Vorstellungen vom Seelenleben
Ein Gespräch mit Isabel Allende über den inneren Kosmos der Kinder
Von Michael Schmitt
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Die Stadt der wilden Götter", textidentisch aber in unterschiedlicher Ausstattung gleichzeitig bei Suhrkamp und im Kinder- und Jugendbuchprogramm des Carl Hanser Verlags erschienen, erzählt von einer fragwürdigen Expedition auf den Spuren von unbekannten Bestien und verwertbaren Rohstoffen - eine Abenteuergeschichte im Amazonas-Gebiet, unter steinzeitlichen Indios. Die beiden zentralen Figuren, der fünfzehnjährige Alex aus Kalifornien und Nadia, ein zwölfjähriges Mädchen, das mehr oder weniger im Urwald aufgewachsen ist, bestehen zahllose Prüfungen und retten einen Indio-Stamm vor dem mörderischen Anschlag eines skrupellosen Unternehmers.
In den meisten Sprachen, in die das Buch übersetzt wird, soll es nur eine einheitliche Ausgabe geben; in manchen Ländern, etwa in Spanien, legt ein Verlag eine Erwachsenen- und eine Jugendbuchausgabe vor. Nur im deutschsprachigen Raum arbeiten zwei Verlage zusammen - da der Suhrkamp-Verlag kein Jugendbuch-Programm anbietet. Michi Straussfeld erläutert, dass man so zum einen die gewachsene anspruchsvolle Leser-Gemeinde von Isabel Allende bedienen wolle - und zum anderen auch junge Menschen gezielt ansprechen könne.
Bei ihrem letzten Frankreich-Aufenthalt nahm sich die chilenische Schriftstellerin, die seit vielen Jahren in Kalifornien lebt, einen Augenblick Zeit, um ein paar Fragen zu ihrem neuen Buch zu beantworten.
Schmitt: Es geht in Ihrem neuen Roman um Freundschaft und Liebe, um Abenteuer und Umwelt - was steht für Sie im Mittelpunkt?
Allende: Es geht um eine Reise in das Innere, um die Reise eines Jungen und eines Mädchens, die unter dem Druck der Umstände ihre Kindheit hinter sich lassen. Dabei lernen sie das Beste in sich selbst kennen, lernen stark und tapfer zu sein, lernen, was Freundschaft und Anteilnahme bedeuten oder auch Verantwortung für die Natur und für sich selbst.
Schmitt: Wie unterschiedlich werden junge und erwachsene Leser diese Geschichte verstehen?
Allende: Kinder werden einen Abenteuerroman lesen, eine Buch über Magie und Natur. Erwachsene werden darin vielleicht etwas aus ihrer längst vergessenen Jugend wiederfinden, Dinge, die wir gerne in unseren Herzen bewahrt hätten - die wir aber irgendwann verloren haben: die Fähigkeit, sich überraschen zu lassen, Neugier auf die Welt, Toleranz.
Schmitt: Das ist nicht das erste Kinderbuch, dass Sie geschrieben haben ...?
Allende: Nein, vor langer Zeit - noch ehe ich "Das Geisterhaus" geschrieben habe - habe ich schon mal eine Geschichte für Kinder geschrieben. Sie wurde in Spanien veröffentlicht, aber ich mochte sie schon zum Zeitpunkt des Erscheinens nicht mehr. ("La gorda de porcelana", 1984).
Deshalb ist "Die Stadt der wilden Götter" für mich etwas neues. Mittlerweile habe ich Enkelkinder - neun und elf Jahre alt - geübte Leser. Ich erzähle ihnen Geschichten und bin schon dadurch in Verbindung mit Kindern. So weiß ich, was Kinder lesen wollen, und erinnere mich zudem an das, was ich selber lesen wollte, als ich jung war: Geschichten mit Abenteuern, starken Charakteren, mit Humor, mit Heldinnen und Helden.
Schmitt: Nehmen wir also Alex als Beispiel - für ihn geht es ständig darum, Grenzen zu überschreiten?
Allende: Ja, ... er muss sich entpuppen. Er ist ein behüteter, unverdorbener kalifornischer Junge, und sein ganzes Leben, so wie er es kennt, geht in die Brüche, als seine Mutter schwer erkrankt, als die Familie auseinanderbricht und er gezwungen ist, schutzlos in die Welt hinaus zu treten und seinen Weg zu finden. Und er schafft es - zunächst nur tastend, aber schließlich mit großer Courage. Nichts, was er gelernt hat, kann ihm in dieser neuen Umgebung helfen, er muss alles von der Pieke auf neu erlernen.
Schmitt: Und was verbindet ihn mit Nadia?
Allende: Er begegnet Nadia, die sozusagen die Natur verkörpert. Nadia ist viel erwachsener als er. Sie ist erst zwölf, aber sie hat ihr Leben alleine, ohne Mutter, verbracht und ist für sich selbst verantwortlich. Sie gehört zu der Sorte von Kindern, die niemals klagt - sie würde nie "ich Ärmste!" sagen.
Sie bringt ihm Vieles bei, aber die Beziehung zwischen den beiden beruht auf Freundschaft, auf Vertrauen, auch wenn daraus an einem gewissen Punkt einmal etwas anderes erwachsen könnte, was aber in diesem Buch nicht geschieht.
Schmitt: Wird es eine Fortsetzung geben?
Allende: Ja, einen zweiten Teil habe ich schon geschrieben und einen dritten muss ich noch schreiben, denn es wird eine Trilogie.
Schmitt: Mit den Augen eines Erwachsenen gelesen, handelt das Buch aber auch von einer ganzen Reihe gesellschaftlicher und politischer Probleme?
Allende: Es geht um die Indios und um die Natur. Das Buch handelt von der Umwelt, es geht darum, wie wir unsere Umwelt und alles darin zerstören, und es geht auch um den Respekt für jenen wunderbaren Planeten, der doch unser aller Mutter ist. Ich glaube, dass junge Menschen das sehr klar erkennen.
Schmitt: Was könnten wir denn von den Indios im lernen?
Allende: Als ich zum zweiten Mal am Amazonas war, war gerade ein unbekannter Stamm entdeckt worden; man sah die Indios im Fernsehen, alle sprachen darüber. Und es wurde diskutiert, ob es fair sei, den Kontakt mit diesen Menschen herzustellen, ihnen unsere Kultur aufzudrängen, nicht nur unsere physischen sondern auch unsere psychischen Krankheiten.
Aber früher oder später wird das Internet sie erreichen und mitten im Dschungel wird ein Telefon stehen - dann sind wir "in Kontakt". Aber meine Vorstellung wäre, dass wir Kenntnisse austauschen könnten, statt diese Menschen zu erdrücken. Wir denken immer nur an "Kultur" - sie dagegen wissen etwas über Pflanzen, über die Heilmittel des Dschungels, sie wissen etwas über die Natur. Wir sollten auch die außerordentliche Welt ihrer Geister respektieren. Es handelt sich um einen Kosmos von Vorstellungen und Seelenleben, den wir noch nicht einmal ansatzweise ermessen können.
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