Die Toten mahnen uns

"Mein letztes Wort" entziffert Grabsteine als Visitenkarte

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das letzte Wort eines Menschen steht nicht im Testament. Sondern auf dem Grabstein. Grabsteine sind Dialogangebote. Als Kommunikationsmittel in eigener Sache bieten sie letztmals Gelegenheit, Farbe zu bekennen. Sie halten fest, was die Toten den Lebenden mitzuteilen haben. In den kalten Marmor können die wärmsten Empfehlungen gemeißelt sein. Er bezeugt, wie ein Mensch sich selbst sieht und wie er den anderen in Erinnerung bleiben möchte. Er ist beides in einem: Spiegel der eigenen Individualität und Sendschreiben an die Nachwelt.

Conny Böttger und Peter Cardorff haben es geschafft, die Sprache der Grabmale zu dechiffrieren und darzulegen, welchen unterschiedlichen Mustern die Botschaften aus dem Jenseits folgen. 677 Fotos, aufgenommen auf rund 300 Friedhöfen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, präsentieren ein Kaleidoskop der Bilder, Symbole und Slogans. Sie reichen von der Liebeserklärung über die Gegendarstellung zu übler Nachrede bis zum Bekennerbrief. Man kann den Tod verhöhnen - oder seine Liebsten trösten. Man kann seine Ankunft im Reich der hieb- und stichfesten Schatten bejubeln - oder seinen vierbeinigen Gefährten zu sich ans Grab rufen. Seine Leidenschaften ausstellen - oder die Irdischen im Fleische beschimpfen. Der Liebhaber eines guten Tropfens prostet uns auf dem Stein zu, während sich ein Freund knapper Worte mit einem schlichten "Tschüß" verabschiedet. Auch ein einzelnes "Feierabend" ist schon gesichtet worden.

Mal sind Grabsteine autobiografische Erzählung, also vom Verstorbenen in spe selbst verfügt, mal sind sie Denkmäler. Schränkt das prämortale Selbstportrait die Möglichkeiten, Sinniges oder Unsinniges über den Toten zu reden, ein gutes Stück ein, so bietet das von der Hand der Hinterbliebenen gezeichnete Passfoto keinen Personenschutz. Eine Korrektur allzu gut oder schlecht gemeinter Kommentare ist in der Regel nicht mehr möglich. Wie auch immer - das Potenzial sprechender Grabsteine ist so gewaltig wie die Stimmlagen und Zwischentöne, in denen sie sich äußern.

Nicht nur mit den Mitteln der Dokumentarfotografie, auch gedanklich haben die Autoren ihr Feld zwischen Nelken, in Form gebrachten Lebensbäumen und kniehohem Nadelgehölz gut beackert. Sie deuten die Grabsteine als "Grenzsteine, doch diesseits der Demarkationslinie", als "Lebenszeichen, im Diesseits bedacht und fürs Diesseits entworfen". Mit Lebensmüdigkeit oder gar Todestrunkenheit hat der Werbespruch auf dem Grabstein demnach nichts zu tun. Wer über sein Grabmal verfügt, so heißt es unter der Überschrift "11 Gründe, sein Grabmal selbst zu entwerfen", "beuge der Verstaatlichung seiner Lebens- und Sterbegeschichte" vor.

Auf einem Stein ist naturgemäß nicht viel Platz. Daraus folgt die Aufgabe, das, was zu sagen ist, kurz und prägnant zu sagen. Und wenn möglich, in einem einzigen Satz. Auch ein unerfüllter Wunsch oder verpasste Lebenschancen können hier formuliert sein. Ein Gescheiterter zieht öffentlich Bilanz auf dem Stein: "Der Kampf ist aus. Paul, der Verlierer." Ein Missgünstiger tritt noch einmal nach: "Hier liegen meine Gebeine, ich wollt' es wären Deine." Längst nicht alle Abgänge geschehen in stillem Einvernehmen und mit höflicher Contenance. Viele räumen das Feld sozusagen unfreiwillig oder vermeiden es tunlichst, sich den Illusionen eines jenseitigen Lebens hinzugeben. So klingt es, wenn die soziale Lebensbilanz rote Zahlen schreibt: "Die mit mir waren, haben mich nicht verstanden." So, wenn Sinnfragen unbeantwortet bleiben: "Warum?" So, wenn man den Tod als tiefschwarzen Abgrund und Strudel des Verschwindens empfindet: "Nichts mehr!"

Ein Friedhof wimmelt von Privatleuten, Sportskanonen und Helden der Arbeit wie dem "Organisationsleiter der Bausparkasse Wüstenrot". Ebenso unterschiedlich fallen die Darstellungsformen aus. Ich meine das steinerne Symbol, das Foto oder die Büste in Lebensgröße. Der knöcherne Sensenmann zeigt, wer den Verblichenen hingemäht hat. Man findet aber auch Musikinstrumente, Verkehrsmittel - oder einfach eine über dem Stein hängende Jacke. Der Besitzer dieses Grabes hat sie abgelegt, bevor er hinabgestiegen ist in die Gruft. In Familiengräbern wird in trauter Zweisamkeit gestorben, mitunter begegnen sich die Liebenden dort auch figürlich.

Auch über Todesarten können die Grabsteine Auskunft geben. Gestorben wird bei Bergunglücken, Flugzeugabstürzen, Verkehrsunfällen, bewaffneten Raubüberfällen und anlässlich anderer Untaten. Ein Kraftfahrer formuliert bei dieser Gelegenheit die Frage der klassischen Theodizee: "Gott, wenn Du bist, ich kann's nicht verstehen, hab immer das segnende Kreuzzeichen gegeben."

Titelbild

Conny Böttger / Peter Cardorff: Mein letztes Wort. Der Grabstein als Visitenkarte.
Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin 2003.
240 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-10: 3896024582

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