Wenn Träume zur Realität werden

Margaret Atwoods Anti-Utopie "Oryx und Crake"

Von Mechthilde VahsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthilde Vahsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Es war das erste Mal, dass er [Jimmy] die Craker zu sehen bekam. Sie waren nackt, aber nicht wie in den NoodieNews: Es war keine Befangenheit zu spüren, überhaupt keine. Zuerst konnte er nicht glauben, was er sah, so schön waren sie. Schwarz, gelb, weiß, braun, alle verfügbaren Hautfarben. Jedes Individuum war exquisit. ,Sind das Roboter oder was?', sagte er. ,Du kennst doch die Muster, die man in Möbelgeschäften hat?', sagte Crake.

,Ja, und?' ,Das hier sind die Muster.'"

Die kanadische Autorin Margaret Atwood treibt in ihrer zweiten literarischen Anti-Utopie die aktuell gepriesenen Errungenschaften der Biotechnologie in ein brachiales Weltenende hinein. Nach einer für alle außer Jimmy, Erzähler der Geschichte, der sich selbst Schneemensch nennt, tödlichen Virusepidemie, für die sein Freund und Chef Glenn, der sich "Crake" nennt, verantwortlich zeichnet, beherrschen verwilderte Organschweine und andere im Gen-Labor gezüchtete Tiere das Land. Die Craker, von Glenn erschaffene, Gras fressende, menschliche Wiederkäuer, haben auf Grund ihrer Resistenz ebenfalls überlebt und sollen eine neue Menschheit begründen. Das ist das Projekt, an dem Glenn, der hochbegabte Genetiker, zusammen mit Oryx, der Frau in der Dreiecksbeziehung, und Jimmy arbeitet.

Die Männer kennen sich aus ihrer Jugendzeit. Aufgewachsen in sterilen, abgeschotteten Werkkomplexen, vertreiben sie sich die Langeweile mit dem Internet-Angebot zu Live-Hinrichtungen und pornografischen Acts. Jimmys Eltern arbeiten als Genetiker, die Mutter jedoch setzt sich eines Tages in den Untergrund ab, weil sie ihre Arbeit nicht mehr mit ihren ethischen Überzeugungen vereinbaren kann. Neben diesen Firmenbunkern gibt es das sogenannte Plebsland, in dem Menschen wohnen, die unwissentlich für Experimente missbraucht und den Umweltkatastrophen hilflos ausgeliefert sind. Wer Geld hat, kann sich alles kaufen: eine neue Haut, neue Organe, Kinder nach Maß und Gesundheitsprodukte, die mit Gesundheit nichts mehr zu tun haben.

Hinter dem entworfenen Szenario, das derzeitige Forschungsergebnisse und -ansätze mit Fiktion verbindet, steht die Frage: Ist Unendlichkeit, ewiges Leben für den Menschen erstrebenswert? Wann kann etwas Künstliches menschlich sein und wann ist der Mensch von dem, was ihn auszeichnet, abgetrennt? Und: Wie viel Biotechnik braucht die Menschheit?

Die Fragen werden nicht beantwortet, Atwood belässt es im Roman beim Erzählen. Dem traditionellen Schema der literarischen Anti-Utopie folgend, berichtet ihr Protagonist Schneemensch in Rückblicken seine Sichtweise der Erlebnisse, unterbrochen durch Begegnungen mit den Crakern, die ihm in religiös anmutender Weise ergeben sind, und die Schilderung seiner Überlebensstrategien, wenn er sich in Gebäude schleicht, in steter Angst vor den aggressiven Organschweinen, um etwas Essbares zu suchen.

Auch wenn sich beim Lesen manche Beklemmung einstellt, weil vieles von dem, was Atwood beschreibt, bereits in der Forschung als Erfolg gefeiert wird (so lese ich in der "Rheinischen Post", dass es gelungen ist, grün leuchtende Schweine zu züchten, ein "wichtiger Schritt auf dem Weg zur Verwendung tierischer Organe als Transplantate für Menschen", also doch Organschweine, die ausbrechen könnten?), gibt es auch witzige und satirische Stellen. Sie übertönen den unangenehmen Gedanken, dass das im Buch beschriebene Netzwerk der Pharmafirmen und Wirtschaftskonzerne doch schon Teil der realen Welt ist und sowohl Politik als auch Menschen beeinflusst und regiert.

Trotzdem bleibt der Eindruck, dass Atwood etwas ins Negative weiter gedacht hat, das, Wissenschaftlern überlassen, in die aufgezeigte Richtung gehen könnte. Damit zeigt sich aber vor allem, dass die grundsätzliche Diskussion über Möglichkeiten und Visionen der Biotechnik wichtiger ist denn je, will die Menschheit im Zeitalter der Globalisierung nicht ihr Fundament verlieren.

Es könnte auch anders kommen als im Buch, positiver. Aber das Märchen muss erst noch geschrieben werden.

Titelbild

Margaret Atwood: Oryx und Crake. Roman.
Berlin Verlag, Berlin 2003.
380 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3827000149

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