Der Mensch als geheimnisvolle Möglichkeit

Frühe Erzählungen des ungarischen Dichters und Filmtheoretikers Béla Balázs erstmals auf Deutsch

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Alles Zeichen von Gewohnheiten", heißt es in Béla Balázs Erzählung "Mariannes Reich", "Stücke weithin verzweigter unbekannter Leben, die sich in dieses kleine Zimmer drängten. [...] Und diese Gegenstände wurden lebendig. Sie umzingelten mich, sie vermischten sich." Dem Erzähler zerrinnen jäh alle Hoffnungen auf eine Fortsetzung seiner Urlaubsliebe, als er die Geliebte zum ersten Mal in ihrem Zuhause erlebt, inmitten ihrer Sammlung von Porzellanfiguren.

"Sie hatten ein rätselhaftes Verhältnis zu Marianne, doch ich war nicht eingeschlossen, ich war ein Fremder." Vom Aufstand der Dinge wie im Albtraum, vom Lebendigwerden des Ambientes handelt 1924 Balázs' Studie "Der sichtbare Mensch", die erste ernst zu nehmende Theorie über den Film und Balázs' berühmtestes Werk. Doch findet sich diese Vorstellung schon in seinen frühen "Menschenmärchen".

So nannte der ungarische Dichter seine zwischen 1908 und 1914 entstandenen psychologischen Novellen, die Magdalena Ochsenfeld nun erstmals ins Deutsche übertragen hat. Sie berichten von Gefühlen der Entfremdung und Isolation, die die Welt unheimlich werden lassen. Von der Suche nach wahrer Seelennähe in Utopien der Nichterfüllung und der Fernliebe. Und vom jähen Scheitern aller Intimität, sobald diese Realität und Form gewinnt. Denn dann wird Liebe mörderisch.

Es sind die Zusammenhänge von Leben und Kunst, Kunst und Tod, die den jungen Balázs beschäftigen: "Der Tod ist die Form des Lebens. Deren Ende, so, wie die Kontur der Zeichnung die Grenze der Gestalt ist, der sie die Form verleiht." In "Zu spät" sitzen sich Mann und Frau jeden Morgen schweigend in der Straßenbahn gegenüber. Beide wissen, ohne dass zwischen ihnen je ein Wort gefallen wäre, dass sie sich lieben und dass dieser wundervolle Schwebezustand nur möglich ist, so lange keiner das berührende Schweigen bricht, das erst das Gefühl intimer Nähe evoziert. Auch Lilas Hoffnung in "Vielleicht morgen" erlischt nur deshalb nicht, weil sie sich nicht erfüllt. Ihr Leben bleibt ein weit gespanntes Sehnen, eine irrationale Gewissheit künftigen Glücks, getragen allein von der Erinnerung an eine rauschhaft erlebte Begegnung und ein Versprechen. "Ich sehe das Leben nur besser, fühle es lebhafter als du. Ist denn nicht jeder Mensch eine wunderbare Erscheinung, eine geheimnisvolle Möglichkeit? Geschieht denn nicht alles, was schön und heilig ist, wovon wir nur träumen können, zwischen Mensch und Mensch?"

In "Der Grabstein" stirbt die Liebe dagegen, weil Karoly das Bild seiner Freundin in sein Tagebuch klebt und ihre Liebe schriftlich fixiert, ihr so eine Form und damit einen Abschluss gibt. In großartiger Verdichtung imaginiert Balázs' lakonisch erzählte "Geschichte von der Logodygasse" das Bild einer sterbenden Jugend, die mitten im schwellenden Frühling, auf der Grenze zum Tod, die Liebe erfährt und unter fallenden Blütenblättern verströmt.

Mag sein, dass heute, wo jedes bewusste Schweigen gleich vom nächsten Handyklingeln unterbrochen wird, Balázs frühe Novellen manchem ein wenig verzopft, wenn nicht gar von unfreiwilliger Komik erscheinen. Wer sich aber in ihren Bann ziehen lässt, wird in ihnen eine glücklich wiedergefundene Flaschenpost erkennen. Ihr traumhafter, schönschrecklicher Inhalt berichtet von einer verlorenen Zeit, als die Jugend Europas künstlerische und reale Seelenexperimente unternahm, euphorisch oder verzweifelt nach neuen Beziehungs- und Lebensformen suchte und dabei die nahende Katastrophe, den Untergang der bürgerlichen Welt, bereits erahnte.

Titelbild

Béla Balázs: Die Geschichte von der Logodygasse,vom Frühling,vom Tod und von der Ferne. Novellen.
Herausgegeben von Hanno Loewy.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Magdalena Ochsenfeld.
Verlag Das Arsenal, Berlin 2004.
134 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-10: 3931109313
ISBN-13: 9783931109318

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