehabt haben und zweitens noch nicht einmal dem Schatz des unveröffentlichten Materials angehören. Hier scheint es, als würden die Herausgeber heimlich mit einem eigenen systematischen oder publikationspolitischen Interesse auftreten. Es bleibt uneindeutig.
Intelligent haben die Herausgeber ergänzende Dokumente eingeflochten, in denen etwa Gedanken Adornos vorweggenommen sind (etwa im "Grünen Heinrich" von Gottfried Keller) oder seine Weggefährten noch einmal plastischer hervortreten - wie etwa in einem Brief des Lehrers von Adorno an Paul Natorp. Durch solche Dokumente, aber auch durch das nützliche Beiwerk einer übersichtlichen Chronologie zu Leben und Werk hat das Buch einen sehr anschaulichen Charakter. Es ist zweifellos ein nützliches Buch, sowohl für den ersten biographischen Blick auf Adorno, als auch für den zweiten, nachschlagenden sowie für einen professionellen, der auf Details zurückgreifen möchte, die bislang noch unveröffentlicht waren.
Insgesamt tritt in der Bildmonographie leise der Anspruch hervor, Adorno eben doch noch einmal geltend zu machen, zur Geltung zu bringen (ohne ihn eben nur zu archivieren) - gerade so, als könnte der Nachlass, als könnte Adorno vermittels seiner Bildmonographie noch einmal Funken schlagen. Doch dieser Anspruch weist schon über das Buch hinaus.
Dreimal Heimat
Einen völlig anderen Blick auf Adorno wirft das im Insel Verlag erschienene Bändchen "Kindheit in Amorbach". Amorbach ist der im bayrischen Odenwald gelegene Ferienort, in den es die Familie Wiesengrund regelmäßig zog. Das "Hotel Post", der Berg namens "Wolkmann", sie waren für Adorno mit Erfahrungen verbunden, an die er, nach eigener Auskunft, bis an sein Lebensende heranschrieb. Adorno hat jenen Ort immer wieder aufgesucht. Die Kindheit einzulösen, beschrieb er einmal als sein Programm.
Das Buch "Kindheit in Amorbach" besteht aus Texten Adornos, Notizen und Bemerkungen, vor allem aber aus dem Prosatext "Amorbach", der in den "Gesammelten Schriften" bereits veröffentlicht war. Mit einer leicht surrealistischen Tendenz ist dieser Blick zurück auf den Ort gerichtet, den Adorno Zeit seines Lebens als Inbegriff der Kindheitsidylle betrachtet hat, getragen von der utopischen Sehnsucht, die sich mit dem kindlichen "Urvertrauen" (Alexander Kluge) in die Welt verbindet. Er zehrt ebenfalls von einem spielerischen Zug in Adornos Denken, für den Kindheit ein Mittel zur Distanzierung von der schlechten Erwachsenenwelt war. Walter Benjamin mag hierin mit seiner Affinität zum kindlichen Blick Adornos Vorbild gewesen sein.
Doch was bei Walter Benjamin, etwa in "Berliner Kindheit um 1900" vorwiegend verfremdend und auch stark nach Aura und Magie klingt, erscheint in Adornos Entwurf "Amorbach" immer wieder als allzu idyllisch. Er selbst hielt den Text aus eben diesem Grunde für "sehr gewagt". Aber "Kindheit in Amorbach" ist dennoch oder gerade deswegen ein schönes Buch. In gewisser Weise ist es ein typisches, leicht zu lesendes Insel-Büchlein, das in gewohnter Verlagstradition die Nähe zur gebildeten und philosophischen Tradition hält, ohne dabei jedoch bitter und schwer zu werden. Schön ist das Büchlein dabei auch nicht zuletzt deswegen, weil es mit einer Reihe von Bildern versetzt ist, durch deren Montagecharakter der fragmentarische Charakter der Erinnerungen Adornos (den der Erinnerung überhaupt?) unterstrichen wird. Effektiv zu lesen gibt es in dem Büchlein wenig und alle Textpassagen klingen, als kämen sie aus einer allzu vertrauten und doch fernen Welt.
So sprechen aus dem Buch Bilder und Sprachbilder nicht nur irgendeiner Kindheit, sondern Bilder der je eigenen Vergangenheit und die tragische Sehnsucht nach dem Vergangenen. Vermutlich ist das idyllische Moment an "Amorbach" zugleich das poetische. Nostalgie und das tragische Begehren der ästhetischen Einstellung gehen ein Bündnis ein. Wollte man das Buch dabei als ein Stück Heimatliteratur bewerten, dann wäre es eine schöne Re-Definition dessen, was Heimat sein könnte: Sie wäre kein Ort, sondern das Ensemble von unausgeschöpften Ressourcen an Urvertrauen und Sehnsucht.
Amorbach ist auch der Name für eine familiäre Konstellation, aus der Adorno hervorgegangen ist. Die Beziehungen innerhalb der Familie sind nachzuvollziehen in einem nun veröffentlichten Briefband. Adornos "Briefe an die Eltern" wurden nun ebenfalls vom Theodor W. Adorno-Archiv herausgegeben. In den Briefen spiegelt sich noch der Rechenschaftswunsch des erwachsenen Adorno, des hochbegabten Sohnes. Er berichtet emsig von den neuesten Projekten und Begegnungen mit Hanns Eisler oder Thomas Mann. Auch von Exilanten-Parties und Liebesaffären erzählt er seinen Eltern. Das sagt einiges über das Eltern-Kind-Verhältnis, über das man in den Briefen möglicherweise mehr erfahren kann als man unbedingt wissen muss. Zwischenzeitlich, aber eben nur zwischenzeitlich enthalten die Briefe starke politische und philosophische Statements - "über den Zusammenbruch der Form von Kultur, die seit der Völkerwanderung in der Welt gelebt hat" (Brief vom 20. 5. 1940).
Ohnmacht und Wut auf den Nationalsozialismus steigern sich im Exil bei Adorno bis zum Sadismus. Rachefantasien finden sich in seinen Briefen ausformuliert. Den "Millionen von Utes und Hansjürgens" im faschistischen Deutschland wünscht er förmlich, dass sie untergehen mögen und auch sein Onkel Louis Prosper Calvelli-Adorno kommt nicht gut weg. Todeswünsche und die Empfehlung an eine Frau namens Elisabeth, sie möge doch "Nutte" werden (Brief vom 23. Juli 1940) unterbieten den guten Geschmack um einiges. Gemeinsam mit den tierischen Kosenamen, die in der Familie Wiesengrund zirkulieren, gibt das ein unerfreuliches Bild, das Ganze hat einen fahlen Beigeschmack. Der hochbegabte und von seinen Eltern zeitlebens wie ein Prinz verehrte Adorno zeigt sich von einer infantilen und durchaus zweifelhaften Seite. Beinahe erscheint es unverschämt, Adorno hier noch zu zitieren.
Da zudem auch das sprachliche Niveau nicht an die große Prosa Adornos heranreicht, die sich anderswo - durchaus auch in seinen Briefen etwa an Benjamin oder Kracauer - findet, stellt sich die Frage, wer den Einblick in die Familiensphäre der Wiesengrunds nötig hat. Der Briefband lässt die Frage offen. Der zum Voyeur gewordene Leser darf abstrahieren: Zeugnisse wovon sind diese Briefe? Und so wäre erneut die Frage zu pointieren: Welcher Adorno bedarf der Überlieferung? Dieses Stück Heimat jedenfalls - die familiäre Konstellation Adornos - findet in den Briefen keine Form, die als ein Stück Kultur der Überlieferung wert wäre. Unverständlich, dass die sonst oft rigide Publikationspolitik des Adorno-Archivs und der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur hier nicht zurückhaltender operiert hat.
Neben der familiären, wie sie in den Briefen aufscheint und der kindlich sehnsüchtigen, die sich mit "Amorbach" verbindet, findet noch ein drittes Stück Heimat in einer neuen Veröffentlichung Ausdruck: Adornos intellektuelle Heimat in der Suhrkamp-Kultur. Denn der Intellektuelle Theodor W. Adorno lebte in seinen Schriften. Und seine Schriften hatten im Suhrkamp Verlag ein ganz hervorragendes Zuhause gefunden.
Der aktuell erschienene Briefband "Adorno und seine Frankfurter Verleger" dokumentiert die Korrespondenz Adornos mit seinen Verlegern Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld. Dieser mit knapp 400 Briefen über 700 Seiten starke Briefband hat seinen ganz eigenen Reiz. Er ist ein Dokument der eingehenden Beziehungen, die vor allem Peter Suhrkamp (Adorno hat ihn verschiedentlich auch in Texten gewürdigt) zu seinen Autoren pflegte. Von herausragender Herzlichkeit war das Verhältnis Adornos zu seinem Verleger, umfassend spiegelt sich sein intellektuelles Schaffen in dem Briefwechsel. Und auch mit Siegfried Unseld reicht die Korrespondenz über die vielfachen zu klärenden Formalitäten (die allerdings teilweise selbst inhaltlichen Charakter gewinnen) hinaus.
Freilich dominieren die technischen Belange der Verlagsarbeit den Briefwechsel. Doch als ein Stück Verlagsgeschichte der BRD und damit auch ein Stück Geschichte der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit und ihrer (in diesem Fall sehr erfreulichen) Produktionsbedingungen ist das Buch von großem Interesse. Für den Suhrkamp Verlag ist das Buch zudem ein durchaus legitimes Stück Reklame.
Für das engere Interesse an Adorno und seines intellektuellen Wirkens ist eine Reihe von Einzelheiten interessant, die man hier und dort erfahren kann. Neuauflagen, geplante Übersetzungen - das Spektrum der schriftstellerischen Wirksamkeit Adornos wird in den Briefen anschaulich. Darüber hinaus treten nicht nur Adornos Engagement für die Veröffentlichung Walter Benjamins und die Entwicklung eines ersten Plans zur Veröffentlichung von dessen Schriften hervor. Und nicht nur die exakten Summen, die Adorno vom Suhrkamp Verlag in den einzelnen Jahren für seine Texte erhielt, sind zu erfahren. Auch das weitreichende intellektuelle Kontaktnetz, das Adorno um sich spannte, erhält durch den Briefband eine besondere Plastizität. So ist es etwa Siegfried Unseld, der Adorno 1958 den Kontakt mit Samuel Beckett vermittelt. Ferner erfährt man etwa von der Beteiligung Adornos - der sich in so vielen Belangen, die vor allem die Studenten an ihn herantrugen, vor Unterschriftenaktionen drückte - an einem von Siegfried Unseld weitergeleiteten Aufruf, der die Niederschlagung des Prager Frühlings verurteilt. Eine Reihe von Details wird so anschaulich.
Auch der manchmal zumindest unterschwellig intrigante Adorno lässt sich anhand der Briefe studieren. Einmal (am 23. Mai 1957) wettert er über Brecht, der "von der marxistischen Theorie wirklich keine Ahnung gehabt" habe und "über sie nur aus zweiter Hand, und nicht der reinsten, informiert" gewesen sei. Das darf man für fragwürdig halten, zumal, wenn mit der unreinen "zweiten Hand" Karl Korsch gemeint war, der seinen Marx nun wahrlich gelesen hatte. Ebenso klingen die Zeilen im Brief (vom 10. November 1958) über die "Märchenerzählerei des Gedankens", die den Gestus von Ernst Bloch bestimme. Eigenartig sind solche Zeilen an den mächtigen Verleger vor allem deswegen, weil sie einen publikationspolitischen Beigeschmack haben. Konnte Adorno mit der Präsenz Brechts und Blochs in der literarischen Debatte der Bundesrepublik ein ernsthaftes Problem haben? Oder war die Korrespondenz mit Peter Suhrkamp bereits so vertraut, dass seine Kommentare sich schon nicht mehr als Kommentare des publikationspolitischen Wirkens seines Verlags verstehen lassen?
Als spontaner und impulsiver Autor tritt Adorno hervor, weil er seinem Verleger immer wieder auch Schriften ankündigt, die dann doch nicht geschrieben wurden. Ein "Fragment über epische Vernunft" hätte aus dem "Odysseus-Kapitel" der Dialektik der Aufklärung extrapoliert werden sollen (Brief vom 31. Januar 1958) und auch zum Buchprojekt "Mit den Ohren gedacht" (u. a. im Brief vom 30. Juli 1958) kam es nie. Solche Passagen lassen Adorno als den unvollständigen und ergänzungsbedürftigen Autor hervortreten, unter dessen Werk heute zu schreiben wäre, was er selbst unter das "Kulturindustrie-Kapitel" der "Dialektik der Aufklärung" schrieb: "Fortzusetzen".
Eine unendliche Geschichte: Adorno und der Zeitgeist
Trotz aller Würdigungen, die Adorno derzeit widerfährt, müsste man dabei mit Widerständen rechnen. Adorno ist noch immer nicht Zeitgeist und kann es gar nicht sein. Insbesondere an der Biographie Lorenz Jägers, Feuilleton-Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, kann man die Gegenreaktionen, die Adorno beim politischen common sense auslöst, noch einmal studieren.
Jäger nennt seine Biographie eine "politische Biographie" und man kann darüber spekulieren, was damit gemeint ist. Denn dass Adornos Biographie zu jeder Zeit politisch war, in politische Auseinandersetzungen verstrickt und dem zeitgeschichtlichen Geschehen unterworfen, das liegt nun auf der Hand. Keine Biographie würde das bestreiten oder verschweigen. Doch bei Jäger scheint etwas anderes gemeint zu sein: seine Biographie richtet nicht nur ihr Augenmerk auf solch politische Momente eines Intellektuellendaseins. Sie ist selbst politisch motiviert. Sie steht dem Projekt einer kritischen Gesellschaftstheorie, soviel sei vorweggenommen, dabei nicht sehr freundlich gegenüber.
Die wesentliche Kritik richtet sich darauf, Adorno sei zeitlebens unkritisch den theoretischen Paradigmen von Psychoanalyse und Marxismus verbunden gewesen. Allerdings versteht man den Autor falsch, wenn man damit eine Anregung zur immanenten Kritik und Weiterführung von Marx und Freud verbindet, so wie es wohl im Sinne Adornos gewesen wäre. Jäger möchte die zwei großen Kinder der "Hermeneutik des Verdachts" (Paul Ricœur) gleich mit dem Bade ausschütten. Von Solidarität mit der Kritischen Theorie Adornos finden sich in seinem Buch nur sehr wenige Spuren.
Die Biographie verfolgt den Weg Adornos wesentlich in Form von Detailskizzen und Anekdoten. Sie pflegt einen bissigen feuilletonistischen Stil. Neben Adorno selbst werden dabei immer wieder auch seine Weggefährten, Mentoren und Impulsgeber beschrieben. Bloch, Lukàcs, Kracauer und Horkheimer erhalten ihre je eigene Physiognomie. Karikaturen sind es, denen man so begegnet. Und man muss dem Autor dabei zugestehen: bisweilen liest sich seine humorvolle Biographie sehr gut. Er hat ein Gespür für das, was uns heute als befremdlich erscheint und filtert es heraus. Belächelt wird so Adornos naiver Aufruf zur Unterstützung Ernst Blochs, der Adorno in einem Brief - märchenhaft übertreibend - geschrieben hatte, er sei nun in Amerika zum Tellerwäscher geworden. In Jägers Darstellung erscheinen einige Momente in Adornos Biographie als absurd. Zugegeben, ein Schmunzeln kann man sich bei dieser Lektüre manchmal nicht verkneifen.
Gerne greift Jäger auf gehässige Kommentare von Zeitgenossen zurück, ungeachtet ihres dokumentarischen Werts. So werden dankbar die spitzen Äußerungen Soma Morgensterns über seinen Intimfeind Adorno zitiert, die selbst deutlich von gekränkter Eitelkeit gezeichnet waren. Und auch Romane werden ungebrochen herangezogen, etwa Kurt Mautz' "Urfreund" oder - zur Stigmatisierung von Georg Lukàcs - der "Zauberberg", gerade so, als sei mit den literarischen Überzeichnungen, die sich mittelbar auf historische Personen beziehen, doch letztlich alles über jene gesagt. Fiktion und Dokument gehen in Jägers Buch ein polemisches Bündnis ein. So schlägt die karikaturistische Geste des Biographen leicht in eine unfaire, hämische und durchaus arrogante Haltung um.
Die wahre Artistik des Autors besteht in der Syntheseleistung, alle erdenklichen Zeugen gegen Adorno aufzubringen, auch wenn sie sich zueinander noch so widersprüchlich verhalten. So ist ihm, um den freischwebenden Intellektuellen zu kritisieren, der spöttische Brecht ein willkommener Gewährsmann, während zur Einschätzung des Kommunismus zugleich Ernst Nolte zitiert wird. Eine konsistente Position bringt der Autor damit nicht zum Ausdruck. Möglicherweise ist es allerdings gerade diese Unterschiedslosigkeit, die er dem Zeitalter der "Ideologien" voraushaben will.
Besonders widersprüchlich ist das Verhältnis des Autors zur analytischen Sozialpsychologie. Denn einerseits richtet sich seine Kritik vehement gegen die, wie er es nennt, "Pathologisierung der Mitte" durch eine psychologische Theorie, die sich gesellschaftskritischer Kategorien bedient. Fehlfunktionen des Politischen psychologisch zu individualisieren erscheint ihm als unzulässig. So heißt es über die "Studien zum autoritären Charakter": "Psychoanalyse wurde zum Mittel, scheinbar wissenschaftlich etwas über das normativ Erstrebenswerte und Pathologische in der Politik zu sagen. Künftig sollte man nicht nur reaktionär sein, sondern damit zugleich auch irgendwie seelisch problembehaftet: Eine Art Inquisition des zwanzigsten Jahrhunderts war entstanden." Der kritische Einwand ist durchaus berechtigt. Denn der Ort, von dem aus pathologisiert wird, ist allemal fragwürdig, kann er doch selbst kein Außerhalb der "falschen Gesellschaft" für sich in Anspruch nehmen. Und auch die technokratische Engführung von Politik mit dem wissenschaftlich Wahren (hier: der Psychoanalyse) muss uns heute als zweifelhaft erscheinen.
Seltsam nur, dass Jäger, der die psychologische Pathologisierung politischer Positionen kritisiert, mit seiner Biographie eben dieses Geschäft betreibt. Immer wieder werden nämlich in seinen Charakterstudien kritischer Theoretiker Neurosen benannt, die zugleich auch das politische Urteil über den Gehalt ihres Wirkens begründen sollen. Exemplarisch findet sich das am Beispiel Erich Fromms. Dessen Kapitalismuskritik sei Ausdruck einer psychischen Disposition gewesen, die das Geldverdienen und Karrieremachen (was zwar nur Dilettanten als "Kapitalismus" benennen würden) gegenüber dem Bücherlesen gering schätzte. Buchstäblich heißt es über Fromm: "diese Neurose ist eine des Kapitalismus: Geldverdienen stand auf der einen, geistig wertvolle Beschäftigung auf der anderen Seite [...]."
Jägers Psychogramme von Neurotikern wollen immer auch Aussagen über den philosophisch-kulturellen Gehalt ihres Wirkens sein. Ein weiteres, besonders ärgerliches Beispiel dafür ist das Porträt Max Horkheimers. Dass jener durchaus autoritär gewesen ist, kann als bekannt gelten. Jäger sieht Horkheimers autoritäres Wesen vor allem in dem Wunsch nach einer hörigen Zuhörerschaft bestätigt. Und als Beleg dafür führt er Horkheimers Neigung zur öffentlichen Rede an: "Seine Präsenz seit den fünfziger Jahren war vor allem eine des mündlichen Wortes: auf Vorträge und Ansprachen, Rundfunkreden, Diskussionen, Interviews, Vorlesungen und Seminare ging der überwiegende Teil seiner Publikationen zurück." Mit der Benennung der autoritären Züge Horkheimers ist damit unterschwellig auch ein Urteil über die gesellschaftliche Präsenz eines Intellektuellen (möglicherweise sogar von Intellektuellen überhaupt) gegeben. Ein leicht antiintellektualistisches und letztlich politikfeindliches Ressentiment kommt darin zum Ausdruck: Es soll keine Einmischung geben.
Die entscheidende Denkblockade Jägers, in der seine politischen Urteile wurzeln, mag jedoch darin bestehen, dass er Kapitalismus nur mit freier "Marktwirtschaft", mit "Geld verdienen" und "Karriere" verbindet, nie aber dessen Herrschaftscharakter begreift. An dem wahrhaft politischen Interesse der Kritischen Theorie schreibt seine "politische Biographie" daher vorbei. Dass es Kritischer Theorie und Marxismus in nuce um Herrschaftskritik ging, bleibt außen vor. Ihr kritischer Gehalt wird deutlich unterboten. Indem Jäger als naiv und illusionär, als ideologisch und abstrus denunziert, was eine ganze Intellektuellengeneration geprägt hatte, erweist er sich dadurch auch als ein schlechter Historiograph. Entfernte und scheinbar unverständliche Geschichten erzählt er, ohne ihren historisch-politischen Gehalt noch einmal zum Leben bringen zu können.
Daher könnte man letztlich auch sagen: Lorenz Jäger schreibt keine "politische" Biographie Adornos. Seine Biographie ist im strengen Sinne post-politisch, sie ist aus der Perspektive einer Zeit geschrieben, die von all den Auseinandersetzungen, von denen das Denken der Kritischen Theorie gezeichnet war, nichts mehr wissen möchte. Deshalb skandalisiert Jägers Biographie das Denken einer ganzen Epoche hämisch als "Ideologie" und allzu oft auch als neurotisch. Die Siegergeschichte des Liberalismus, der Jäger ein weiteres Kapitel hinzufügt, hat für Adorno keinen besseren Platz vorgesehen. Sie kommt dem Geist dieser intellektuellen Revolte trotz detailreicher Kenntnis nicht richtig nahe.
Indirekt allerdings vermittelt Jäger dadurch etwas von der Aktualität Adornos. Nicht nur, weil sie eine Abwehrhaltung deutlich macht, sondern vor allem, weil man sich fragen kann, ob die Frontstellung zwischen einem eingestanden uneingestanden liberalkonservativem Denken und Kritischer Theorie nicht Grund genug wäre, letztere wieder ausführlicher zu studieren.
Allein (mit) Adorno
Ganz und gar konträr zu Lorenz Jäger gibt sich Detlev Claussen alle Mühe, mit der Biographie Adornos noch einmal die geistige Erfahrung lebendig werden zu lassen, für die Adorno steht. Die Ausgangslage des Hannoverschen Soziologieprofessors, der selbst noch bei Adorno studierte, könnte von der des "F. A. Z."-Redakteurs kaum verschiedener sein.
Zugleich vereinen sich in Jäger und Claussen jedoch auch die Gegensätze. Beide denken Adorno nicht weiter. Und interessanterweise haben beide als Titelbild dieselbe Fotographie gewählt: das von Stefan Moses dirigierte Selbstbild Adornos vor dem Spiegel. Im Spiegel ist darauf der etwas ängstlich scheinende Adorno zu sehen, der den Auslöser selbst in der Hand hält. Rechts über seinem Kopf ist die Kamera erkennbar. Was jedoch bei Lorenz Jäger den Zerrspiegel oder Narzissmus, Verzerrung und eitlen Selbstbezug zu kennzeichnen scheint, zeigt im Kontext der Claussen'schen Biographie durchaus positiv Konnotiertes an. In Claussens Biographie geht es um Adornos Vita als Brennspiegel und Focus einer ganzen Epoche, um den kritischen Selbstbezug als Medium der allgemeinen soziologischen und philosophischen Reflexion. Claussen schreibt Adornos Vita gewissermaßen allegorisch. Ihm geht es um den objektiven Gehalt einer intellektuellen Biographie. Stärker noch als die anderen Biographien über Adorno ist Claussens Buch daher auch eine Sozialstudie des intellektuellen Milieus, dem Adorno angehörte.
Ausführliche Passagen zur Geschichte der Frankfurter Juden, zum Sozialcharakter etwa des Institutgründers Felix Weil und freilich zu den politischen Biographien der Weggefährten Adornos entfalten auf diese Weise ein Szenario, in dem Adorno noch einmal zum Leben kommen soll. Dabei widmet sich die Biographie essayistisch zentralen thematischen Komplexen, die mit Adornos Leben und Werk verbunden werden können. So werden Details hier und da in sehr schöner und anschaulicher Weise, die Adorno durchaus gerecht wird, als Signaturen ihres sozialen Kontexts gelesen. Das vierhändige Klavierspiel wird so zu einer Miniatur des bürgerlichen Familiendaseins, in der feinen und umhegten Form, wie sie Adorno wohl erlebt haben muss.
Wenn man so will, unternimmt Claussen also den Versuch, einen Meta-Adorno zu schreiben, Adorno mit Adorno anschaulich werden zu lassen. Dies nicht nur, weil ständig lange Zitate Adorno zu einer Art Souffleur dieser Biographie werden lassen, sondern auch, weil der Erfahrungsmodus, den Adornos Werk anzeigt, durch ihren Gestus noch einmal eingeholt werden soll.
Das anspruchsvolle Projekt einer Verschränkung von sozialtheoretisch pointierter Zeit- und Kulturgeschichte, motivisch gebundener Erzählung und systematischer Rekonstruktion Adornos ist allerdings ein Wagnis. Viele Gedankensprünge lassen den Text holprig werden und nicht immer stellt sich die erstrebte Einheit als ein plausibles Gefüge dar. Claussens Biographie gliedert sich zudem nicht chronologisch, sondern seine langen Essays bündeln eine Vielfalt von Themen und Porträts idiosynkratischer Unübersichtlichkeit, so dass deren Zusammenhang oft rätselhaft bleibt. Die ebenso andeutungsreichen wie unbestimmten Überschriften (etwa: "Der Identische", oder "Der Nichtidentische"), die eher hilflos als wahrhaft poetisch scheinen, ändern daran nichts. Säckeweise werden spontane Gedanken, Assoziationen und Begebenheiten niedergeschrieben. Und diese Säcke tragen rätselhafte Namen.
Was für die Einheit der Kapitel gilt, betrifft auch die bemühten Genres. Eingesprengte Dokumente und literarische Texte mischen sich zwischen die ohnehin schon heterogenen Texte. Adornos Vorbehalte gegen "die Logik des Zusammenhangs" scheinen hier allzu ernst genommen und zuletzt massiv nach einer Seite hin aufgelöst zu sein.
In einzelnen Betrachtungen streift der Autor - sehr selten - auch die schwächeren Momente in Adornos Biographie. Mitunter werden sie schöngeredet. Dass Adorno etwa seinen langjährigen Freund Hanns Eisler verleugnet, kennzeichnet Claussen nicht als Illoyalität oder politische Feigheit, sondern redet es als "Misstrauen gegen die DDR" und als "Angst vor der Labilität der Demokratie im Westen" schön. So klingt selbst dieses noch als weiser Zug eines schlechthin vorbildlichen Intellektuellen. Eben ein Genie.
Adorno, wie schon im Titel, als Genie zu präsentieren, ist der fragwürdigste Aspekt des Buches. Als Genial soll einerseits mit Adorno das "Offene, nicht in der Wiederholung Gefangene" bezeichnet sein, andererseits die "Fähigkeit, den menschlichen Kosmos oder einen Teil davon in einer Weise zu erschaffen, die bedeutsam war und die sich nicht mit irgendeiner früheren Wieder-Erschaffung vergleichen lässt". Für die Rechtfertigung eines so großen Begriffs, der das ganze biographische Projekt stützt, scheint beides zu wenig. Warum Adorno vor dem Hintergrund der weitläufigen Bestimmung nun auch noch "ein letztes Genie" gewesen sein soll, also quasi the one and only, ist vollständig unplausibel. Während der Geniebegriff (ohnehin ein zweifelhafter Rest subjektivistischen Denkens) unterbestimmt bleibt, treten die Prätentionen, die mit ihm angedeutet sind, nur allzu deutlich hervor.
So ist doch sehr offensichtlich, dass Claussen, der sich in ostentativer Nähe zu Adorno präsentiert, an der Aureole, die er Adorno aufsetzt, selbst massiv teilhaben möchte. Von sich selbst schreibt er unbescheiden, ihm sei es möglich gemacht worden, "das ganze 20. Jahrhundert im Medium der Erfahrung zu begreifen". Und was das heißt, das soll seine Biographie ja am Beispiel des angeblich "letzten Genies" demonstrieren. Claussens Buch ist, trotz seiner philologischen Nähe zu Adorno auch ein Buch über den Autor selbst.
Als besonderes Zeichen der Nähe zu Adorno mag man Claussens Zitierweise anführen. Alle Zitate Adornos (viele kommen gleich mehrmals vor), die in den Text eingelassen sind, sind lediglich kursiv hervorgehoben, fügen sich dadurch aber fast unmerklich in den geschriebenen Text ein. Mit ihrer Überprüfbarkeit und der Möglichkeit des Weiterlesens steht es indes schlecht. Ohne Seitenverweis oder Endnote sind die Quellen im Anhang einfach aufgelistet, so dass der interessierte Leser die Zitate einzeln zählen müsste, um zu ihrer jeweiligen Quelle zu finden. Einer erweiterten Adorno-Rezeption tut sein Buch daher keinen großen Gefallen. So kann man sich aber insgeheim auch fragen, ob Claussen seinen "Teddie" (immerhin hier scheint der Kosename einmal angebracht) letztlich wirklicher Publizität zugänglich machen, oder ob er ihn nicht lieber ganz für sich alleine behalten möchte. Ein eigenes Leben - mit allen Risken der Fehldeutung und der Fremdaneignung - gesteht er den Texten Adornos dadurch letztlich gar nicht zu. So enthält sein Buch auch eine Reihe von beleidigten Hinweisen auf Fehldeutungen. Und wörtlich schreibt er in ganz und gar pietistischer Frömmigkeit, dass nach "'68" nur diejenigen an Adorno festhielten, "die mit Adorno eine geistige Erfahrung im Sinne der 'Negativen Dialektik' gemacht hatten". Gepriesen seien die Auserwählten.
Es kann vor diesem Hintergrund nicht verwundern, dass Claussen auch en passant die Frage der legitimen Erbschaft kommentiert. Es geht um den Adorno-Kuchen. So heißt es apodiktisch über Habermas: "Jürgen Habermas ist nie ein Schüler von Adorno gewesen". Und weil er das betonen möchte, hängt Claussen als Dokument den sehr polemischen und (von Adorno eher zweifelnd kommentierten) Brief von Max Horkheimer an, in dem dieser sich sehr abfällig über den "Marxisten" Jürgen Habermas äußert. Kein legitimer Erbe also. Wer aber dann? Zur Verteidigung der eigenen, etwas orthodox anmutenden Position, dient ein zweites angehängtes Dokument. In diesem Brief (an Claus Behnke) schreibt Adorno, im Grunde keinen Anlass zu haben, "sich über meine sogenannten Nachahmer zu entrüsten". Das erhält in Claussens Biographie einen legitimatorischen Klang. Diese zwei selektiv angehängten Dokumente scheinen zum Thema alles zu sagen.
Das letzte Kapitel in Claussens Biographie trägt den Titel "Palimpsest des Lebens". Man möchte an ein Schrifttum denken, das durch philologische Schichtungen bis zur Unkenntlichkeit entstellt ist. Es klingt auch nach "Wiedergänger" und danach, auf Adornos Spuren noch einmal zu wandeln. Vor allem aber klingt es theologisch und insofern nach der immer neuen Auslegung einer überlieferten Schrift, danach, auf schon betretenen Pfaden zu wandeln. In Adornos Schuhen könnten sich jedoch möglicherweise noch andere Sphären erobern lassen, gerade dann, wenn mit ihnen weitergegangen würde. Es war Adorno selbst, der sich der Geste immanenter Kritik und der Einheit von Darstellung und Kritik verpflichtet fühlte. Claussen aber tut so - sein Literaturverzeichnis mag als Beleg hierfür gelten - als wäre mit Adorno schon alles gesagt.
Ein wahrhaft "wissenschaftliches" Porträt
Gegenüber all den anderen biographischen Neuerscheinungen nimmt sich Stefan Müller-Doohms Biographie als wahrhaft wissenschaftliche Biographie aus. Im Suhrkamp Verlag als umfangreichste aller Biographien publiziert, weiß sie die definitionsmächtigen Institutionen auf ihrer Seite. Sie ist zudem das Forschungsergebnis nicht nur Stefan Müller-Doohms, sondern auch seiner zahlreichen Mitarbeiter, die teilweise inzwischen selbst als Autoren zu Adorno auf sich aufmerksam gemacht haben. Wer sich die exakte Recherche verdeutlichen will, der braucht sich lediglich den fast 180 Seiten starken Anmerkungsteil zu Gemüte führen, in dem alle Quellen sorgsam nachgewiesen sind. Müller-Doohms Biographie ermöglicht nicht nur in dieser Hinsicht vor allem, was Claussens Genie-Buch verbaut: das Weiterlesen.
Aufgrund ihrer eigenen Arbeitsweise, auch aufgrund der Kalibrierung ihres Gegenstandes ist Müller-Doohms Buch eine wissenschaftliche Biographie: Es porträtiert Adornos intellektuelle Entwicklung und die Entstehung seiner Schriften, ohne Adornos Leben allzu bedeutungsvoll als Zeichen, als Allegorie oder Fokus zu stilisieren. In dieser Weise hält die Biographie eine sachliche Distanz zu ihrem Gegenstand, die jenen weder skandalisiert noch mythisiert. Von privaten Abrechnungen oder Treuediensten ist Müller-Doohms umfangreiches Buch frei, obwohl er selbst Adorno noch als Lehrer erlebt hat.
Müller-Doohm schreibt Adornos Vita weitgehend chronologisch nieder. Das kann bisweilen spröde scheinen. Dennoch lässt er sich in Studien zur familiären Herkunft oder in Vorblenden auf die Bedeutung einer entstehenden Freundschaft auch immer wieder thematisch ein. Dadurch hat das Buch neben den Vorzügen der Sachlichkeit und Detailtreue vor allem auch den der Übersichtlichkeit. Es lässt sich zur Hand nehmen; in ihm kann noch einmal nachgelesen werden.
Und auch stilistisch ist das Buch von einer nüchternen Sprache geprägt, die sich einlässt, ohne sich zu verlieren. Tatsächlich ist sein Buch eher umfassendes Dokument als schöne Literatur. Die sachliche Distanz auch der Sprache ist dennoch souverän, gerade weil sie vieles unkommentiert lässt und so dem Leser zur Beurteilung anheim gibt. Das gilt sowohl für die diversen außerehelichen Liebschaften, die Adorno unterhält, als auch für einige wenig plausible Miniaturen, mit denen Adorno versucht, seinen Alltag im sozialen Zusammenhang zu reflektieren. Manchmal allerdings pointiert Müller-Doohm kritisch die Fragen, die sich beim Lesen stellen. So wirft er etwa die Frage auf, ob Adorno in den frühen 30er Jahren nicht allzu unpolitisch und - hinsichtlich der faschistischen Bedrohung - einigermaßen naiv gewesen ist. Und auch das Verhalten der Exilanten untereinander, etwa Adornos manchmal intrigantes Verhalten gegenüber Siegfried Kracauer, versieht Müller-Doohm mit einem dicken Fragezeichen.
Manchmal erlaubt sich der Autor auch eine (etwas schelmisch scheinende) spekulative Annäherung an den Porträtierten. So fragt er etwa, anlässlich einer Begegnung Adornos mit Greta Garbo, ob es diese Begegnung war, die ihn zum Aphorismus inutile beauté veranlasst hatte. In solchen Zeilen spürt man kurz den leidenschaftlichen Bezug des Autors zum mitunter glamourösen intellektuellen Dasein seines Adorno. Ob "Leidenschaft des Kopfes" oder "Kopf der Leidenschaft" (Karl Marx) - es bringt ihn nicht um eine sachliche Haltung.
Wenn die sachliche Perspektive Müller-Doohms manchmal ein bisschen unangemessen scheint, dann vielleicht in der immer sehr nüchternen Rekonstruktion der Schlüsselschriften Adornos. Wo Adornos essayistische Schriften nämlich zentral auf die Darstellungsweise reflektierten, da lassen sich seine Gedanken auch nicht immer thetisch-konjunktivisch referieren. Etwa auf das Stilmittel der verfremdenden Übertreibung, das Adorno pflegte und liebte - von der Psychoanalyse sagte er, an ihr wäre nichts wahr als ihre Übertreibungen - ist dabei nicht angemessen Rücksicht genommen. So harrt die Stilistik Adornos nämlich der schlichten Paraphrase ihres sachlichen Gehalts. Etwa, wenn Müller-Doohm die "Dialektik der Aufklärung" referiert: "Das Mythologische bzw. Ideologische des aufgeklärten Bewusstseins der Moderne bestehe in der Vorstellung, dass der Homo sapiens mittels Ratio in der Lage sei, sich das Universum Untertan zu machen." Ohne aktualisierende Aneignung klingen diese Zeilen einigermaßen starr. Doch das mag zur aporetischen Ausgangslage einer solchen Biographie zählen: Wie schreibt man schon über Adorno, ohne in einer ästhetischen Befangenheit zu versacken? Müller-Doohm gelingt es weitestgehend, und ganz sicher kann kein Zweifel an der Intensität und Gründlichkeit der Lektüre bestehen, die seiner Biographie vorausgegangen ist. Adornos Schriften sind exakt wiedergegeben - so gut, wie sie, die selbst als singuläre Schriften philosophischer Welterschließung konzipiert wurden, sich eben neutral und thesenhaft wiedergeben lassen.
In der Lektüre erscheint zudem die Häufigkeit zitierter Kondolenzbriefe, die Adorno schrieb (immer war er freilich "gelähmt" und "erschüttert") als etwas verblüffend. Hier gerät die wissenschaftliche Biographie ebenfalls an die Grenzen ihrer Darstellung. So wie Kondolenzbriefe als Dokumente intensiver Beziehungen je singulär sein wollten, so erscheint ihre geballte Lektüre befremdlich. Der Dokumentenrausch geht hier mit dem Autor ein bisschen durch - erneut auf Kosten des Literarischen. Dokumentarischer Wert und textuelle Wirkung bilden einen Gegensatz.
Und ein einziges Mal scheint Müller-Doohm auch neben seinem Gegenstand zu liegen. Seine sachlich nüchterne Geste ist auch eine Haltung vorsichtiger Ehrerbietung, die ihre eigenen Verzerrungen impliziert. Das wird deutlich, wo er sich den eher böswilligen und infantilen Zügen Adornos widmet. Einmal ist die Rede von "schalkhaft-grotesken Dialogszenen", die Adorno verfasst hatte. Dass Adorno in jenen allerdings einer Figur, die den Spitznamen seines Onkels trägt, im Stierkampf seinem Schicksal überlassen möchte und ihn eine Bombe mit Zeitzünder schlucken lässt, wird nicht als albern oder infantil, sondern als "phantastisch" dargestellt. Insbesondere den Lesern der "Briefe an die Eltern" müssen solche Eigenheiten Adornos jedoch auch ein bisschen sadistisch scheinen, war der Onkel darin doch Gegenstand noch ganz anderer Gewaltphantasien. Doch auch jene Briefe deutet Müller-Doohm allein als Zeugnis eines "Faible[s] fürs Ironisch-Spielerische". Und auch die Bezeichnung: "Schweifende Phantasiespielchen" für solche Erfindungen und die Kritzeleien auf Sitzungsheften und Tagesordnungen, erscheint als ein wenig idealisierend. Möglicherweise sind solche banalen Momente der Biographie ebenfalls Anzeichen eines Dokumentenrausches, der den Autor befallen haben mag.
Doch das alles schmälert die Leistung letztlich nicht gravierend. Das Werk ist eine umfassende, detaillierte Biographie, die sich exakt und redlich ihrem Sachverhalt widmet. Bis zuletzt ist Müller-Doohms Studie von sachlicher Zurückhaltung und intellektueller Redlichkeit gekennzeichnet. Und das zu unterstreichende Prädikat "wissenschaftlich" verdient sie auch, weil sie den Blick über den Tellerrand hinauswagt. Sie deutet an, welche Projekte Adornos unerfüllt geblieben sind und lässt ahnen, welche Richtung die Kritische Theorie genommen hat. Leise stellt sie dabei auch die Frage, was von Adorno bleibt und wie er fortzusetzen wäre. Gleichwohl wird die Frage nach dem legitimen Erbe Adornos durchaus offen gelassen. Aus all diesen Gründen kann es keinen Zweifel an ihrem Rang geben: sie wird auf unabsehbare Zeit die Biographie Adornos bleiben.
Was bleibt?
Doch was wird von Adorno bleiben? Seine Schriften werden wohl insbesondere im Adorno-Jahr, so wäre zu hoffen, weiterhin gelesen. Als intellektueller Steinbruch waren sie zu jeder Zeit lebendig. Doch was daran könnte über seinen 35. Todestag und über seinen 100. Geburtstag hinaus tatsächlich auch Gültigkeit behalten?
Zweifellos ist die Sprache Adornos, seine philosophische Prosa bis heute eine große Herausforderung geblieben. Das betrifft den immer wieder überraschenden und unerschöpflich poetischen Gehalt seiner Schriften. Und es betrifft den Geist der Begriffskritik, die bei ihm selbst in die begriffliche Darstellung einging. Was Adorno mit Hegel als "Anstrengung des Begriffs" proklamierte, ist in seinen Schriften vorbildlich durchexerziert. Die sprachliche Dichte, der kritische Witz in seinem Urteil, Adorno als Autor wahrhaft ästhetischer Theorie: das wird sich so leicht nicht unter den Tisch kehren lassen.
Und Sprache wird in Adornos Denken zur Bewegung des Denkens gegen sich selbst. Adornos Sprache als Medium der Reflexivität einer Vernunft, die sich an ihre Grenze denkt, das bleibt aktuell. Die Utopie des Begriffs, wie er es nannte, das "Begriffslose mit Begriffen" aufzutun, ohne es ihnen "gleichzumachen", bleibt die humane Perspektive, an die Adornos Werk erinnert. Noch heute kann mit solchem Adorno eine produktive Mittelstellung zwischen sprachzentrierter Kommunikationstheorie und kruder Ontologie formuliert werden.
Doch Adornos prosaische Sprache, seine ästhetisch durchformte Theorie ist immer bereits verschränkt mit einer Sensibilität fürs Ästhetische, die ihresgleichen sucht. Soweit steht fest: Adorno bleibt einer der wichtigsten Kunstphilosophen des 20. Jahrhunderts. Wenige Denker können auf dem Feld der philosophischen Ästhetik an ihn heranreichen. Eine Reihe von Modellanalysen, sein Versuch über Beckett, das Beethoven-Buch, sie behalten nahezu uneingeschränkt Gültigkeit und sind mehr als bloße Klassiker. Auch methodisch lässt sich von ihnen lernen.
Und selbstverständlich lässt sich an den Gedankenreichtum seiner "Ästhetischen Theorie" anknüpfen. Welcher zeitgenössische Kunsttheoretiker täte das nicht? Der Anspruch Adornos, eine Politik der Form zu formulieren und das Werk in seinem Doppelcharakter, seiner gesellschaftlichen Bedingtheit und zugleich seinem überbrodenden Schein-Charakter zu denken, bleibt ebenso uneingeholt wie anspruchsvoll. Es bleibt daran anzuknüpfen. Freilich wird bei einer Reformulierung darauf zu achten sein, allzu werkästhetische Fixierungen zu vermeiden. Aber ohne Adorno wird sich eine anspruchsvolle Ästhetik (ebenso wenig wie vermutlich eine kritische Theorie der Massenkultur zu der sie jederzeit in Spannung steht) weiterhin nicht denken lassen.
Doch Adorno positiv zu lesen, wäre schon ein bisschen paradox. Vielleicht bleibt von Adorno weniger eine Sammlung philosophischer Formeln als ein kritischer Gestus und eine Bewegung des Denkens. Adorno selbst hat seine Philosophie wesentlich aus kritischen Modellen zur tradierten Philosophie gewonnen. Es ist dieser Geist der immanenten Kritik und der bestimmten Negation, die philosophisch weiterhin von ihm bestehen bleiben. Das bedeutet aber auch, dass sich seit Adorno nicht mehr schlecht ontologisch oder unbeschwert idealistisch denken lässt. Die negativ kritische Philosophie hat die Philosophie um einige Illusionen beraubt und um Desillusionierungen bereichert.
Und bei all dem gibt es keinen Adorno ohne den humanen Impuls. Was wäre kritische Theorie ohne ihren gesellschaftskritischen Gehalt? Vielleicht ist es nicht einmal Adornos Marxismus, der heute Aktualität reklamieren kann. Vielleicht ist es dennoch Adorno als Marxist, weil sich in ihm das kritische Potential und die Idee der Emanzipation noch einmal verdichten. Er benutzte zwar seinen Marx nur sehr selektiv und hatte ihn wesentlich nur vor dem Hintergrund einer Theorie der Verdinglichung vor Augen. Seine Gesellschaftstheorie beruhte vielleicht auf Annahmen, die vor allem in der Faschismustheorie wesentlich daneben lagen. Den Zugang zum Politischen versperrte sie ihm auch. Doch während sich in diesen Tagen noch die letzten politischen Parteien von der Idee sozialer Gerechtigkeit und damit auch dem Projekt wahrhaft sozialer Demokratie verabschieden, bleibt nicht zuletzt mit Adorno daran zu erinnern, dass dem mythischen Lauf des "Wertgesetzes" eine wahrhaft demokratische Perspektive entgegenzusetzen wäre. Wenn heute die Konjunkturdaten wie der Wetterbericht präsentiert werden (gerade so, als wären sie nicht menschengemacht) und wenn Moderne auf neuartige Weise zum Mythos wird, dann bleibt Adorno auch als Kritiker aktuell. Die Perspektive der Gesellschaftskritik, zwar weniger als elitäre Position wissenschaftlicher Kritik, umso mehr jedoch als Einmischung in einen falschen Partikularismus und als Widerstand gegen die Masken der Herrschaft, bleibt heute und jederzeit hochaktuell. Wie kein anderer Intellektueller steht in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit Adorno für diese Perspektive.
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