Mitteleuropäisch schauen lernen

Über Herta Müllers autobiografischen Erzählband "Der König verneigt sich und tötet"

Von Ute EisingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ute Eisinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die chronologisch geordnete Sammlung von Rückschauen - ob als Einzelerzählungen erfunden oder für Poetik-Vorlesungen verfasst - ist nur im weitesten Sinne eine Autobiografie. In Person der 1957 in einem schwäbischen Dorf in Rumänien geborenen Autorin steht vielmehr das menschliche Verhältnis zur Sprache und seine Entwicklung beim Erkennen der Welt im Mittelpunkt.

Dieser Errichtung des Blicks auf die Dinge geht Müller, die jüngst erst mit dem höchst dotierten deutschen Joseph-Breitbach-Literaturpreis honoriert wurde, im eigenen Leben nach; ihre Person und Leistungen sind hierfür Ausgangsmaterial. Müller neigt weder zu Sentimentalität noch Bitterkeit und spart mit Namen und Anekdoten.

Wir kennen ihre Herkunft und ahnen, was sie als Angehörige einer Minderheit, Bürgerin einer Diktatur und kritische Stimme in einer vom Geheimdienst in Schach gehaltenen Gesellschaft durchgemacht hat. Müller selbst erwähnt etliche Freitode und ungeklärte Unfälle in ihrem Freundeskreis, Verhöre, Verrat und Bespitzelung. Dennoch lernt sie auf jeder Etappe ihres Lebenswegs mit allen Sinnen Neues, ihr Blick auf Umgebung und Welt bleibt frei und offen. Müllers Lernfreude steckt an: Ihre Schritte in die Welt finden über Sprache denkend statt und sind, exemplarisch, für viele Künstler gültig: Sie führen aus der Provinz in die Stadt, aus der Gesellschaft an den Rand und aus dem Herkunftsland in die Fremde. Dass Müllers Auswanderung unfreiwillig war, ihr Lebensraum Ceauçescus Terrorregime und die Enge der Provinz die Starre der deutschen Minderheit im Banat, konturiert dieses Grundmodell umso schärfer.

Denn die Sprache, die man in einer bäuerlichen Umgebung dem Kind als mit den Dingen übereinstimmend beibringt, wird inmitten anderssprachiger Dörfer ängstlich gehütet. Dem Mädchen, allein auf der Rinderweide, kommt es wie ein Frevel vor, wenn es den Gegenständen passendere Namen erfindet. Das sichere Eingebettetsein in den tödlichen Gebens-und-Nehmens-Lauf der Natur (und des katholischen Kirchenjahrs) endet mit der Übersiedelung der Gymnasiastin in die Provinzhauptstadt: Für das Erkennen des Neuen erweist sich das viel geübte Frisch-Benennen als hilfreich. Durch ihr Handikap - Helga ist die bislang verpönte Sprache Rumänisch fremd - lernt die Fünfzehnjährige bewusster zu hören und zu sprechen: "Wenn die Umgebung nur das spricht, was man nicht kann, horcht man mit der ganzen Gegend auf die Sprache. Und wenn man lange genug bleibt, dann lernt die in der Gegend vorhandene Zeit die Sprache für einen." In der neuen Sprache entdeckt sie Ausdrücke, die ihr schöner, treffender oder einfach anders erscheinen als Bezeichnungen im vertrauten Idiom, sie lernt es damit bereichern. Ihr Bekenntnis, wenngleich sie ausschließlich nur Deutsch schriebe, "schreibt das Rumänische immer mit, weil es mir in den Blick hineingewachsen ist", war ihren deutschtümelnden Landsleuten ein Dorn im Auge, doch: "Es tut keiner Muttersprache weh, wenn ihre Zufälligkeiten im Geschau anderer Sprachen sichtbar werden."

Sprache ist vorrangig zum Verstehen der Dinge - Denken - da, nicht zum Reden: In diesem Vertrauen übersteht die junge Müller absurde Nachstellungen und Verhöre unbeschadet. Doch macht eben diese Sprach-Auffassung der später Ausgewiesenen die muttersprachliche Zuflucht, Deutschland, so fremd: "Den Glauben, das Reden komme den Wirrnissen bei, kenne ich nur aus dem Westen." In ihrer Gegend - ungeachtet der Sprachen, die dort geredet werden - wird keiner Sprache zugemutet, sie müsse alles restlos erklären. In Mitteleuropa zehren auch die jeweiligen Sprachen von der Fähigkeit des Wunderns: Bukowiner, Siebenbürger oder Banater Literatur ist spielerischer, bunter und mit dem Absurden auf Du und Du. Beim Bildermachen herrscht eine Unvoreingenommenheit, die bis in die österreichischen Alpen reicht, wo sie in den Gedichten von Christine Lavant und Georg Trakl befremdet. Haben nicht die Rumänen den Surrealismus, Prager und Wiener den Magischen Realismus erfunden, Kafka und Bruno Schulz das Absurde und zelebriert nicht noch immer Hermann Nitsch seinen Renner, das ,Orgien-Mysterien-Theater'? Das provinzielle Mitteleuropa hing nie einem analytisch-protestantischen Schriftglauben an, wie er die deutschsprachige Literatur des Westens prägt, mit Sprache als Mittel zum Zweck, für Argumente und Meinungen. Im mehrsprachigen Innereuropa ist Philosophie immer erst Sprachphilosophie, man denke an Wittgenstein, Mauthner und Ebner: Wundern sie sich über das Denken, erheben sie sein Instrument zum Gegenstand.

In der Gegend, aus der Müller kommt, herrscht Selbstverständlichkeit des Unerklärlichen. Das macht ihre Sprache poetisch frei: einfach, klar und vielfach tragfähig. (Sie selbst sieht keinen Unterschied zwischen Prosa und Gedicht: In beiden zählt die Aussagekraft jenseits des Ausgesprochenen, das Wunder, das Worte unausgesprochen schaffen.)

An diese Wesenszüge deutschsprachigen Dichtens und Denkens erinnert Müller, wenn sie uns in "Der König verneigt sich und tötet" ihren klaren Blick entfaltet. Dass ihn gerade jene Ecke Europas, über die wir so lange hinweggesehen haben, ausgebrütet hat, mag beschämen.

Titelbild

Herta Müller: Der König verneigt sich und tötet.
Carl Hanser Verlag, München 2003.
208 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3446203532

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