Was war der Intellektuelle, bevor es den Intellektuellen gab?

Ein Sammelband untersucht "Intellektuelle in der Frühen Neuzeit"

Von Thomas SchwietringRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Schwietring

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Intellektuelle ist eine Sozialfigur des achtzehnten und vor allem des neunzehnten Jahrhunderts. Sein Auftreten ist mit zentralen Elementen dessen verbunden, was wir als "Moderne" zu bezeichnen gewohnt sind. Dazu gehören die allgemeine Zugänglichkeit und Erörterbarkeit von Wissen, die berufsmäßige Publizistik, die öffentliche Debatte und Kritik, die als Forum für moralische und politische Entscheidungen an die Stelle elitärer gebildeter Zirkel und Akademien getreten ist, damit verbunden die Information und Mobilisierbarkeit der breiten Bevölkerung im Dienst politischer Ziele, also ein demokratisches und liberales Verständnis von öffentlicher Meinung, Selbstbestimmung, Aufklärung und Legitimität. Hinzu treten zwei Elemente, die vor allem im zwanzigsten Jahrhundert diskutiert wurden: die selbst zugeschriebene Stellvertreterfunktion von Intellektuellen im Dienste des Gemeinwohls und das Eintreten für benachteiligte Gruppen ohne eigene Möglichkeit zur öffentlichen Artikulation sowie die dabei unterstellte Unabhängigkeit des Intellektuellen von eigennützigen, partikularen Interessen. Die Figur des Intellektuellen ist somit gebunden an soziale und kulturelle Verhältnisse, in denen sie ihre Funktion hat. Eine Beschäftigung mit dem Intellektuellen als sozialem Phänomen ist daher notwendig auch eine Beschäftigung mit dem jeweiligen kulturellen und sozialen Kontext, mit den Formen der Öffentlichkeit, den verfügbaren technischen Medien sowie dem Umgang mit Wissen und Bildung.

Vor diesem Hintergrund gewinnt der von Jutta Held herausgegebene Band "Intellektuelle in der Frühen Neuzeit" sein Profil, der auf eine gleichnamige Tagung des in Osnabrück angesiedelten Graduiertenkollegs "Bildung in der Frühen Neuzeit" zurückgeht. Als Leitmotiv formuliert Held einleitend die Frage, ob und wie sich die Dynamik der Umbruchszeit vom 16. zum 17. Jahrhundert im Auftreten der Gestalt des Intellektuellen als sozialem Akteur spiegele, der dieses Neue artikuliere und damit zugleich den Umbruch selbst verkörpere. Eine Ausweitung des Buchdrucks und besonders der Produktion illustrierter Flugblätter, ein Aufschwung des Handwerks und die empirische Neubegründung der Wissenschaften, das Aufkommen des Stadtbürgertums und der offenere Austausch zwischen Klerikern und Laien durch die Reformation, aber auch die einsetzenden Staatsbildungsprozesse sind die sozialgeschichtlichen Tendenzen, die im Hintergrund dieses Umbruchs wirken. Während Held dabei die empirisch ausgerichtete Hinwendung zu den Naturwissenschaften als intellektuellen Leitdisziplinen herausstellt, betont Wilhelm Mühlmann in einem zweiten einleitenden Beitrag die gleichfalls zentrale Rolle der philologischen Textkritik, etwa in Gestalt von Lorenzo Vallas quellenkritischer Entlarvung der "Konstantinischen Schenkung" als historische Fälschung oder dem Eintreten Erasmus' von Rotterdam für eine philologische Kritik der Bibel. Die gelehrte Philologie einerseits, andererseits aber auch der sozialreformatorische Anspruch vieler protestantischer Strömungen, beispielsweise der diversen Spielarten des sozialkritischen Spiritualismus, sind für Mühlmann wichtige Ursprünge für die später zentralen Merkmale des modernen Intellektuellen.

Der Band versammelt sowohl Untersuchungen zu systematischen Aspekten als auch exemplarische Studien über einzelne intellektuelle Figuren. Die eher systematischen Untersuchungen widmen sich unter anderem der Entwicklung der publizistischen Medien, also des Buchdrucks und des Drucks von Flugschriften und ihrer Verbreitung, sowie der Rezeption von publizierten Werken, also der Leserschaft und dem Leseverhalten in der Frühen Neuzeit. Susanne Hohmeyer interessiert sich am Beispiel astronomischer Flugblätter vor allem für die Rezipientenkreise solcher Flugblätter, die sowohl an den "gemeinen Mann" als auch an enger begrenzte, fachlich interessierte und gebildete Empfänger gerichtet sein konnten, wobei sich Sensationslust und das Streben nach Wissenschaftlichkeit ebenso mischen wie sich säkulare Erklärungen mit einem theologischen oder gar magischen Weltbild verbinden. Dessen ungeachtet war eine Leistung der Flugblätter vor allem, ein sozial breit gefächertes Lesepublikum zu erreichen, an der Kultur der Schriftlichkeit teilhaben zu lassen und somit Öffentlichkeit herzustellen. Wie sich demgegenüber das Käufer- und Lesepublikum von Büchern veränderte, untersucht Inta Knor an zwei "Leserprofilen" aus dem Augsburg des späten 15. Jahrhunderts, womit im Kern die Inventarlisten zweier privater Bibliotheken gemeint sind.

In einem besonders interessanten Beitrag widmet sich Hans Rudolf Velten der zeitgenössischen Selbstreflexion der Gelehrten über die Voraussetzungen, Ziele und Grenzen ihres Tuns in einer öffentlich geführten Diskussion über "Autodidakten", die sich seit dem Ende des 17. Jahrhunderts im Anschluss an und in Abgrenzung von Daniel Georg Morhofs "Polyhistor" von 1688 entwickelte. Der Beitrag stellt einen Schnittpunkt des gesamten Bandes dar, denn er verdeutlicht, an welch tiefgreifende Wandlungen die Entstehung von Intellektualität gebunden war. Es ging um nicht weniger als um den Begriff des Wissens selbst sowie um die Legitimität eines selbstbestimmten Strebens nach neuem Wissen, wie es sich prototypisch am Typus des sich selbst schulenden Autodidakten zeigt. Entdeckung und Kritik als die neuen Leitbegriffe einer in die Zukunft gerichteten intellektuellen Tätigkeit standen in scharfem Kontrast zur überkommenen Vorstellung von Wissen als der authentischen Bewahrung des Überlieferten und der Verdammung eines Strebens nach Wissen als Selbstzweck. Deutlich spürbar ist zu Beginn der Debatte die Angst, die Autodidakten könnten in gefährlicher Weise den Kanon des legitimen, d. h. des institutionalisierten, humanistisch und theologisch beglaubigten Wissens der Universitäten sprengen. Erst gegen Mitte des achtzehnten Jahrhunderts erfährt das Selbststudium des Autodidakten seine Anerkennung, allerdings, so ließe sich ergänzen, um schon ab dem neunzehnten Jahrhundert durch staatlich sanktionierte moderne Bildungsabschlüsse zurück in die Ecke eines zweifelhaften Dilettantentums verbannt zu werden, wo es bis heute - und vielleicht mehr denn je - steht.

Ein widersprüchliches Bild frühneuzeitlicher Intellektualität zeichnet Andreas Bauer an einigen ausgewählten Beispielen gelehrter frühneuzeitlicher Juristen. Während ihre abhängige Stellung im fürstlichen Dienst es ihnen unmöglich machte, offen in politischen oder theologischen Fragen Stellung zu beziehen, ließen sie verschleiert und anonym andernorts Streitschriften drucken, in denen sie teilweise nachdrücklich gegen die Politik ihres Dienstherrn Stellung bezogen.

Ein zentrales intellektuelles wie politisches Thema des 16. und 17. Jahrhunderts war die Kirchenspaltung und die Möglichkeit einer Aussöhnung oder gar Wiedervereinigung der Konfessionen, wie sie von den Irenikern des 17. Jahrhunderts in zahlreichen Streitschriften erörtert wurde. Hans Peterse analysiert diese Debatten unter dem Gesichtspunkt der Verflechtung von Religion und Politik und weist damit auf ein in die Zukunft gerichtetes Element intellektueller Auseinandersetzungen, das Verhältnis von Ideologie und politischer Legitimation, hin. Ebenfalls im Kontext der gegenreformatorischen Tendenzen nach dem Tridentinischen Konzil ist die Untersuchung von Andreas Oevermann über die Pläne für den Bau einer Jesuitenkirche in Amsterdam zu Beginn des 17. Jahrhunderts angesiedelt. Oevermann beleuchtet die Kontroverse zwischen der Rezeption der humanistischen Architekturtheorie im Kreis der Antwerpener Jesuiten und der Rückbesinnung auf frühchristliche Bauformen in der römischen Generalkongregration des Ordens, die eine Parallele in der zur selben Zeit erfolgenden Abkehr von den Bauplänen Michelangelos für Sankt Peter in Rom hat und als Ausdruck einer katholischen Konfessionalisierung gesehen werden muss.

Nachdem in diesen eher systematischen Beiträgen bereits die Gebiete der Naturwissenschaft, der Theologie, des Rechts und der Architekturtheorie Erwähnung fanden, widmen sich die folgenden Studien exemplarischen intellektuellen Figuren aus den Bereichen Malerei, Literatur und Philosophie, so dass der Band insgesamt ein umfassendes Spektrum 'intellektueller Tätigkeiten' in einem eher dem heutigen Denken entlehnten Verständnis abdeckt.

Ekkehard Mai untersucht in einem der originellsten Beiträge des Bandes die antiklassische Subjektivität zweier heterogener, aber in ihrem Außenseitertum vergleichbarer römischer Malerpositionen: Salvator Rosa als etabliertem und gelehrtem, aber extravagantem Vertreter des italienischen Hochbarock auf der einen und den Kreis der niederländischen Genremaler um Pieter van Laer, genannt Bamboccio, auf der anderen Seite. Gemeinsam ist ihnen unter anderem die teils drastische, teils exaltierte Selbststilisierung als Künstler mit außergewöhnlichen, die Konventionen sprengenden Freiheitsrechten, an der sich wichtige Facetten eines modernen Selbstbildes von Intellektuellen ablesen lassen. Zum anderen teilen sie - in derb unterhaltender oder gebildet verklausulierter Form - die Ironisierung klassischer Sujets und die Tendenz zum Capriccio, zur radikalen Invention ikonographischer Neuerungen jenseits des normierten Spektrums künstlerischer Originalität.

In welchem Maß rein intellektuelle Tendenzen in Wechselwirkung und in Widerspruch mit der Entstehung des neuzeitlichen Zentralstaates in Form des Französischen Absolutismus standen, zeigt Hartmut Stenzel am Beispiel von Gabriel Naudé, einem Berater von Kardinal Mazarin, dem Nachfolger Richelieus als leitendem Minister unter Ludwig XIII. und Erzieher Ludwigs XIV. Als humanistisch gebildeter Gelehrter bewegte sich Naudé im Zwiespalt zwischen seiner Verteidigung des gelehrten Freidenkertums einerseits und seinem Selbstverständnis als politischer Stratege und staatsloyaler Ratgeber. Denn kaum dass sich eine kritische intellektuelle Öffentlichkeit in Absetzung gegen die zurückgezogen-elitäre humanistische Gelehrsamkeit hatte ausbilden können, gerät diese in Widerspruch zu den Interessen des gleichzeitig entstehenden modernen Staates.

Wie sehr bei der Vielfalt der behandelten Aspekte eine ganz andere Dimension intellektueller Freiheit und selbstbestimmter Lebensgestaltung unberücksichtigt bleibt, zeigt Margarete Zimmermann in ihrem Beitrag über die Schriftstellerin Gabriele Suchon, die in ihren Traktaten für das Recht der Frau auf ein unverheiratetes Leben außerhalb der Klostermauern eintrat, das sie für sich selbst erstritten hatte. Es ist für sie die Grundlage einer freien intellektuellen Persönlichkeitsentwicklung der Frau, aber auch Element einer sozialen Utopie. Der Beitrag lässt ermessen, wie anders der Blick auf die erwähnten freiheitlichen und intellektuellen Errungenschaften ausfällt, wenn man die Geschlechterperspektive einbezieht.

Ein wichtiges Ergebnis des Bandes zeigt sich in einem Umkehrschluss, der sich aus den teils nebensächlichen Beobachtungen der einzelnen Beiträge ziehen lässt: Es zeigt sich, wie voraussetzungsvoll die Figur des Intellektuellen ist, wie weit der Weg vom antiken und mittelalterlichen Gelehrten in seinem heimlichen Studierzimmer zur öffentlichen Figur des debattierenden, provozierenden und Skandale als Mittel der Aufklärung einsetzenden Intellektuellen der Moderne ist. Bevor die Rede vom Intellektuellen im modernen Sinn sein kann, muss sich überhaupt die Vorstellung intellektueller Tätigkeit im Sinn eines offenen, in die Zukunft gerichteten Strebens nach Neuem und Unbekanntem entwickelt haben. Eine Vorstellung von Wissen nicht als etwas Offenbartes oder von den Alten, d. h. den antiken Autoren Übernommenes und zu Bewahrendes im Sinne humanistischer Bildung, sondern als zu erstrebendes Neues, das jenseits des Vertrauten liegt - dies ist der konfliktbeladene Umbruch, der sich an der überwiegenden Mehrzahl der Beiträge ablesen lässt.

Auch wenn einzelne Beiträge ihr Thema eher skizzenhaft benennen als es tatsächlich erschließen, lässt sich zusammenfassend sagen, dass die zumeist anregenden, gehaltvollen und mit Bedacht ausgewählten Beiträge die Intellektualität in der Frühen Neuzeit auf eine Weise als Ausdruck des Umbruchs und zugleich als eine eigenständige Triebkraft beleuchten, die zu weiteren Nachfragen anregt. Wünschenswert wären unter anderem Untersuchungen, welche die vielfältigen hier behandelten Stränge weiter integrieren. Ob dafür jedoch speziell der Begriff des Intellektuellen im modernen und damit seine Besonderheit und analytische Schärfe ausmachenden Sinn von Nutzen ist, möchte ich auch nach der Lektüre des Bandes eher bezweifeln. Die Spannung zwischen dem analytischen Nutzen einer konsequenten Beibehaltung der Figur des Intellektuellen als einem spezifisch modernen Phänomen einerseits und den Erkenntnisgewinnen durch die Ausweitung des Konzepts auf die Frühe Neuzeit andererseits, die unweigerlich auch mit einer Aufweichung verbunden ist, bleibt letztlich bestehen.

In formaler Hinsicht hätte ein Register den Nutzen des Bandes erheblich erhöht, und es ist sehr zu bedauern, daß auch seriöse Verlage den Aufwand dafür zunehmend scheuen. Auch wären für den Preis bessere Abbildungen und ein gewissenhafteres Lektorat zu erwarten.

Titelbild

Jutta Held (Hg.): Intellektuelle in der Frühen Neuzeit.
Wilhelm Fink Verlag, München 2002.
208 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3770537319

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch