Lob der Abweichung

Werner Gaedes formalisierte Enzyklopädie kreativer Werbung

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was sagt man zu einem großformatigen, über 700 Seiten starken Buch, vollgestopft mit Beispielen, mit Zitaten überfrachtet bis zum Geht-nicht-Mehr? Das ein wenig hölzern geschrieben ist und seine Thesen gebetsmühlenartig wiederholt? Das von tabellarischen Übersichten nur so wimmelt und sich obendrein ziemlich pedantisch an einer kleinlichen Systematik forthangelt?

Der Autor Werner Gaede ist erstens Ehrenmitglied des Art Directors Club Deutschland (ADC) und zweitens Professor. Die letzte Eigenschaft macht ihn noch nicht verdächtig, würde er nicht alle Klischees dieses Berufsstandes bedienen. So kommt es, dass sich der Leser fast in ein studentisches Seminar zurückversetzt fühlt, wo er mit oberlehrerhafter Didaktik abgefragt wird: "Eine Anzeige von Nikon. Was zeigt sie? Welchen kreativen Mechanismus wendet sie hier an?" Und wat is en Dampfmaschien?

Gaede will ein Prinzip ausfindig gemacht haben, das aller kreativen Werbung zugrunde liegt: das "Prinzip ABWeichung". Denn alle kreative Werbung verstößt nach seinem Dafürhalten gegen Regeln, weicht von einer Norm ab, durchbricht eine Erwartung oder verfremdet ein bekanntes Muster. Mehr noch: Das Prinzip "ABW", meint Gaede, sei "universell". Man finde es in der Kunst ebenso wie in der Kochkunst, in der Musik ebenso wie in der Mode. In Architektur, Literatur-Theorie, Rhetorik, Informationstheorie und Politik sowieso. Es ist die Abweichung, die die Welt im Innersten zusammenhält.

Da es für Thesen nach einem etwas altertümlichen wissenschaftlichen Selbstverständnis vor allem eines braucht, nämlich Belege, Belege und nochmals Belege, zitiert Gaede alles, was ihm in den Zettelkasten kommt. "Selbst Beethoven kannte es!", "Umberto Eco, der Semiotiker, gibt die Antwort" oder "Zwei Medien-Pädagogen stimmen zu!" stehen stellvertretend für ein Beglaubigungserzählen, das sich auf die Wahrheit von Überlieferung und die Macht von Autoritäten stützt.

Durch Abweichen von der Norm erhöht sich die Chance, trotz Informationsüberlastung, Austauschbarkeit der Auftritte, begrenzter kognitiver Aufnahmekapazität und geringem "Involvement" für Werbung wahrgenommen zu werden. Zudem erzeugt kreatives Abweichen eine Aktivierung des Konsumenten, die ihm dank einer größeren "Verarbeitungstiefe" das betreffende Produkt besser behalten lässt. Besonders gut ist die Erinnerung, wenn der Verbraucher für sein emotionales oder kognitives Engagement belohnt wird. Je lustvoller das Dekodieren, umso tiefer brennt sich eine Erinnerungsspur in das Gedächtnis ein.

"To break the rules you have to know them." - Gaede identifiziert zunächst drei Normenbereiche: Kommunikation, Gesellschaft, Erfahrung und Wissen. Diese werden in einem fast schon manischen Ringen um Vollständigkeit ausdifferenziert, wobei sich nicht selten begriffliche Schieflagen ergeben. So wird der am ausführlichsten behandelte Normenbereich "Kommunikation" beispielsweise untergliedert in die Kategorien Werbung, Sprache, Bild und Typografie. Das macht wenig Sinn, denn Sprache, Bild und Typografie sind eher Bestandteile von Werbung, als dass sie ihr gleich geordnet wären.

Dass Gaede sein System selbst "systematisch nicht perfekt", "offen" und "unscharf" nennt, tut dabei nichts zur Sache. Der entwickelte Normenkatalog ist hochkomplex und wird durch die jeweiligen sinnkonstitutiven Abweichungen zu einer "kreativen Abweichungsmatrix" vervollständigt. Doch erstaunlich: Trotz des herrschenden Formalismus, der zahllosen Ordnungsraster, Übersichten, Stichworte und Suchfragen entsteht eine Heuristik, die schöpferische Prozesse bewusster und gezielter auslösen und steuern kann.

Das Beispiel Sprache. Hier blättert Gaede schon in der ersten Rubrik, dem "normale[n] Sprach-Verhalten", einigermaßen schwerverdaulich auf. Er unterteilt sie in "semiotisch", "Landessprache", "Schriftsprache", "kommunikator-adäquat". Die letzte Kategorie wiederum wird in "Werbesprache" und "produkt-/thema-adäquate Wortwahl" aufgegliedert.

Es bereitet einige Mühen, sich bei der Ideenfindung innerhalb der Matrix zurechtzufinden und durch alle Abweichungstypen zu navigieren. Wer das nicht scheut, wird dafür durch das gesamte Spektrum der Sprachabweichungen geleitet. Etwa, indem er sich mit Gaede von einer produktspezifischen Sprache entfernt und produktfremde Formulierungen übernimmt. Oder, indem er die korrekte, geordnete Sprachform verletzt - durch schriftlich fixiertes Versprechen, Stottern, Lallen: "Fierra Tequila löft die Funge fon in der erften Phafe."

Dieses Buch ist wirklich ein Klotz am Bein eines jeden Texters und Grafikdesigners! Aber eben ein Klotz, der davor bewahren kann, die schöpferischen Zügel schleifen zu lassen und die Ideen am Durchgehen hindert. Warum sollen kreative Einfälle nicht systematisch oder vielleicht sogar mit einer gewissen Pedanterie erdacht werden können? Das Vorurteil, Theoretisierung und Systematisierung enge die kreative Freiheit ein und führe zu uniformen Lösungen, ist nichts weiter als - ein Vorurteil.

So verwandelt sich der vordergründige Mangel zuletzt hinterrücks in einen handfesten Vorzug. Gaedes Systematik zeigt nämlich, dass Kreativität keinem vagen Bauchgefühl gehorcht oder gleichbedeutend ist mit frei schwebenden Assoziationsketten. Wenigstens nicht ausschließlich. Man sehe es dialektisch: Jeder schöpferische Prozess folgt einer impliziten Strategie, wie umgekehrt jede "theoretische" Klärung kreativen Tuns der praktischen Ausführung nur hilfreich sein kann.

Nein, die Kritik an Gaedes Feier des Prinzips Abweichung ist an anderer Stelle anzubringen. Der Autor selbst hat sie antizipiert, wenn er auf die interne Dynamik von Normen hinweist: "Wenn die Abweichung zur Norm wird - wird die alte Norm zur Abweichung." So ist es. Wenn alle abweichen, wird Individualität und Einmaligkeit nur in Form der Kopie realisierbar. Irgendwann wird sich die Werbung in der Darstellung kreativer Entwürfe überbieten, die von allem und nichts abweichen. Sie wird gewöhnlich und "normal", ausgerechnet, weil sie es mit dem Nonkonformismus qualitativ und quantitativ übertreibt.

Am Ende dieses Prozesses der Normiertheit der Normabweichung stünde dann unweigerlich die Rückwendung zur - nun abweichenden - alten Norm. Dieser, nennen wir es mal "Neu-Retro-Schleife", wäre Gaede sicher entgangen, hätte er den Geltungsbereich seines kreativen Prinzips "ABW" nicht künstlich erweitert und die Abweichung nicht so beherzt universalisiert. Oder, mit Walter Lürzer gesprochen: "Muss ich auf einem Ausflugdampfer mit lauter schönen Frauen wirklich die einzige Hässliche zum Tanz auffordern?"

Titelbild

Werner Gaede: Abweichen von der Norm. Enzyklopädie kreativer Werbung.
Buchverlage LangenMüllerHerbig, München 2002.
759 Seiten, 99,00 EUR.
ISBN-10: 3784474160

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