Die Wahrheit liegt im Dunkeln

Martin Mulsows hoffentlich nur erster Teil eines Panoramas der radikalen deutschen Frühaufklärung

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die deutsche Aufklärung gilt als moderat. Anders als in England und Frankreich wagten sich die deutschen Denker bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht bis zu materialistischen oder atheistischen Positionen vor. Mit der Obrigkeit mochte es sich keiner verderben; selbst der kühne Kant kuschte dann doch vor dem Minister, als der vermutete, allzu freies Denken könnte die staatstragende Rolle der Religion untergraben. Stimmt die Beschreibung? Natürlich nicht. Besonders in ihrer frühen Phase vor 1730 gab es auch in deutschsprachigen Landen Aufklärer, deren Radikalität atemberaubend war, jedenfalls für die Zeitgenossen. So atemberaubend, dass sich die Verfasser nicht trauten, ihre Gedanken namentlich zu zeichnen; so atemberaubend, dass man die meistens anonym erschienenen Schriften lieber möglichst schnell wieder vergaß.

Immerhin konnte die Sichtung des Erbes (ein aufklärerischer Auftrag) an solchen Schriften nicht einfach vorbeigehen. Mindestens als Zeugnisse der Verirrung menschlichen Denkens wurden sie gelegentlich registriert. Der protestantische Geistliche Johann Vogt zum Beispiel verzeichnete in seinem "Katalog seltener Bücher" aus dem Jahr 1732 auch eine anonyme Schrift des Titels "Ineptus Religiosus ad mores horum temporum" (Der törichte Gottesgelehrte gemäß den Sitten seiner Zeit), die 1652 erschienen war, nicht ohne sogleich die Warnung hinzuzufügen, es sei "ein höchst seltnes aber böses und gottloses Büchelchen".

Gegen diese Etikettierung polemisierte rund zwanzig Jahre später Gotthold Ephraim Lessing. Dieses Buch sei mitnichten böse und gottlos, sondern im Gegenteil "ein sehr gutes und rechtgläubiges Büchelchen". Dies begründete er im Wesentlichen mit der Ironie, die dieses Buch durchziehe. "Ich will denjenigen sehen, der mir das geringste anstößige oder gottlose darinne zeigt; sobald er dasjenige verneinet, was unser Spötter [der törichte Gottesgelehrte] bejahet, und dasjenige bejahet, was er verneinet".

Nun trug Lessing seine "Rettung des Inepti Religiosi" selbst nicht ganz ohne Ironie vor. Und das macht die Sache unkalkulierbar. Zwar soll die Schrift eine durchgehende "Satyre" auf einen dummen Theologen sein, und noch dazu eine "schlechte". Aber wenn es gilt, dass man schlechte Bücher nicht vermehren, sondern verringern solle: Ist es dann dienlich, ein solches Buch ausführlich vorzustellen, sogar mit einer Teilübersetzung?

Gegen Ende des zweiten Teils der Schrift, der der Befestigung der persönlichen Tugend gilt, wird der Klerus im Sinne des "sapere aude" frontal angegriffen: "Wenn du [...] in Konversation mit Privatleuten, Mitbürgern und deinen Kommilitonen sowie durch deinen eigenen Fleiß, in deiner Religion zugenommen hast, so sinne endlich einmal darauf, wie die Geistlichkeit und Priesterschaft, ja die ganze Hierarchie der Kirche abgeschafft werden könne. Was haben wir jene Statuen nötig, wenn wir Glaube und Frömmigkeit viel besser und umfassender woandersher lernen können? Die Geistlichen kosten der Republik jährlich sehr große Summen [...]. Von was für einer Last würde der Staat nicht befreyet seyn, wenn er diese Kosten sparen könnte?"

Und anschließend wird in demselben Sinn auch die weltliche Obrigkeit in Zweifel gezogen: "Endlich, wann du dich in deinen Glaubensartikeln festgesetzt hast, so fange auch an, dich um den Zustand deiner politischen Obrigkeit zu bekümmern. Baut sie auf Gott? Auf die Schrift? Lebst Du in einer Monarchie, so untersuche, was dein Monarch für Recht habe, über freye Leute zu herrschen; ob es erlaubt sey, daß einer über alle gebiete? Kannst Du auch andere mit dazu aufmuntern, daß sie gleiche Untersuchungen mit dir anstellen, so ist es desto besser. Findest du, der Fürst regiere schlecht und für eigene Lust und Annehmlichkeit, überleg, ob dieser Fürst unter die fällt, von denen der Apostel sagt: Seid Untertanen usw."

Der extrem autoritätskritische Gestus des Traktats, als dessen Verfasser Mulsow übrigens den schwedischen Diplomaten Johann Adler Salvius (1589-1652) wahrscheinlich machen kann, ist nicht zu verkennen. Aber wie ernst ist die Kritik zu nehmen? Lessing präsentierte die um 1750 immerhin schon einhundert Jahre alten "Kühnheiten" mit der Salvierungsformel, es handle sich um eine satirische "reductio ad absurdum": dergleichen könne einfach nicht ernst gemeint sein. Wirklich nicht?

Es ist eine alt bekannte Technik der Narrenrede, dass sie im burlesken Gewand durchaus ernst zu nehmende Wahrheiten äußerte. Ein berühmtes Beispiel ist das "Lob der Torheit" des Erasmus von Rotterdam. Der Satire wird hier insofern der feste Boden entzogen, als sie ihren Witz nicht von einer bestehenden Norm her bezieht, die sie dann zu bestätigen hätte. Als eine solche "Satire ohne Norm" ist auch der "Ineptus Religiosus" zu werten. Mulsow nennt den Text die "Paradeschrift der ,religio prudentum'". Die "Religion der Vernünftigen" ist aber eines der wichtigsten Projekte der Frühaufklärung. Schon Hugo Grotius hatte Anfang des 17. Jahrhunderts ein Denken gefordert und praktiziert, das gültig bleiben sollte, selbst wenn man annähme, dass es keinen Gott gäbe, oder nur einen, der sich nicht um menschliche Sachen bekümmere. Dies war ein Satz, den Lohenstein in den 1680er Jahren in pragmatischer Hinsicht zuspitzte: Nicht nur denken müsse man so, sondern auch handeln, "gleich als wenn keine göttliche Vorsehung wäre".

Dergleichen Überlegungen laufen insgesamt darauf hinaus, die menschliche Ethik nicht nur von Gott, sondern auch von metaphysischen Glaubensartikeln zu lösen. Insofern ist der frühaufklärerische Libertinismus radikaler als der spätere aufklärerische Deismus, der an einem Gott jenseits der Religion festhielt. Allerdings sprachen die frühaufklärerischen Freidenker immer noch von einer "Religion", wenn auch für Vernünftige. Doch um was für eine Religion kann es sich dabei handeln, wenn es keinerlei Dogmen jenseits vernünftiger Bezweifelbarkeit geben soll? Offenbar meinte "Religion" hier nur noch einen Diskurszusammenhang, dessen Teilnehmer sich auf keine Glaubensartikel mehr, sondern auf bestimmte wissenschaftliche Regeln verpflichteten.

Wissenschaftliche Regularien sind im Wesentlichen formal bestimmt und nicht inhaltlich. Die Formalität aber setzte Radikalität frei, wie Mulsow vielfach zeigen kann. Die Regeln der Logik erlaubten auch für die damalige Zeit unerhörte Fragen, etwa ob es Christus überhaupt gegeben hat. Doch sei der Inhalt der Fragen gar nicht so wichtig, betont Mulsow. Wichtiger war der Gestus des Denkens. Und der war nicht nur ernst zu nehmen, er war gefährlich; denn er war geeignet, jede Autorität in Frage zu stellen.

"In den menschlichen Wissenschaften kann man [...] nichts ausmachen, was mit Recht verdienen würde, göttlich genannt zu werden", schrieb Johann Friedrich Kayser 1715. Nichts also war sakrosankt: weder kirchliche noch weltliche Autoritäten oder Dogmen. Alles sollte be- und hinterfragt, als nichtig oder sinnvoll bedacht werden.

Das Auslassungszeichen in dem Zitat markiert übrigens die einzige Ausnahme, die Kayser machte: "der entfernteste Ursprung der Dinge", dessen Beschaffenheit indes völlig gleichgültig sei. Seinetwegen könne der Anfang der Welt auch göttlich bestimmt werden (übersetzt: Gott sozusagen als Urknaller), für den Lauf der Welt seither spiele das keine Rolle. Kein Wunder, dass die sogenannte "Religion der Gelehrten insgemein", wie Christian Thomasius 1689 schrieb, "in so übeln Beruff ist, als die Atheisterey selbst", obwohl doch die "viel gelehrte Leute, den man diese Religion schuld gegeben, ein fromm und gottesfürchtig Leben geführet". Na und? möchte man fragen. Mochten sich die Gelehrten auch selbst für "anständige" Leute halten, ihr Denken stand ganz zu Recht (zumal in den Augen der damaligen Obrigkeiten) im Verdacht, die "Atheisterey" zu befördern. Und das radikale Denken war attraktiv, mindestens für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Nicht wenige "junge Juristen der deutschen Frühaufklärung haben sich oft erst eine anonyme Sünde erlaubt, bevor sie ihre Universitätskarriere gemacht haben", schreibt Mulsow einmal leicht ironisch und dachte dabei vor allem an Leute wie Johann Friedrich Kayser (1685-1751) oder Jakob Friedrich Ludovici (1671-1723). Sie haben - meist im ironischen Tarngewand - das radikale Denken geprobt, bevor sie in den Schoß der Alma Mater zurückkehrten. Ein Stachel aber blieb.

Der Stachel bewog spätere Aufklärer wie Lessing, verschiedentlich wider denselben zu löcken; nicht nur in seinen relativ frühen "Rettungen" - die des "Ineptus Religiosus" habe ich zitiert -, sondern auch noch in späteren Jahren, als er eine antiklerikale Flugschrift der Reformationszeit vor allem aus dem Grund edierte, dass sie obrigkeitlich unterdrückt wurde. "Hoffentlich bin ich der Meinung nicht allein, daß es auf alle Weise erlaubt ist, ein von Obrigkeits wegen, auch aus triftigsten Gründen, verbranntes Buch wieder herzustellen", eröffnete Lessing einen noch heute lesenswerten Abschnitt über das Problem des Autodafés.

Unterdrückt wurden die radikalen Schriften der Frühaufklärung häufig. Bekannt sind die Fälle von Friedrich Ludwig Stosch (1648-1704), der wegen Atheismus verklagt und dessen Buch über die "Übereinstimmung der Vernunft und des Glaubens" 1694 vom Henker auf dem Neuen Markt in Berlin verbrannt wurde (selbst der Besitz des Buchs wurde mit 500 Talern Strafe belegt, dem Verkäufer drohte der Staupbesen); oder von Theodor Ludwig Lau (1670-1740), der wegen seiner "Philosophischen Betrachtungen über Gott, die Welt und den Menschen" ebenfalls des Atheismus beschuldigt wurde und dessen Buch 1717 der Henker in Frankfurt am Main verbrannte. Beruflich konnte Lau nie mehr Fuß fassen. Ähnliches galt für die anderen großen Namen der radikalen Aufklärung, etwa Gabriel Wagner (1660-1717), Urban Gottfried Bucher (1679-?) oder den als "erster deutscher Atheist" bekannt gewordenen Matthias Knutzen (1646-?), um nur die ersten der neuerdings wieder edierten Autoren in der Reihe "Philosophische Clandestina der deutschen Aufklärung" (herausgegeben von Martin Pott im Verlag Frommann-Holzboog) zu nennen.

Mulsows Studien widmen sich indes nicht diesen ,Stars' der frühen radikalen Aufklärung, sondern vergleichsweise weniger bekannten Autoren. Neben der genauen Analyse der Texte stehen die Rekonstruktion des ideengeschichtlichen Kontexts, der Aufschluss über die komplexen historischen Diskussionslagen bietet, und Nachforschungen über die personellen Zusammenhänge der "clandestinen" Denker innerhalb der europäischen Gelehrtenrepublik im Zentrum seines Interesses. "Netzwerkanalyse" nennt Mulsow die Zusammenführung bisher oft getrennt betriebener Forschungen zur Ideen-, Kommunikations- und Sozialgeschichte der frühneuzeitlichen Gelehrten.

Der Quellenreichtum der Studien ist beeindruckend und einer über zehnjährigen Forschungsarbeit geschuldet. Nicht zuletzt erwächst der Ertrag der Studien aus einer positivistischen Gründlichkeit, die Mulsow neben gedruckten Schriften auch unvollendete Projekte, abgebrochene und liegengebliebene Manuskripte, private Briefe, Annotationen in Handexemplaren, Lesenotizen und dergleichen berücksichtigen lässt. Es ist klar, dass private Notate häufig noch stärker den radikalen Gestus bewahren als die für den Druck bearbeiteten Ausführungen. Beide Textsorten gehören unumgänglich zu einem vollständigen Bild des radikalen Denkens. Mulsow betont außerdem zu Recht, dass "eine clandestine Schrift" sich von vornherein "auf der Ebene zwischen Privatheit und Veröffentlichung" bewegte, unabhängig ob sie in kopierter Form oder in einer Kleinstauflage (Stoschs einflussreiche Schrift wurde in nur 100 Exemplaren gedruckt) verbreitet wurde.

Mulsows Vorgehen ist erfreulich undogmatisch. "Um den Unterschieden des Milieus, der Quellen, der Themen Rechnung zu tragen", seien auch die Theorien, die an das Material herangetragen werden, "differenziert und maßvoll zu benutzen". Mulsow erschien es "wenig sinnvoll, eine ,Großtheorie' der Art Luhmanns oder Foucaults für die hier verhandelten Probleme zugrundezulegen; es gibt deshalb auch keine 'große These', die der Autor zu erweisen suchte. Vielmehr betreibt Mulsow eine mitunter akribische Mikrohistorie, die kleinräumig vorgeht und "sich entlang der Netzwerke" bewegt. Zusammengenommen soll das Mosaik der Einzelstudien ein "Bild von den personellen und thematischen Verflechtungen der radikalen Frühaufklärung in Deutschland" geben.

Dass sich das aus den vorliegenden Studien ergebende Bild nicht vollständig sein kann, räumt Mulsow freimütig ein. Der Band konzentriert sich im Wesentlichen auf religionskritische Denker und ihre Schriften; andere Fallstudien, in denen hier weitgehend ausgeklammerte Aspekte wie Naturrecht und Moralphilosophie, Hermeneutik und Skeptizismus, Naturwissenschaft und Medizin im Mittelpunkt stehen, hob sich der Autor für einen geplanten "Nachfolgeband" auf.

Der vorliegende Band enthält sieben lange Kapitel, in denen sich Mulsow "so nah wie möglich an den Geschehnissen und an den Intentionen der Akteure" orientiert, "deren Geschichte" er erzählt. Das macht es nicht immer ganz leicht, den Überblick zu behalten, denn: "Die Erzählungen gehen oftmals verschlungene Wege, folgen Abzweigungen und betreten Nebenschauplätze, um die Komplexität der Verbindungen nicht auf eine begradigte Linie abzuschleifen. Es geht um die Komplexität, nicht um Neuzeitthesen, die ohnehin schon bekannt wären".

Die erste der sieben Fallstudien untersucht die Rolle jüdischer antichristlicher Clandestina in Deutschland und ihre Katalysatorfunktion für daran sich entzündendes heterodoxes Denken. Einer der ,Infizierten' war der Sozinianer Samuel Crell (1660-1747), dessen Denken in europäischer Perspektive im folgenden Kapitel untersucht wird. Das dritte Kapitel widmet sich einem der zentralen Texte der clandestinen Frühaufklärung, nämlich "De imposturis religionum" ("Über die Betrügereien der Religionen") bzw. "De tribus impostoribus" ("Über die drei Betrüger"; gemeint: Moses, Jesus und Mohammed) aus der Feder von Johann Joachim Müller (1661-1733) und fragt, ob es sich ursprünglich um einen Scherz innerhalb des Milieus der lutherischen Orthodoxie handelt oder was genau es mit diesem 1688 in Hamburg aufgetauchten atheistischen Traktat (neu ediert 1999) auf sich haben könnte. Das folgende Kapitel widmet sich der "Politischen Theologie" des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts im Überblick und entwickelt die These, dass sich Radikalität gleichsam eigengesetzlich aus einer bestimmten Diskurslogik entwickeln kann, und zwar durchaus mit unbeabsichtigter Hilfe der christlich-,konservativen' Orthodoxie. Die fünfte Fallstudie gilt den philosophischen Implikationen, die sich aus der frühen Kirchengeschichtsschreibung ergeben. Ausgangspunkt der Untersuchung ist abermals Samuel Crell und die Rolle des christlichen Platonismus um 1700. Die vorletzte Fallstudie widmet sich einem anderen Teilnehmer der Platonismus-Debatte jener Zeit, dem Professor Nikolaus Hieronymus Gundling (1671-1729) und seinem Umfeld an der Universität Halle, dem wichtigsten Zentrum der deutschen Frühaufklärung. Wie positioniert sich der liberal-skeptische Gundling und seine Schule gegenüber dem konservativ-theologischen Flügel der Hallenser Frühaufklärung um Johann Franz Budde (1667-1729)? Mulsow entwickelt die These, dass die hier herrschende Spannung die Entwicklungsdynamik der Theorien, auch ihre leichte Radikalisierung wesentlich beförderten. Das letzte Kapitel schließlich greift am weitesten zurück: es beginnt mit einer Interpretation des in dieser Rezension anfänglich schon ausführlich erwähnten "Ineptus religiosus" von 1652 und dessen Wirkungen bis in die Zeit der Frühaufklärung. Selbst aber da, wo der Text nicht mehr präsent war, wirkte er über den gleichsam negativen Abdruck, den die "religio prudentum" in der lutherischen Orthodoxie hinterlassen hatte, was es den radikalen Thomasius-Schülern in Halle leicht machte, durch Negation der Negation gleichsam unbewusst oder wahrhaft clandestin dessen religiösen Indifferentismus und philosophischen Eklektizismus erneut positiv zu etablieren.

Die Reihe der Untersuchungen endet mit einem Epilog, in dem dann doch noch einer der ,Stars', nämlich Theodor Ludwig Lau, kurz zu Wort kommt. Er sprach einmal von dem "Theatrum" seiner "Meditationes", und diese Formulierung macht mit einem Schlag sinnfällig, was Mulsow mit seiner These vom philosophischen Sprachspiel, das Radikalität gebäre, meint. Es war ein experimenteller, vielleicht zunächst nur spielerischer Umgang mit Argumenten und Gegenargumenten, das ein Denken hervorbrachte, das sich an willkürlich gezogene Grenzen philosophiter nicht mehr halten mochte. Freilich sprengte zumindest Laus Rollenspiel alle Grenzen. Es nur als Spiel zu begreifen wäre dann doch "wohl mehr an Distanz, als Lau zu seinen Aussagen tatsächlich gehabt hat", meint Mulsow.

"Hindernisse der Wahrheit sind die Vorurteile des Denkens, der Religion, der Erziehung, der Autorität, die Vorurteile des Landes, der Nation, der Leidenschaften und andere mehr; sie müssen von dem, der die Wahrheit sucht und erstrebt, abgelegt werden", schrieb Lau 1719. "Der ursprüngliche und wahre Zustand der Menschheit ist der Libertinismus. Er äußert sich in der Lebensweise, im Denken, Reden und Schreiben. Denn ein freies Wesen lebt, denkt, spricht und schreibt frei". Und doch ist die Freiheit des Denkens aller Orten limitiert, wie Lau selbst bitter erfahren musste. "Recht hart ist das Leben der Bürger und Untertanen in der gesamten Welt", schrieb er bereits 1717: "Wir sind wie die Tiere, ja den Tieren unterlegen. Wir sind Knechte der Könige, Hörige der Beamten, Maschinen ohne Empfinden, Vernunft, Willen. Wir empfinden, denken und erstreben nichts anderes und in keiner anderen Weise, als es unsere Herren wollen und befehlen. Ein weit glücklicherer Zustand, wenn er auch nicht mehr möglich und zweckmäßig ist, ist der des Menschen als bloße Kreatur". In der Natur nämlich seien alle "Handlungen indifferent. Denn von Natur aus kann das Recht nicht vom Unrechten unterschieden werden. Im gesellschaftlichen Leben dagegen werden die menschlichen Handlungen moralisch bewertet", führte Lau 1719 den Gedanken fort; aber die "Moral" sei immer die der Herrschenden. Ihre Norm sei "die Nützlichkeit für den Staat, die Herrscher, die Eltern". Dieser Norm sich wenigstens philosophisch nicht zu fügen, war Programm und Zumutung jener Denker, die vorurteilsfrei der Wahrheit nachstrebten, auch wenn sie als Bürger selbstverständlich Recht und Gesetz achteten. Die menschliche Gesellschaft sollte schließlich nicht im Chaos der Anarchie untergehen. Doch gab es nicht eine Anarchie der Macht? Jegliche Herrschaft werde "durch Religion und Gesetze, Belohnungen und Strafen von den Herrschenden befestigt", meinte Lau, monierte aber zugleich, dass sich "die Herrschenden selbst über Religion und Gesetze" erheben würden. Dafür gäbe es Beispiele genug, doch sie seien zu "widerwärtig", um ausführlich dargestellt zu werden. "Von ihnen wimmeln der Hof, die Kirche, die Burgen, das Meer, die Banken, die Werkstätten, das Land, kurz das gesamte öffentliche und private Leben".

Die zitierten Passagen aus den beiden "Meditationes" von Lau stammen nicht aus Mulsows Buch; ich führe sie aber hier an, um noch einmal schlaglichtartig den radikalen Kontext zu vergegenwärtigen, in dem die von Mulsow besprochenen minder bekannten Autoren operierten. Einen Autor wie Lau hat Mulsow "bewußt am Rand der Erörterungen gelassen, um lästige Wiederholungen zu vermeiden". Ich glaube indes, entgegen einem alten Ratschlag ("repetita non placet") sollten Wahrheiten ruhig öfters wiederholt werden, zumal in einem Forschungsgebiet, das noch so wenig zusammenfassende Studien aufweist wie das zur Frühaufklärung, zumal der radikalen.

Vielleicht erfüllt Mulsow mir und anderen diesen Wunsch in dem versprochenen "Nachfolgeband". Dabei wünsche ich mir keine Synthese oder irgend eine harmonisierende Zusammenfassung, sondern einen anderen Band, der weitere Risse in dem "Gemälde der ,Modernisierungsoffensiven' von beherzten Frühaufklärern" beleuchtet. Das vorliegende Buch tut dies bereits in bewundernswertem Maß und enthält weit mehr als es die zehn Thesen am Ende der Arbeit (1. Situationalität der Argumente; 2. Sprachspielcharakter der Argumente; 3. Uneindeutigkeit "in theologicis"; 4. Kritischer Eklektizismus als Methode, 5. Idolokratiekritik; 6. Erkenntnis- und Freiheitstheorie als sekundäres Phänomen; 7. Häretische Aneignung der religiösen Tradition; 8. Diskontinuität der Ideen; 9. Dadurch ermöglichte Abwehr oder Umgehung im "mainstream"; 10. Produktivität von "misintended performances") ahnen lassen.

Mulsows Buch über die "Moderne aus dem Untergrund" ist eines der Standardwerke, die gerade deshalb, weil sie sich auf die Sache jenseits modischer Theorietrends konzentrieren, vorderhand schon unverzichtbar sind und vermutlich auf längere Sicht bleiben werden. Nicht zufällig wirken angeblich vormoderne, insbesondere frühaufklärerische Philosopheme in der Nach- oder Postmoderne erstaunlich aktuell. Mulsows Studien lassen uns diesen vergessenen Teil der Geschichte auf differenzierte Weise neu erleben.

Titelbild

Martin Mulsow: Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680-1720.
Felix Meiner Verlag, Hamburg 2002.
514 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-10: 3787315977

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