Wer kein Deutscher sein will, soll ihn lesen!

Oskar Panizza zum 150. Geburtstag

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Während des Kalten Krieges wurde die Sowjetunion von westlicher Seite gelegentlich - und immer zurecht - dafür gescholten, ihre Dissidenten hinter den fest verschlossenen Türen der Psychiatrien verschwinden zu lassen. Dieses nicht nur Diktatoren verschiedener Couleur probat erscheinende Mittel, unliebsame Personen mundtot zu machen, ist so neu nicht und jedenfalls älter als die Oktoberrevolution. So wurde 1905 der Dramatiker, Essayist, Anarchist und Kirchenhasser reinsten Wassers, Otto Panizza, entmündigt und weggeschlossen. Zwar hatte Panizza ein Jahr zuvor auf den Rat seiner Mutter hin selbst um Aufnahme in eine "Irrenanstalt" gebeten und bald darauf seine vorübergehende Zwangseinweisung provoziert, indem er nahezu unbekleidet durch Münchner Straßen gestreift war und bei seiner Festnahme angegeben hatte, er sei Insasse einer "Irrenanstalt", habe allerdings Ausgang erhalten. Dabei sprach er von sich in der dritten Person und machte falsche Angaben zu seinem Lebenslauf. Inwieweit sein Verhalten tatsächlich einer pathologischen Verwirrung oder aber Kalkül entsprang, wird sich kaum mehr feststellen lassen. Die 1905 erfolgte Entmündigung geschah jedenfalls gegen seinen ausdrücklichen Willen.

Panizza sollte der "Herrschaftspsychiatrie" (Rainer Strzolka) bis zu seinem Tode 1921 nicht mehr entkommen. Sein 16-jähriges Entmündigungs- und Irrenhaus-Martyrium hat eine mindestens ebenso lange und wohl kaum glücklicher zu nennende Vorgeschichte, die nicht erst 1901 mit der ersten Einweisung in ein Irrenhaus begann und auch nicht 1895 mit der Verurteilung zu einem Jahr Einzelhaft, sondern schon in früher Kindheit, als seine Mutter, eine religiöse Fundamentalistin, ihren bereits im Alter von zwei Jahren zum Halbweisen gewordenen Sohn mit einer strengen herrenhutischen Erziehung malträtierte, die zwar nicht zu dem gewünschten Erfolg führte, Panizzas Leben aber ihren Stempel aufgeprägt haben dürfte und ihn nicht nur zum Strafgefangenen und entmündigten Insassen eines Irrenhauses werden ließ sondern auch zu "Deutschlands erste[m] Antipsychiater" (Bernd Nitschke) und vor allem zum "frechsten, kühnsten, [...] geistreichsten und revolutionärsten Propheten seines Landes"(Kurt Tucholsky). Neben zahlreichen Essays und Traktaten verfasste er Gedichte, Novellen und Komödien sowie eine kleine philosophisch ambitionierte "Skizze einer Weltanschauung" mit dem Titel "Der Illusionismus und die Rettung der Persönlichkeit", die allerdings keine tiefere Kenntnis der Philosophiegeschichte erkennen lässt. Immerhin aber ließ er sich nicht von dem philosophischen Heros vieler seiner Zeitgenossen blenden. "ich kann mit nietzsche nichts anfangen", bekannte er in seinem Tagebuch, um sogleich in der ihm eigenen Manier loszulegen: "ich kann ihn nicht verknusen; er ist unerträglich. gar sein zarathustra wirkt wie ein brechmittel auf mich."

Im Alter von 26 Jahren beendete der am 12. November 1853, also vor 150 Jahren, geborene Oskar Panizza das Studium der Medizin und Psychiatrie summa cum laude mit einer Dissertation "Über Myelin, Pigment, Epithelien und Micrococcen im Sputum". 1882 begann er eine zweijährige Tätigkeit als Assistenzarzt an der Oberbairischen Kreisirrenanstalt in München. Seine beruflichen Kenntnisse schlugen sich im familiären Kreis darin nieder, dass er seiner Mutter riet, seine Schwester Ida wegen eines missglückten Suizidversuchs in psychiatrische Behandlung zu geben. Anfang der 1890er Jahre nahm er allerdings von der Auffassung Abstand, dass Selbsttötung ein Anzeichen von Geisteskrankheit sei. Etwa zur gleichen Zeit trat er der "Gesellschaft für modernes Leben" bei und begann regelmäßig in Kulturzeitschriften zu publizieren, darunter "Die Gesellschaft", die "Moderne[n] Blätter", "Mephisto", die "Wiener Rundschau", die "Neue deutsche Rundschau", "Der Zuschauer" und "Die Gegenwart". Schon bald galt er als einer der Protagonisten der Münchner "Jüngstdeutschen". Ein Jahr später, 1891, machte er mit der 'gotteslästerlichen' Satire "Verbrechen in Tavi-Square" Skandal, die in dem Sammelband "Modernes Leben. Ein Stammbuch der Münchner Moderne" veröffentlicht wurde. Kurz nach Erscheinen wurde die Anthologie nicht zuletzt wegen Panizzas Beitrag konfisziert, jedoch nach einem Vierteljahr wieder freigegeben. Ging diese erste Konfrontation mit der bayrischen Justiz für Panizza noch glimpflich aus, so traf ihn das Schwert der in Bayern oft besonders blinden Justitia vier Jahre später umso härter. Stein des klerikalen und richterlichen Anstoßes war diesmal sein zu Recht bekanntestes Werk "Das Liebeskonzil" (1895), eine sarkastische "Himmelstragödie" von geradezu göttlicher Blasphemie des scharfzüngigen Satirikers, der lieber mit dem Säbel focht als mit dem Florett. Erst in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts erlebte das Stück seine Uraufführung auf einer Pariser Bühne. Zunächst aber wurde der Verfasser erst einmal wegen "Vergehen wider die Religion, verübt durch die Presse" (§ 166 Reichsstrafgesetzbuch) zu einem Jahr Einzelhaft in Amberg verurteilt. Da half es auch wenig, dass Theodor Fontane von einem "ganz bedeutende[n] Buch" sprach und Detlev von Liliencron schwärmte, die Satire sei "geradezu kollossal". Gemessen an einer Maxime, die Panizza sich in seinem Tagebuch für den Umgang mit seinen Gegnern notierte, nahm sich das Gerichtsurteil allerdings fast milde aus. "sei gegen deinen gegner rasch, rücksichtslos, beschimpfe und beschmutze ihn auf jede unerlaubte weise und schlage ihm, wenn irgend möglich gleich den schädel ein", empfiehlt er sich selbst.

Nach der Haft, sagte Panizza "[s]eine[n] lieben Münchner" in einem sarkastischen "Abschied von München" (1897) "Adieu" und kehrte der Stadt des "trübäugigen Katholizismus", die "Isar-Athen" zu nennen das "Resultat einer Geistesverwirrung" sei, den Rücken. Er flüchtete nach Zürich, wo er alsbald die "Zürcher Dißkußjonen" (1897/98-1901) herausgab, deren Beiträge meist aus seiner eigenen Feder stammten. Doch konnte er auch eine Reihe anderer Autoren gewinnen. So verfasst die nachmalig als Chronistin "Wahnmochings" zu Ruhm gelangte Franziska zu Reventlow mit "Das Männerphantom der Frau" (1898) und "Viragines oder Hetären" (1899) zwei wichtige Beiträge zu den "Dißkußjonen", wobei der Titel des zweiten Essays ursprünglich "Was Frauen ziemt" lauten sollte, was Panizza allerdings zu lahm fand.

1898 musste er Zürich wieder verlassen, da er beschuldigt wurde, ein 15-jähriges Mädchen nackt in seiner Wohnung photographiert zu haben. Vergeblich versucht er sich darauf hinauszureden, die Aufnahme hätte "medizinischen Zwecken" gedient. Über einen Zwischenaufenthalt in Paris kehrte er nach München zurück, wo neuerlicher Ärger mit Justiz und Psychiatrie nicht lange auf sich warten ließen. Im ersten Jahr des neuen Jahrhunderts wurde er wegen Majestätsbeleidigung und "Verleugnung der nationalen Abstammung" verurteilt, Noch im gleichen Jahr wurde er erstmals für unzurechnungsfähig erklärt und für fünf Monate in ein Irrenhaus eingeliefert. In den folgenden Jahren verarmte der einstmals stolze Besitzer einer vieltausendbändigen Bibliothek und began unter Geruchs- und Geräuschhalluzinationen sowie unter wahnhaften Verfolgungsängsten zu leiden. Eine zweite Aufnahme in ein Irrenhaus erfolgte 1904. Seine Kontakte zu anderen Autoren beschränkten sich nun auf Ludwig Scharf und Franziska zu Reventlow. In ihrem Tagebuch berichtet sie von den "Panizzabesuche[n]", die ihr "manchmal unheimlich" waren, "wenn er mit seinen scharfen Augen mir von seinen Halluzinationen erzählt[e]". Er selbst klagte, seine Seele sei ein "jammerndes Tier, welches nach Hilfe schreit". Dies dürfte zumal für die sechzehn Jahre gelten, die Panizza nun noch bis zu seinem Tode verblieben, unmündig und in Irrenhäusern gehalten. "Pflanzt auf mein Grab die bittere Zypresse, die Rose nicht, denn bitter war das Leben mit mir", bat er in einem seiner Gedichte. Einer der wohl wenigen Wünsche, die ihm in Erfüllung gingen.

Sehr viel später empfahl Heiner Müller die Lektüre Panizzas mit den Worten: "Wer kein Deutscher sein will, soll ihn lesen." Zwischenzeitlich hatten ihn aber auch diejenigen gelesen, die besonders stolz darauf waren, Deutsche zu sein, und sie hatten in den zwölf Jahren des Tausendjährigen Reiches versucht, ihn für sich zu vereinnahmen. Das Rätsel, wie dies angesichts des Werkes eines Mannes, der in seinen Tagebüchern bekannte, Anarchist zu sein, möglich war, erklärt eine seiner frühen Schriften: die antisemitische Novelle "Mach Mores, Jud'" (1873). Dennoch, Heiner Müller hat so unrecht nicht. Man könnte durchaus mal wieder zu Panizza greifen, auch heute noch, 150 Jahre nachdem der Autor in die für ihn gar nicht so lichte Welt geboren wurde; und unabhängig davon, ob man gerne Deutscher ist oder nicht. Sicher nicht zu dem antijüdischen Machwerk aus der Feder des Zwanzigjährigen, aber doch zum "Liebeskonzil" oder zu den vor einigen Jahren unter dem Titel "Psychopathia criminalis" zusammengestellten Texten, darunter das Werk gleichnamigen Titels, in dem er satirisch eine "neue Krankheitsform" beschreibt und für die von ihr befallenen den Bau "[e]in[es] mäßig große[n] Irrenhaus[es] zwischen Nekar und Rhein, etwa von der Grösse der Pfalz, und auf eben diesem Boden" empfiehlt.