Eigenwert des Ästhetischen

Lothar van Laaks Studien zu einer Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Leitfrage von Lothar van Laaks nunmehr als Buch erschienener Dissertation formulierte der Autor so: "Was ist der sinnliche Anteil ästhetischer Erfahrung von Literatur?" Die Frage klingt einfach und hat es doch in sich. Was eigentlich meint "sinnlicher Anteil", oder allgemeiner: "Sinnlichkeit von Literatur"? Und was genau meint "ästhetische Erfahrung"?

Auf beide Nach-Fragen will Laak eine Antwort geben, indem er die Leitfrage an Texte stellt, die in einem Zeitraum entstanden, in dem die Diskussion über diese Frage sowohl entstand wie zu einem Reflexionsniveau getrieben wurde, das noch heute nicht überholt ist: nämlich im 18. Jahrhundert. Bekanntlich wurde erst in diesem Jahrhundert die Ästhetik als eigene Disziplin, oder vorsichtiger formuliert: als eigenständige Fragestellung entwickelt; wenigstens im deutschsprachigen Raum.

Die Einschränkung macht ein Manko deutlich: Laaks Studien mangelt es an internationaler Perspektive, obwohl sie in einer Reihe zur "europäischen Literatur- und Kulturgeschichte" erschienen sind. Tatsächlich behandeln die Studien nur deutschsprachige Texte und hätten daher zum Beispiel eher in die Reihe "Studien zur deutschen Literatur" desselben Verlags gehört.

Archimedischer Punkt von Laaks Untersuchungen ist das Werk von Johann Gottfried Herder. Erst bei ihm würden sich verschiedene Einzelaspekte der Diskussion über literarische Sinnlichkeit auf der Grundlage eines "holistischen Konzepts von Erkenntnis und Empfindung" zu einer "umfassenden Hermeneutik der Sinnlichkeit" verbinden.

Schon an früherer Stelle seiner Studien hatte er festgestellt, dass sich die "Auffassung der Sinnlichkeit" im 18. Jahrhundert nicht ausdifferenziere, sondern "um wichtige Bestimmungen" anreichere, und zwar um solche, "die auch heute noch für die Erfahrung von Kunst Gültigkeit besitzen". Den Höhepunkt dieser Entwicklung sieht Laak bei Herder erreicht, der ein sowohl zeitlos gültiges als auch die bisherigen Argumentationen dialektisch aufhebendes Konzept biete. Allerdings habe sogar Herder "das Potential ästhetischer Erfahrung in seiner Hermeneutik der Sinnlichkeit letztlich nicht ausgeschöpft"; das versucht Laak mit seinen Studien. Daher kann er, gewissermaßen durch Herder hindurch, Aussagen über die Kunst an sich und die "Sinnlichkeit ästhetischer Erfahrung" überhaupt machen. Diese sei, so wird dekretiert, "ein lebendiges und notwendiges Charakteristikum der Kunst für den Menschen als einem [sic!] kulturellen Wesen". "Kunst ist somit von ihrer performativen Dimension her zu verstehen, von ihrer Vollzugshaftigkeit und - mit der Einsicht in ihr historisches Geworden-Sein - auch ihrer Vergänglichkeit."

Wem diese Sätze nicht auf Anhieb verständlich sind, tröste sich damit, dass es nicht an ihm liegt. Tatsächlich ist der gravierendste Nachteil dieser Studien, dass sie - im Gegenteil zu Herders Schriften, wo die "Rede über das Sinnliche selbst sinnlich" werde, wie es einmal heißt - in einer komplett unsinnlichen Sprache geschrieben sind, die trotz zahlreicher Redundanzen, die einem das Gesagte einhämmern sollen, alles andere als eingängig ist. Nichts wird hier "lebendig" und "anschaulich", wie es das Charakteristikum ästhetischer Sprache wäre, sondern die Rede gerinnt permanent in einer abstrakten Begrifflichkeit, wofür folgender Satz beispielhaft stehen kann: "Sinnlichkeit in ihrer performativen und pragmatischen Konturierung als ästhetische Handlung verknüpft Gestalt und Vollzug. Sie wird mehr und mehr als ein spezifisches Paradigma von Performativität deutlich: als Theatralität." Der Satz enthält im übrigen einige der wichtigeren Leitbegriffe der Untersuchung (ich komme darauf zurück).

Das allgemeinste Problem, mit dem wir es Laak zufolge im untersuchten Zeitraum zu tun haben, sei der "mediale Wandel von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, von der Bildlichkeit zur Textualität im 18. Jahrhundert". Man soll sich das vermutlich so vorstellen: Während früher ein leibhaftig anwesender Rhapsode, Sänger oder Rezitator einem ebenso leibhaftig anwesenden Publikum Dichtung vorträgt, verlagert sich die Rezeption literarischer Texte zunehmend auf die einsame und stille Lektüre von Texten ebenso einsam und isoliert produzierender Autoren. Der Verlust von Leibhaftigkeit in der Kommunikation zwischen Autor und Rezipient muss infolgedessen durch dichterische Strategien ausgeglichen werden, die bei einem nur noch gelesenen literarischen Text ein vergleichbares Erlebnis garantieren wie bei einem Liveauftritt.

Man kann also in der Kunstrezeption von einer "Entkörperlichung" sprechen, insofern die Lektüre zu einem geistigen Akt wird, der leibhaftige Erfahrung nur noch virtuell kennt. Bildlichkeit der Sprache soll Anschaulichkeit simulieren, Rhythmus der Sprache soll Erfahrung ersetzen. Die Anfang des 18. Jahrhunderts entwickelte Ästhetik spricht somit von der Möglichkeit, das Kunstwerk als sinnliches Ereignis zu erleben, obwohl keine wirkliche Aufführung (Performance) mehr stattfindet. "Performativität" und "Theatralität" sind die Bezeichnungen für eine Qualität von Texten, die diese Erfahrung "als ob" gewährleisten.

Zu einem hermeneutischen Problem wird die Erzeugung jenes Erlebnisses "als ob", insofern die literarischen Mittel, die Lebendigkeit der Erfahrung simulieren wollen, "verstanden" werden müssen; das heißt, eine Erkenntnisleistung (Lektüre eines abstrakten Zeichensystems: Schrift) muss in der Rezeption in ein gleichsam sinnliches Erlebnis übersetzt werden, wenn der Mensch als Ganzes (Körper, Seele, Geist; Verstand und Affekt) ergriffen werden soll. Darum aber geht es. Jenseits eines die moderne Subjektivität charakterisierenden Körper-Geist- (Materie-Idee-)Dualismus soll das Kunsterlebnis beides wieder zusammenführen; ergo dem modernen, das heißt "zerrissenen" Menschen die Erfahrung einer Einheit von Körper und Geist ermöglichen, die bei Laak als "leibliche" Erfahrung bezeichnet wird.

Bei Herder heißt es einmal: "Vernunft und Gefühl bleiben die beiden Enden der Menschheit". Recht banal, dachte ich mir; doch Lothar van Laak meint dazu, diese Aussage sei "so wissenschaftlich wie unwahr - und so poetisch wie wahr". Ein rätselhafter Kommentar, denkt man zuerst. Tatsächlich ist der Kommentar aber in gewisser Weise Quintessenz der Laakschen Studien. Angesichts der Zerrissenheit des Menschen könne nur noch die ästhetische Erfahrung ihn sozusagen "heilen". Friedrich Schiller sprach einmal davon, dass die wahre Poesie "in dem Indifferenzpunkt des Ideellen und Sinnlichen" liege, und genau das scheint mir das "Quod erat demonstrandum" der vorliegenden Studien zu sein. Laak scheint demonstrieren zu wollen, dass "wir" (ich weiß, ehrlich gesagt, nicht so genau, wen er mit dem wiederholt aufgerufenen "Wir" meint) seit dem 18. Jahrhundert zunehmend ästhetische Erlebnisse in dem Maße haben können, wie die Kunst oder Literatur sich autonom zu machen suchte, also sich nicht mehr auf außerkünstlerische Phänomene bezog, sondern auf dem zitierten Indifferenzpunkt selbstreflexiv wurde.

Dadurch nämlich, dass Kunst selbstreflexiv wird, vermöge sie sich aus dem Gefängnis rhetorischer oder semiotischer Bestimmungen zu befreien und die "ästhetische Erfahrung" eines virtuell auch sinnlichen Erlebnisses aus sich hervorzubringen. Wenn es gelinge, so nähere sich die ästhetische der religiösen Erfahrung an, schreibt Laak einmal. Vernunft und Gefühl würden dann jenseits einer begrifflichen Fassbarkeit angesprochen, aus der prinzipiell mittelbar zur Welt stehenden Dichtung entspringt dann "eine komplex konstruierte bzw. inszenierte Unmittelbarkeit", oder jedenfalls der Eindruck von Unmittelbarkeit, die durch eine scheinbare "Identität von Sinnlichkeit und Sinn" gekennzeichnet sei ("in der ästhetischen Erfahrung wird Sinn dann sinnlich, wenn hermeneutisches, ästhetisches Erfahren von Sinn sich gestalthaft verdeutlicht"). Das Argument wird wie ein selbst evidentes benutzt, dahinter aber steht, wie mir scheint, das klassizistische "Je ne sais quoi": Wie's genau funktioniert, kann man nicht sagen.

Ein Höhepunkt im Sinne dieser Theorie ist zweifellos die Literatur um 1800. Schiller, Goethe, Hölderlin und die Frühromantiker seien zu einer Position vorgestoßen, "von der sich die Bedingung der Möglichkeit einer ästhetischen Selbstreflexion der Kultur - und des Menschen - ergibt", schreibt Lothar van Laak. Dieser Erfolg sei "anthropologisch fundiert und daher" heute wie zu allen Zeiten noch "spürbar". Wahre Kunst fällt aus der Geschichte heraus. Ihre Wirkung zu erklären hätte also nicht unbedingt den Rückgriff auf ein historisches Darstellungsmuster nötig gemacht.

Zum größten Teil besteht das Buch jedoch trotzdem aus historischen Momentaufnahmen zur Diskussion literarischer Sinnlichkeit. Eröffnet wird die Untersuchung zuvor - nach der gängigen Einleitung, die Thema ("Sinnlichkeit der Literatur"), Methode ("Methodenbricolage") und Forschungsstand (bisher Betonung der Erkenntnisfunktion ästhetischer Erfahrung, nun Betonung des sinnlichen Moments daran) - mit systematischen Überlegungen zu den nachher inflationär gebrauchten Begriffen Sinnlichkeit, Gestalt, Handlung, Vollzug, Erfahrung, Lebendigkeit, Ausdruck, Eindruck, Bildlichkeit, Repräsentation, Präsenz, Darstellung, Rhythmus, Synästhesie, Performativität und Theatralität. Es folgen dann die angesprochenen Momentaufnahmen, wobei kaum einmal ein literarisches Werk selbst in den Blick gerät, sondern in aller Regel nur die poetologische Diskussion des 18. Jahrhunderts. Die gesamte Darstellung ist entgegen einer gegenteiligen Behauptung teleologisch auf die Positionen Herders und Schillers bezogen, die Kapitel davor erzählen gewissermaßen die Vorgeschichte der bei den "Klassikern" entfalteten Positionen.

Begonnen wird der historische Durchgang mit der Besprechung einiger kurzer Stellen aus den Trauerspielen "Papinian" und "Carolus Stuardus" von Andreas Gryphius, und zwar weil genau diese beiden Stücke "schon Hinweise darauf bieten, wo die Sinnlichkeit ästhetischer Erfahrung sich Spielräume für einen Eigenwert des Ästhetischen verschafft". Deutlicher kann man die teleologische Anlage der Untersuchung und ihre Fixierung auf das autonome Kunstwerk kaum formulieren. In der Tat trägt das Kapitel auch wenig zum Verständnis von Gryphius und nichts zu dem der Literatur des 17. Jahrhunderts bei. Im Gegenteil: das hier präsentierte Verständnis von "Barock" ist klischiert. Der Untertitel des Buchs verspricht also zuviel.

Interessant wird es nämlich erst ab Kapitel 2: "Sinnlichkeit im Aufklärungsdiskurs" bei Bodmer und Breitinger, Baumgarten und Meier. Es folgt ein Kapitel zu Klopstocks "Konzept der Darstellung" (in dem ausnahmsweise auch einmal literarische Texte besprochen werden, nämlich drei Gedichte). Das vierte Kapitel muss sich abermals auf literarische Texte einlassen, denn Wieland theoretisierte nicht, sondern entwickelte poetologische Positionen in literarischer Form, nämlich im "Agathon" und im "Oberon". Besser gesagt: nur diese beiden Texte werden von Laak in Hinsicht auf Synästhesie und Performativität hin befragt ("körpersprachliche Deutung des Menschen"). Kapitel 5 untersucht die Einlassungen von Mendelssohn, Lessing und Engel zu Bildlichkeit, künstlichen bzw. natürlichen Zeichen und zum Begriff der Handlung ("Theatralität", "Performativität").

An dieser Stelle stehen wir dann kurz vor dem Durchbruch: Die Frühaufklärer hatten begonnen, die Ästhetik anthropologisch zu fundieren; bei Klopstock sei eine zeichenhaft operierende Literatur durch ein Darstellungskonzept abgelöst worden, was Wieland nicht theoretisch reflektiert, sondern implizit als ästhetisches Verfahren aufgenommen habe; Mendelssohn, Lessing und Engel seien zur "performativen Dimension" der Literatur gelangt, hätten die Forderung nach "Ganzheit" des Kunstwerks durchgesetzt und seien bis an die Grenze vorgedrungen, wo die Kunst "die Schranken der Kunst" zu überschreiten, also autonom zu werden beginnt. "Poetik wird damit in einer ganz grundsätzlichen Weise transzendental."

Dieser Prozess vollendet sich für Laak in der dargestellten Weise in den poetologischen Parallel- bzw. Komplementärprogrammen zur idealistischen Transzendentalphilosophie Kants, also bei Herder und Schiller. Ich vermutete, dass der eigentliche Höhepunkt auch das romantische Literaturprogramm hätte sein können; die dort entwickelten Ideen von einer Transzendental- oder Universalpoesie potenzieren das Konzept des autonomen Kunstwerks ja noch einmal, und für Potenzierungen aller Art hatte Laak in seinen Untersuchungen einige Sympathie gezeigt. Aber aus irgendwelchen Gründen mag er die Romantiker - trotz der zitierten affirmativen Nennung in einem Atemzug mit Goethe, Schiller, Hölderlin - nicht wirklich; vielleicht wegen ihrer gelegentlichen Körperfeindlichkeit, die einmal als ästhetische Revolte gegen die aufklärerische Anthropologisierung der Debatte bezeichnet wird.

So bleibt es also bei Herder und Schiller als Säulenheiligen einer Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit. Hier wie sonst nirgends werde die "sinnliche Wahrheit einer neuen Ganzheit" begründet. "Der Mensch als kulturelles, sich selbst auslegendes Wesen schafft sich seine Wahrheit als eine ästhetisch zur Darstellung gebrachte und notwendig bildlich verfasste Ganzheit, als erscheinende, begeisternde Schönheit."

Ich wusste nicht, dass es noch derart überzeugte Anhänger der idealistischen Kunstreligion gibt. Es ist schön zu sehen, wie hier einer mit Hilfe (post-)modernsten Vokabulars noch einmal versucht zu begreifen, was ihn ergreift. Und ebenso schön ist es zu sehen, dass die "ästhetische Erfahrung" der an sich verlorenen leibseelischen Einheit in der Rezeption von Literatur manche Leute über die Zerstückelungen des modernen Lebens zu trösten vermag. Oder ist es alter Wein im neuen Schlauch eines modischen Jargons? Jedenfalls ist es Laak buchstäblich darum zu tun, einen Gebrauch von Literatur wissenschaftlich zu verteidigen, bei dem es darum geht, "die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren", in der Hoffnung, dass dann in uns "jene wunderbare Rührung" entstehe, "für welche der Verstand keinen Begriff und die Sprache keinen Namen hat" (Schiller).

Titelbild

Lothar van Laak: Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit. Historisch-systematische Studien zur Literatur des 17. Und 18. Jahrhunderts.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2003.
309 Seiten, 46,00 EUR.
ISBN-10: 3484630310

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch