Was heißt es, Literatur als Ethnographie zu lesen?

Gerhard Neumanns und Rainer Warnings Sammelband "Transgressionen"

Von Oliver JahrausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Jahraus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Transgression - die Übertretung, die Überschreitung einer Norm, die Verletzung einer Grenze - ist kein beliebiges Ereignis, sondern stellt einen semiotischen Prozess und eine kulturelle Praxis gleichermaßen dar. Sie verletzt Grenzen und macht damit im selben Moment Grenzen disponibel. Wo diese Grenzen selbst konstitutiv für Kultur und Kulturen, kulturelle Phänomene und kulturelle Prozesse sind, eröffnet die Transgression die Perspektive auf die Kultur in ihren zeichenhaften Prozessen, Konstitutions- und Reproduktionsmechanismen.

Der vorliegende Band macht nun einen faszinierenden Vorschlag, diese Figur der Transgression zur Grundlage, zur Grundfigur einer Literaturwissenschaft zu machen, indem er - so der Untertitel - Literatur als Ethnographie liest. In der Einleitung und auch im Buch wird der Begriff nicht mehr gesondert theoretisch oder methodisch aufgegriffen, aber dennoch wird deutlich, dass es um ein Potenzial der Literatur geht, das Kultur beschreibt und im Akt der Beschreibung auch gleichzeitig vollzieht. Literatur als Ethnographie zu lesen bedeutet demnach, sich auf die Suche zu machen und Spuren zu verfolgen, die anzeigen, wie Kultur in literarischen Texten nicht nur repräsentiert wird, sondern wie sie sich dort performativ präsentiert. Und das heißt sich auf die Spur von Transgression und Transgressionen zu machen. Literatur als Ethnographie zu lesen stellt somit einen eigenständigen und bemerkenswerten Beitrag zur kulturwissenschaftlichen Fundierung der Literaturwissenschaft dar, indem man in und mit der Literatur einer Figur nachspürt, die ihrerseits konstitutiv für Kultur ist.

Damit setzt der Band eine Reihe von Überlegungen fort, die die literaturwissenschaftliche Kulturwissenschaft unter das Signum der Ethnographie gestellt haben. Vor allem sind jene Überlegungen zu nennen, die Gerhard Neumann zusammen mit anderen Mitherausgebern (Sigrid Weigel, Caroline Pross, Gerald Wilfgruber) in Sammelbänden zur "Lesbarkeit der Kultur" (2000) und zu "Szenographien" und zur Theatralität (2001) publiziert hat. Im vorliegenden Band werden der ethnographische Aspekt und der performative Aspekt im Begriff der Transgression enggeführt. Das bedeutet eine weitere Zuspitzung und Konturierung des vorliegenden Projekts einer solcherart fundierten Kulturwissenschaft.

Auch die Ausgangslage kann mittlerweile deutlicher bestimmt werden: Als sinnvolle Vorbedingung, Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft zu betreiben, gilt verstärkt die Fähigkeit entsprechender Positionen, sowohl das spezifisch Literarische als auch das allgemein Kulturelle in derselben Weise berücksichtigen und so in eine wechselseitige Beziehung setzen zu können. Der Band macht insgesamt - in all seinen Lektüren und Analysen - eindrücklich klar, dass diese Vorbedingung erfüllt ist. Dennoch muss man sich, um die Tragfähigkeit dieses Konzepts überprüfen zu können, seine Voraussetzungen und Folgerungen, aber auch seine Ausprägungen differenziert vor Augen führen.

Eine erste notwendige, aber keineswegs hinreichende Voraussetzung liegt darin, Literatur überhaupt als bevorzugten Ort von Transgressionen anzusehen. Insofern ist Jurij M. Lotman einer der Paten des Bandes, der auch öfters, so im Beitrag von Rainer Warning, referiert und diskutiert wird. Seine 'Grenzüberschreitungstheorie', wonach das Sujet eines literarischen Textes durch die Überschreitung einer solchen textuell gesetzten Grenze konstituiert wird, besitzt bereits eine kulturtheoretische Dimension. Denn die Beschreibung der dargestellten Welt des Textes als textuelle Organisation von Grenzen liefert bereits ein literarisches Modell von Kultur und kulturellem Prozess. Entscheidend für den vorliegenden Band aber ist - und das machen die einzelnen Beiträge dieses Bandes auf vielfältigste Weise deutlich -, dass Transgression nicht nur als Figur innerhalb des Textes, sondern als textuelle Figur selbst betrachtet werden muss. Transgression ist keine Figur, die allein im Text geschieht. Wo sie geschieht, bedeutet sie immer auch eine Transgression, die mit dem Text geschieht. Es ist eine Figur der Textkonstitution selbst.

Die Einleitung macht deutlich, wie weit gespannt das Spektrum ist, das sich auf der Basis der Transgression als semiotischer Figur und kultureller Praxis auftut. Der Begriff der Transgression - so heißt es dort - erscheint als Strukturmuster, das [...] für eine kulturwissenschaftliche Erweiterung der Philologie schon seit längerem einsteht: als Überwechseln beispielsweise zwischen den Künsten, den Medien, den Diskursen, kulturellen Territorien oder Zeitläufen, nicht zuletzt als ein Flottieren zwischen den Sprachen und Geschlechtern". Dass der Begriff der Transgression nicht abstrakt genug sein könnte, verschiedenste Phänomene zu subsumieren, darüber muss man sich wohl keine Gedanken machen. Viel eher ist es die Frage, ob er denn vor diesem Hintergrund noch einheitlich genug bestimmt werden kann, um dennoch ein begriffliches Instrument an die Hand zu geben und nicht in einen nur noch vagen abgrenzbaren Metaphernbereich abzudriften. Der Band spielt mit solchen Driften, und dies muss man ihm um so mehr zugestehen, als sich gerade in diesen 'Ableitungen' des Transgressionsbegriffs ein erhebliches Quantum intellektuellen Entdeckergeistes und eine nicht zu übersehende heuristische Funktion für die Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft verbirgt.

Hat man diese Gefahr erkannt, kann man auch schon zugleich Entwarnung geben. Verblüffender Weise erwächst gerade aus der Erweiterung des Begriffs ein Prinzip, das ihm eine einheitliche Linie und damit seine kulturwissenschaftliche Stoßkraft verleiht. Denn der Begriff der Transgression umfasst einerseits jede Form von Grenzüberschreitung und bringt insbesondere solche kulturell codierten Räume und Körper ins Spiel, die sich explizit durch ihre topographischen und/oder räumlichen Grenzen definieren, zum Beispiel den menschlichen Körper. Die Transgression der Körpergrenzen, seine Verletzung oder seine nackte Zurschaustellung (wie im Beitrag zu Schnitzler und Abramovic von Gabrielle Brandstetter) demonstrieren das Zusammenspiel von natürlicher Gegebenheit und kultureller Konstitution.

Insbesondere aber an de Sade, auf den sowohl Anthony Stephens als auch Joseph Vogl eingehen, wird deutlich, dass diese Transgression des Körpers Körper und Schrift miteinander koppelt. Erst die Verschriftlichung und die Ästhetisierung der (bösen) Transgression machen den Körper als Körper und als literarisches Konstrukt offenbar. Das kann noch verallgemeinert werden: denn die körperliche Transgression erfordert zugleich eine schriftliche Transgression, und nur wenn diese Transgression in den schriftlichen Text gebannt wird, lässt sie sich als Transgression erkennen. Dies lässt sich, wie die Beiträge ebenso zeigen, stark verallgemeinern. Alle Formen der Transgression sind aufeinander bezogen: keine Transgression, die nicht andere Transgressionen nach sich ziehen würde. Das ist aber die Grundlage eines Ebenenüberstieg - denn so wird nicht nur Körper und Schrift aneinander gebunden, sondern die Transgression im Text wird zu einer Transgression des Textes!

Von besonderem kulturwissenschaftlichen Interesse sind insbesondere solche Transgressionen, die ästhetische, diskursive, mediale und generell literarische Transgressionen nach sich ziehen. Zum Beispiel macht Gottfried Boehm auf ein Transgressionsmuster in der Malerei aufmerksam, indem er zeigt, wie die Transgression der Genres Repräsentationsmuster der Malerei unterläuft und historisch entfaltet. Peter Utz macht darauf aufmerksam, wie die Übersetzung von Musils "Mann ohne Eigenschaften" durch Philippe Jaccottets "L'Homme sans qualités" als Transgression gelesen werden kann. Gabrielle Brandstetter nutzt das Kulturmuster der Transgression, um die transgressiven Aspekte von weiblicher Nacktheit in Literatur (Schnitzlers "Fräulein Else") und Aktionskunst (Marina Abramovics in ihrer Performance "Freeing the body") aufeinander abzubilden, wobei sie zusätzlich malerische Darstellungen als Bindeglieder einsetzen kann. Kritisch bilanziert Hans-Ulrich Gumbrecht das Aktionstheater von Antonin Artaud auf derselben begrifflichen Grundlage. Und Ethel Matala de Mazza zeigt, wie im Übergang von Fénelons "Télémaque" zu Mozarts "Idomeneo" thematische und mediale Transgressionen der Oper Hand in Hand gehen.

Aber andererseits wird gerade durch diese Ausweitung das Strukturmuster auch präzisiert. Dies wird vor allem auch deutlich, wenn man jenen Grundlagentext (ja fast schon ein Gründungsmanifest, sofern man diesen Aufsatz zur Transgression denn so nennen will) mit heranzieht, der den gesamten Band vielfach explizit, immer jedoch zumindest implizit wie ein Generalthema oder Generalbass durchzieht: Michel Foucaults Überlegungen "Zum Begriff der Übertretung" ("Préface à la transgression"). Denn darin wird das Prinzip offenbart, das die Transgression als ein einheitliches und kulturell konstitutives Strukturmuster erscheinen lässt. Entscheidend dabei ist, dass Foucault die Transgression - er nennt sie Gebärde und impliziert damit schon den Zusammenhang von Schrift und Körper - an die Grenze zurückbindet und Transgression und Grenze in ein wechselseitiges Konstitutionsverhältnis rückt.

Bei Foucault heißt es (und wird im Beitrag von Claudia Öhlschläger direkt angesprochen): "Die Übertretung verhält sich also zur Grenze nicht so wie das Weiß zu Schwarz, wie das Verbotene zum Erlaubten, das Äußere zum Inneren, das Ausgeschlossene zum Geborgenen. Sie ist an die Grenze gebunden in einer sich spiralig einrollenden Beziehung, die nicht einfach dadurch gelöst werden kann, dass man sie aufbricht". Für Foucault ist Transgression letztlich ein sprachlicher Prozess. In der Sprache ist der Ort gegeben, in dem sich die Transgression vollzieht, sie schafft den Raum, in dem eine Grenze gezogen wird, gerade weil sie überschritten wird. Foucault nennt diese Sprache "eine nicht diskursive Sprache", deren transgressiver Charakter immer noch nicht durchschaut ist. Foucault fordert, diese Sprache der Kultur von der Transgression, nicht von der Grenze her zu begreifen. Und im Grunde genommen kann man den gesamten vorliegenden Band als Versuch einer literaturwissenschaftlichen Einlösung dieser Forderung verstehen. Dass mit der genannten Formulierung zugleich jene berühmte Definition von Literatur (Literatur als nicht-diskursiver Diskurs) aus der "Ordnung des Diskurses" aufgerufen wird, beweist zusätzlich den immanenten Zusammenhang zwischen Transgression und Literatur, beweist den ethnographischen Charakter von Literatur. Dass aber der Diskurs seinen eigenen diskursiven Charakter durchstreichen kann, liegt - so suggeriert es der vorliegende Band auf überzeugende Weise - nur an der Transgression.

Die Konstitution, ja sogar die Beglaubigung und Legitimation einer Grenze geht in der Transgression mit ihrer Infragestellung einher. Das ist der entscheidende Punkt, mit der der Begriff der Transgression steht und fällt: Die Transgression ist ein performativer Prozess. Die Performanz charakterisiert die Transgression gerade gegenüber der Repräsentation von Kultur durch Kultur. Die Transgression ist jene performative Geste oder Gebärde, die es erlaubt, Literatur als Ethnographie zu lesen und Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft sinnvoll und erfolgversprechend zu betreiben. Transgression schafft damit im Überschreiten auch die Verbindung zwischen dem destruktiven Akt, den sie vollzieht, und dem konstruktiven Moment, das sie eben damit leistet, und somit zwischen Körper und Schrift, zwischen Performanz und Repräsentanz.

Der Band ist zweigeteilt und enthält Darstellungen der Formen von Transgression und Fallstudien. Doch so strikt wird die Systematik nicht durchgehalten. Schon im ersten Teil finden sich Fallstudien; und die Fallstudien selbst im zweiten Teil erweitern und präzisieren das Spektrum von Transgressionsformen. Im Gesamtüberblick lässt sich so ein erster Umriss einer kulturwissenschaftlichen Literaturgeschichte erkennen, die die paradigmatischen Grundlegungen ebenso wie paradigmatischen Einlösungen jener Geste oder Gebärde der Transgression als allgemeines Kulturmuster sichtbar macht. Sie reicht vom "Neuen Testament" bis zu Ernst Jünger (im Beitrag zur "Mimesis an den Tod" von Claudia Öhlschläger) und umfasst die kulturrelevanten Themenbereiche Leben, Tod und Wiedergeburt, Souveränität und Legitimation, Erkennen, Moral und Ästhetik.

Michel Foucaults theoretische Vorgabe wurde schon genannt. Nicht weniger programmatisch ist de Sade, der auf paradigmatische Weise die Literarisierung und Ästhetisierung geradezu institutionalisiert hat, wie es Anthony Stephens nicht zuletzt immer noch - bei allen Unterschieden - bei Stephen King wiederfindet. In seinem Beitrag untersucht Andreas Kablitz die Inkarnation als transgressives Kulturmuster, das sich vom "Neuen Testament" bis zu Dantes "Divina Commedia" in die Literatur hinein fortsetzt. Die literaturgeschichtliche Dimension wird vor allem in dem beeindruckenden Aufsatz von Gerhard Neumann deutlich, der auf der Basis von Foucault die Geschichte dieses kulturellen Szenarios über die Stationen Calderon, Jean Paul, E.T.A.Hoffmann und Freud nachvollzieht. Er zeigt dabei zugleich, wie die Transgression auf immer weitere Fundierungsebenen in einer Geste ausgreift, die genau diese Regionen überhaupt erst erobert oder eröffnet. Gleich zwei Beiträge finden sich zum "Tristan" (insbesondere von Gottfried von Straßburg) und zum Tristan-Stoff (von Rainer Warning und Jan Dirk Müller). Das hat seinen Grund auch darin, dass Transgression in der Nachfolge der Wagnerschen Rezeption des Stoffes als absolute, todbereite Liebe verstanden wird. Rainer Warning rekonstruiert statt dessen ein Erzählen im Paradigma, das sich weder auf die Sujethaftigkeit des Artusstoffes noch auf die Sujetlosigkeit des Nibelungenliedes festlegen lässt. Und Jan Dirk Müller sieht in den Transgressionen Anzeichen für eine komplexe "Faktur des Romans", an der abzulesen ist, "dass das in der Tristan-Sage thematisierte Problem einer radikalen, gesellschaftliche Ordnungen beiseite schiebenden Geschlechterliebe innerhalb der hochmittelalterlichen Kultur weder diskursiv noch narrativ bewältigt werden kann".

Auch hier ist ein Musterfall gegeben, wie die Transgression im Text zur Transgression eines Textes selbst wird. Vielleicht ist das sogar der Kern, um den alle Beiträge kreisen, der Kern jenes Programms, Literaturtheorie als Ethnographie zu lesen. Denn das eigentlich performative Potenzial der Transgression besteht, jedenfalls aus der Sicht einer kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft, genau in jenem performativen und schließlich auch textkonstitutiven Überstieg, in dem die literarisierte Transgression zur Literatur der Transgression wird. Der vorliegende Band skizziert eine Idee; seine Aufsätze sind weniger als Programmatiken, vielmehr als Einladungen, als Probeläufe, als Testverfahren zu lesen, die ein solches Programm initiieren. Der Anschub, den der Band liefert, ist groß genug; man wird sehen, wie sich diese Idee im kulturwissenschaftlichen Feld entwickelt, wie der Impuls aufgenommen wird.

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Gerhard Neumann / Rainer Warning (Hg.): Transgressionen. Literatur als Ethnographie.
Rombach Verlag, Freiburg 2003.
350 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-10: 379309328X

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