Edieren als ästhetisches Erlebnis

Hans Ulrich Gumbrecht über die philologische Potenz

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Selbst ehrwürdig ergraut kann die Philologie Zähne zeigen: Eine textkritische Studie über den Koran bewies nicht nur zahlreiche Fehlübertragungen und wohl interessegeleitete Fehlinterpretationen des ursprünglichen Textes, sondern auch bedeutendere Verbindungen der islamischen Glaubensbasis mit syrisch-christlichen Traditionen als bisher angenommen. Wegen seiner Explosivität wurde das Werk nur unter Pseudonym veröffentlicht.

An diese die politische Welt verändernde "Macht der Philologie" denkt der Leser beim gleichlautenden Titel von Hans Ulrich Gumbrechts neuem Buch. Der "Gerard Professor" für Literatur an der Stanford University interessiert sich hier allerdings nicht dafür, sondern für ein spezielles Vermögen in den Textwissenschaften: "Die in allen philologischen Kerntätigkeiten implizit enthaltene 'Macht'" sei es, "Situationen" zu schaffen, "die einen Überschuß an 'nicht funktionalisiertem' Begehren herauskitzeln oder zumindest sichtbar machen". Studierenden böten die Philologien damit die Bedingung, "sich einer geistigen Herausforderung stellen zu dürfen, ohne zu einer raschen Reaktion oder gar zu einer schnellen 'Lösung' verpflichtet zu sein." Gumbrecht schließt deshalb, dass "wir 'höhere Bildungsanstalten' brauchen, um im Widerstand gegen den ärgsten Zeitdruck des Alltags Überschußzeit zu erzeugen und zu schützen."

Zu diesem Schlussplädoyer kommt man durch einen Großessay-Park, dessen Gedankengänge teils zugewuchert, teils ausgetreten, teils verschlungen sind; gleichwohl entschädigt die blütenreiche Flora unterwegs für manches. Allerlei Überlegungen zur Editorentätigkeit - als der Philologie im eigentlichen Verstande - sind nur assoziativ und suggestiv, Hypothesen und Behauptungen dienen häufiger als Basis für weitere Folgerungen. Immerhin praktiziert Gumbrecht dies offen und spart nicht mit Selbstkritik und Selbstironie. Zum Widerspruch in einigen Punkten provoziert, wird der Leser aber auch besonders aufnahmebereit sein für die brillanten Passagen: Wenn Gumbrecht die modischen Apologien der Geisteswissenschaften als rituelle Kämpfe gegen nicht vorhandene Gegner bloßstellt, wenn er - nicht zum ersten Mal - die Wiederherstellung von Texten aus dem Schein hehrer Neutralität rückt, wenn er ohne Umschweife die Philologien als Luxus der Gesellschaft apostrophiert und dennoch an ihrer Bedeutung festhält, weil sie ein "Reden mit den Toten" und sogar die "Überwindung der Schwelle des Todes" zu simulieren fähig seien. In Auseinandersetzung mit Traditionen des Faches, mit Dilthey, Max Weber, Nietzsche, George, Gundolf und vielen anderen münden die Gedanken zur philologischen Tätigkeit in dem emphatischen Bekenntnis, dass universitäre Lehre Rahmenbedingung für ein "Erlebnis" zu schaffen habe, in dem "Bildung" möglich werde, stehe doch "jede Form von wissenschaftlicher Arbeit [...] in allen ihren verschiedenen Dimensionen dem ästhetischen Erlebnis nahe."

Titelbild

Hans Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
120 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3518583689

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