Inselgrauen

Klaus Modick fiktionalisiert ein Stück Wehrmachtsgeschichte

Von Oliver SeppelfrickeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Seppelfricke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spätestens seit der Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht weiß man, dass auch an den idyllischen Orten, wo die Deutschen waren, große Greuel geschehen sind. In den Landschaften Italiens und Griechenlands, auf manchen Inseln. So auch auf Kreta. Die Geschehnisse seit dem Frühjahr 1941, als die deutsche Luftwaffe Kreta eroberte, sind jedoch bislang noch nie Gegenstand der erzählenden Literatur geworden. Das ist nun anders. Klaus Modick hat einen Roman über die Ereignisse damals geschrieben.

Der Autor lässt in seinem Roman zwei Handlungen parallel verlaufen. Da ist erstens die historische Wirklichkeit, die Besetzung der Insel durch die Deutschen, die Modick in die Gestalt einer spannenden Mitläufergeschichte kleidet. Und da ist zweitens, zeitlich versetzt, aber inhaltlich verzahnt, die Geschichte eines Studenten, der in unserer Zeit auf dem Flohmarkt historische Fotos von Kreta erwirbt, und mit ihnen auf die Spur seines Vaters gerät, eines damaligen Besatzungsleutnants. Zwei Handlungen, die nebeneinander herlaufen und miteinander verwoben sind.

Hauptstrang und jener Teil, der Modick die meiste Arbeit in Form von Recherche abgefordert hat, ist der historische Teil. Hier schickt Modick einen jungen Mitläufer, der sich bislang in Deutschland aus allem raushalten konnte, auf die Insel. Johann Mertens, so heißt diese Figur, ist Archäologe. Und mit dem Auftrag nach Kreta gekommen, die kunstgeschichtlich interessanten Objekte der Insel zu sichten. Schließlich betrachten die Nazis Kreta als "prägermanische Einflußzone hellenischen Ariertums". So heißt es und so war´s damals. Mertens kommt also auf die Insel, ahnt zunächst noch nichts davon, dass die Nazis die zu sichtenden Kunstobjekte später als Beutekunst abtransportieren wollen, genausowenig wie er vom Alltag auf der Insel eine Vorstellung hat. Erst langsam dämmert ihm, dass Erschießungen, sogenannte "Vergeltungsaktionen", dort an der Tagesordnung sind: das Niederbrennen von Dörfern, die Ermordung von Frauen und Kindern als Rache an Widerstandshandlungen der Inselkämpfer, der sogenannten "Andartiko", die mit britischer Unterstützung die Deutschen wieder vertreiben wollen. Modick öffnet nach dem Schema eines Entwicklungsromans seinem naiven Helden die Augen. Und lässt ihn vom angepassten Mitläufer zum entschiedenen Widerstandskämpfer werden. Aus Johann wird "Jannis", Mitglied der Andartiko.

Das Überlaufen zu den Widerständlern motiviert Klaus Modick nicht nur durch das Entsetzen über die Greuel der Wehrmacht, sondern - natürlich - auch durch die Liebe. Unser Johann verliebt sich in die Tochter eines Freundes, der selbst Widerstandskämpfer ist, und als den Nazis diese Verbindung zu anrüchig wird, kommt Johann selbst ins Visier. Spätestens als das Dorf seines Freundes als nächstes ausgelöscht werden soll, steht sein Entschluss fest. Um so mehr, als es nicht nur Anstand und Menschlichkeit, sondern auch eine Liebe zu retten gilt. Diesen Teil mag man als zu sehr nach der Absicht seines Autors konstruiert finden, aber sei's drum.

Klaus Modick gelingt es, nicht nur eine Liebe in den Zeiten des Widerstands, sondern vor allem eine genaue Geschichte über die Besetzung der Insel zu erzählen. Die Verbrechen der Wehrmacht in vier Jahren Besatzungszeit kommen klar zum Ausdruck: die Massaker an Menschen, Tieren und Sachen. Und sie bilden die brutale Kontrastfolie für das Hohelied vom Menschsein, das Klaus Modick auch noch singt: Die Menschen von Kreta empfindet Mertens (und sein Autor wohl auch) als ursprünglich. Die Insel ist für ihn "die Heimat und Jugend der Seele, das Einswerden aller Zeiten". Um das zu bestätigen, muss man wohl auf die Insel Kreta gereist sein, bis dahin begnügen wir uns mit diesem Buch, das eine packend geschriebene Geschichte und eine Art historischer Roman ist, zudem ein Genrebild der Insel, voller Gerüche, Geschmäcker und Augeneindrücke; zwei Bücher in einem praktisch, eine literarische Aufarbeitung deutscher Vergangenheit und eine Liebeserklärung an Kreta.

Titelbild

Klaus Modick: Der Kretische Gast. Roman.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
453 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3821809299

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