"Wir plärren für das Gefühl gegen den Intellekt"
Vom Möchtegern-Führer der expressionistischen Avantgarde zum k.u.k.-Landsturmkommandanten: Robert Musil als Literaturredakteur bei der "Neuen Rundschau"
Von Oliver Pfohlmann
Robert Musil gilt als Verächter des Expressionismus. Zahlreich sind seine Polemiken aus den zwanziger Jahren. Weitgehend unbekannt blieb sein Engagement für den Frühexpressionismus. Anfang 1914 heuerte er bei Samuel Fischers "Neuer Rundschau" an, um sich in der Berliner Literaturszene als Führer der "jüngsten Generation" zu profilieren. Hätte der Versuch ein Erfolg werden, hätte der Expressionismus eine andere Richtung nehmen können? Der Kriegsausbruch vor 90 Jahren machte Musils Liaison mit der Avantgarde ein ebenso unerwartetes wie willkommenes Ende.
Am 3. Januar 1914 trifft der krank geschriebene Bibliothekar zweiter Klasse der Technischen Hochschule Wien Robert Musil in Berlin den Verleger Samuel Fischer. Unterwegs hat er sich vorgenommen, eine "geschäftlich exorbitante, persönlich mir notwendige Forderung zu stellen. Sie erscheint mir so unmöglich, daß ich zu dichten beginne."
Als gewinnenden homme d'affaires wird man ihn, der sich einmal eine autistische Veranlagung zuschreiben wird, nicht bezeichnen wollen. Im letzten Jahr haben ihm die Psychiater wiederholt eine schwere Neurasthenie mit Herzrasen, Depression und hochgradiger körperlicher und psychischer Ermüdbarkeit attestiert. Psychosomatische Symptome des Aufbegehrens gegen den ungeliebten Posten als Bibliothekar, der ihm alle Zeit und Energie zum Schreiben raubt. Seit Monaten gilt er als berufsunfähig.
Jetzt, vor der entscheidenden Begegnung mit dem mächtigen Verleger, ist die Herzneurose vergessen, entwickelt er eine für ihn in beruflichen Angelegenheiten seltene Leidenschaft, ist er feurig und erfolgsfixiert: "Ich merke ein leises Nachgeben im andern. Ich glühe. Ich habe nur den einen Willen, den Erfolg nachhause zu bringen. Ich spüre überhaupt, daß ich einen Willen habe. Eine ganz harte, glückselige Beziehung zwischen zwei Menschen."
Musil überzeugt Fischer von seinem Plan. Er bekommt die Stelle als Redakteur und Literaturkritiker. Endlich kann er wieder nach Berlin zurückkehren, das er 1911, nach dem Debakel mit seinem Novellenband "Vereinigungen", auf väterliches Geheiß verlassen musste. Ein Schritt von großer Tragweite. Er ermöglicht ihm zwar, als Dichter zu arbeiten, liefert ihn aber zugleich für sein gesamtes weiteres Leben der Ungewissheit des Lebensunterhaltes aus. Bereits ein knappes halbes Jahr später wird Musils Engagement bei Fischer, sein erster Versuch einer eigenständigen literarischen Existenz, ein unerwartetes Ende nehmen. Erneut beseelt von Leidenschaft und Willensstärke, wird der Dichter in den Krieg ziehen.
Ein fataler Generationswechsel
Diese wenig bekannte Episode in Musils Biographie wirft ein Licht sowohl auf die Auseinandersetzungen um die literarische Avantgarde vor dem Krieg als auch auf Musils Lebensumstände und mentalen Zustand am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Später, im Nachlass des just an diesem Vorabend spielenden "Mann ohne Eigenschaften", bezeichnete er diesen als oberstes Problem in der "Hierarchie der Probleme". Das Erlebnis der "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts hat das ganze nach 1918 entstandene Werk Musils nachhaltig geprägt. Im August 1914 führte die Aussicht auf Krieg ihn und weitere Vertreter der literarischen Intelligenz, die, wie er sie später abfällig bezeichnete, "S. Fischer Autoren, die das Heil vom Gefühl, vom menschlichen Kurzschluß" erwarteten, zu einer Art von kollektiver Ekstase.
Was zog Musil zur "Neuen Rundschau", abgesehen von seinem Wunsch, eine berufliche Alternative zur Technischen Bibliothek zu finden? Hatte er doch noch vier Jahre zuvor einen solchen Weg für sich kategorisch ausgeschlossen: "Der Feuilletonismus, selbst der in der Neuen Rundsch. oder im Pan ist mir zu ekelhaft. Wenn irgend ein mir ähnlicher Unbekannter meinen Namen so unter der u. jener Unnotwendigkeit fände, ich würde mich schämen."
In Wahrheit stand Musil dieser Zeitschrift zeitlebens sehr nahe. Keine andere wird in den über mehr als vier Lebensjahrzehnten geführten Tagebüchern häufiger erwähnt als sie. Die damals tonangebende Kulturzeitschrift im deutschsprachigen Raum dürfte die Gedankenwelt gerade des jungen Musil mehr geprägt haben als jedes andere Blatt. Die den geistigen Hintergrund von Musils Werk bildende kulturelle Aufbruchs- und Reformbewegung der Jahrhundertwende, Nietzsche und die Lebensphilosophie, Impressionismus und Jugendstil, Ästhetizismus und die Suche nach neuen ethischen Werten, die Verkündung eines neuen Menschen und die Lebensreform, wurde in den Vorkriegsjahren von keiner anderen Zeitschrift auf so hohem intellektuellen Niveau diskutiert und reflektiert. Das 1890 als Kampforgan der Berliner Naturalisten unter dem Titel "Freie Bühne für modernes Leben" vom Theaterkritiker Otto Brahm und dem Verleger Samuel Fischer gegründete Periodikum war in den Jahren nach 1900, unter der Ägide Oskar Bies, auf seinem Höhepunkt. Die bedeutendsten Intellektuellen der Zeit publizierten in ihm: Gerhart Hauptmann, Maurice Maeterlinck, Ellen Key, Georg Simmel, Max Scheler, Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal, Hermann Hesse, Hermann Bahr, Alfred Kerr - die Reihe großer Namen ließe sich beliebig fortsetzen.
Doch der Erfolg der Zeitschrift, die 1914 ihr 25-jähriges Bestehen feierte, konnte nicht über einen womöglich fatalen Generationswechsel hinwegtäuschen. Neue literarische Zeitschriften wie die in Berlin seit 1911 erscheinende Wochenschrift "Die Aktion" wurden zu Foren junger Avantgardekünstler, die sich von der um 1900 groß und erfolgreich gewordenen Autorengeneration und ihren Periodika polemisch abgrenzten. In Leipzig hatte Kurt Wolff, der "Verleger des Expressionismus", um 1913 längst eine Reihe junger Autoren um sich geschart, darunter Arnold Zweig, Walter Hasenclever, Franz Kafka, Max Brod und Hugo Ball.
Bissig kommentierte 1914 der Schweizer Kritiker Eduard Korrodi in der "Neuen Zürcher Zeitung" den sich ankündigenden Generationswechsel: "Als kürzlich 'Die neue Rundschau' das fünfundzwanzigste Jahr ihres Bestehens feierte, vergaß sie in ihrer Jubiläumsbilanz freilich etwas mitzurechnen: das erste Silberhaar der Jubilanten. Immer jung gab sich der Geist der 'Neuen Rundschau', als David mit der Harfe oder der Schleuder; jetzt aber, da seine Zauberlehrlinge Hauptmann, Schnitzler, Bahr, Altenberg zu Jahren kommen und ergraute Meister werden, wird 'Die neue Rundschau' ein getreuer Eckart werden müssen, der seine Meister beschützt, bis sie Patriarchen werden." Die "Neue Rundschau" war in Gefahr, zum Verlautbarungsorgan einer über kurz oder lang obsolet werdenden Autorengeneration zu werden. Im Rückblick erscheint die Zeit unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg als "heiße Phase", in der die Literatur dabei war, eine neue, zu diesem Zeitpunkt erst diffus erkennbare Richtung einzuschlagen. Die Entwicklung in ihrem Sinne zu beeinflussen, versuchten viele Teilnehmer des Literatursystems, unter ihnen auch der Verleger Samuel Fischer und der Dichter Robert Musil.
Fischer fühlte sich unter Zugzwang. Die Einstellung Musils als Redakteur stand im Kontext einer vom Verleger eingeleiteten Verjüngungskur seines Unternehmens. In dem mit dem Dichter geschlossenen Verlagsvertrag heißt es, Musils Aufgabe bestehe in der "Heranziehung der jungen Schriftsteller-Generation, die Einholung und redaktionelle Sichtung der Produktion zur Veröffentlichung in der Neuen Rundschau, eventl. auch zur Buchausgabe für den Verlag. [...] Es obliegt ihm ferner die kritische Begründung und Führung dieser Gruppe in der Rundschau durch Essais und Aufsätze." Mit Musil sollte Fischers Zeitschrift auch weiterhin an der Spitze des kulturellen Fortschritts marschieren, wenn nicht gar wieder seine Richtung bestimmen.
Kann man sich den Solitär Musil als Lektor, Förderer, gar als "Führer" und Kopf ausgerechnet der Expressionisten, wie es etwa ein Hermann Bahr den Jung-Wiener Dichtern war, vorstellen? Bis dahin erst durch zwei schmale Bücher und einige Essays hervorgetreten, wollte er seine künstlerische Krise, die Gefühle von Isolation, Stagnation und Anomie überwinden, indem er eine Schlüsselstelle und Führungsposition im Literaturbetrieb besetzte, sein ästhetisches Programm als Redakteur und Kritiker beim wichtigsten Literaturorgan des bedeutendsten Verlages der Zeit ins Literatursystem einspeiste. In Berlin, am Quellpunkt der Entwicklung, wo sich zu diesem Zeitpunkt praktisch sämtliche kommunikativen Zentren der "jüngsten Generation" (Zeitschriften, Cafés, Clubs, Varietés, literarische Gruppierungen usw.) befanden, hoffte er, den Kurs der literarischen "Vorhut" in seinem Sinne beeinflussen zu können. Glaubte er wirklich, dass sich die "Jüngsten" von ihm formen und lenken lassen würden?
Tatsächlich war Musil, so erstaunlich das heute scheint, Kenner, wenn nicht Teil der frühexpressionistischen Szene. Nicht nur verkehrte er im "Café des Westens", unter Insidern "Café Größenwahn" genannt, wo er Else Lasker-Schüler traf und ebenso, wie der Musil-Biograph Karl Corino vermutet, Herwarth Walden und Erich Mühsam. Auch die Reihe der Namen der von ihm in seiner kurzen Zeit bei der "Neuen Rundschau" geförderten, rezensierten oder der nachweislich mit ihm bekannten Autoren belegt dies: darunter Reinhard Johannes Sorge, Carl Einstein, Max Brod, Leonhard Frank, Franz Jung und Alfred Wolfenstein. Mit Mitgliedern des "Aktions"-Kreises von Franz Pfemfert, dessen Veranstaltungen er besuchte, war er ebenso bekannt, wie mit dem Verleger Kurt Wolff oder mit Kurt Hiller, dem Kopf des "Neopathetischen Cabarets", den er bereits seit 1910 kannte.
Ob Musil für die Aufgabe, Fischers Verlag und Zeitschrift wieder zur literarischen Vorhut aufschließen zu lassen, der geeignete Mann war, darf dennoch bezweifelt werden. Große Skepsis zeigte Fischers Lektor Moritz Heimann in einem Brief an den Verleger, wenige Tage nach Musils Vorstellungsgespräch. Das ausführliche Schreiben erlaubt es, die Hintergründe dieses Unternehmens zu rekonstruieren. Über den "Anreger" des Planes urteilt Heimann kritisch: "Auch ist Herr Musil ohne Zweifel ein Mann von ungewöhnlichen Eigenschaften: gebildet, kenntnisreich, von tiefem und starkem Verstand, höchst talentvoll und dabei in sozialem Sinne klug und klar. / Dennoch hatte ich - nicht ein Bedenken, aber doch ein 'Zubedenken'. Sein Talent, das unnachgiebig und diamanthart ist, ist doch auch zähe und entbehrt der eigentlichen Produktivität, worunter ich nicht die Menge des Geschaffenen verstehe, sondern eine eigentümliche, schwer zu definierende Spannung. Ganz im Einklang damit ist es, daß seine Natur und sein Geist um sich selber kreisen, in allen Instinkten exklusiv sind und des Hochmuts sich nur aus Höflichkeit entschlagen. Alle seine Äußerungen in der Rundschau litten, bei sonstiger hoher Qualität, daran, daß sie die Objekte falsch bis zur Unwahrhaftigkeit einstellten."
Lebendiges Denken statt toter Begriff
Am 1. Februar 1914 trat Musil in die Redaktion der "Neuen Rundschau" ein. Die Arbeitsbedingungen scheinen außergewöhnlich gut gewesen zu sein. Musil musste im Verlagsgebäude in der Bülowstraße 90 im Berliner Westen nur Dienstag und Freitag von 15 bis 16 Uhr Sprechstunden halten. Alle zwei bis drei Monate hatte er eine Folge seiner unter dem Titel "Literarische Chronik" erscheinenden Sammelrezensionen abzuliefern.
Bis zum Kriegsausbruch im August entfaltete der neue Redakteur einiges an Aktivität und knüpfte, seiner Aufgabe entsprechend, sogleich Kontakte zu jungen Autoren. So kontaktierte er etwa im Februar über Max Brod einen vielversprechenden Newcomer, nämlich Franz Kafka, von dem 1913 bei Rowohlt die "Betrachtung" und bei Kurt Wolff das "Heizer"-Fragment erschienen waren. Kafka, von Jugend an ein "Neue Rundschau"-Leser, stürzte das Angebot sogleich in Selbstzweifel: "Du hättest", schreibt er, von Zahnschmerzen geplagt, seinem Freund Brod, "Musil meine Adresse gar nicht geben sollen. Was will er? Was kann er, und überhaupt jemand, von mir wollen? Und was kann er von mir haben?"
Immerhin hatte er die "Verwandlung" anzubieten. Die Erzählung scheint Musil so sehr gefallen zu haben, dass er Kafka als festen Mitarbeiter für die Zeitschrift gewinnen wollte. Für Kafka, der nach Möglichkeiten suchte, seinen Prager Posten aufzugeben und sich in Berlin mit journalistischen Arbeiten durchzuschlagen, eine Schicksalsfügung, wie es schien. Doch aus dem Coup wurde nichts. Weil Musil, offenbar auf Druck Fischers und Oskar Bies, Kürzungen im Umfang von einem Drittel des Textes verlangen musste, sah sich Kafka genötigt, den Text zurückzuziehen: "Verehrter Herr Doktor! / In dieser Sache geschieht mir Unrecht und gewiß auch Ihnen. Die Geschichte wurde geprüft, lag genug lange in der Redaktion, um in jeder Hinsicht, auch auf die Länge hin, geprüft werden zu können und wurde schließlich bedingungslos angenommen oder vielmehr nur unter der einen von mir überreichlich erfüllten Bedingung, daß man mit der Veröffentlichung längere Zeit warten dürfe. Und jetzt nachdem auch seit dieser Annahme Monate vergangen sind, verlangt man, ich solle die Geschichte um 1/3 kürzen. Das ist unwürdig gehandelt." Für den neuen Redakteur mit der Aufgabe, herausragende Produktionen "jüngster" Literatur einzuholen, war dieser Vorfall ohne Zweifel eine Niederlage.
Einblicke in das gesellschaftliche Leben als "Neue Rundschau"-Redakteur gewähren einige Tagebucheintragungen, Impressionen von Abendgesellschaften im Hause Fischer. So lernte Musil in dieser Zeit Walther Rathenau kennen, der den "lieben Doktor" gleich "freundschaftlich beim Oberarm" fasste, ein, könnte man sagen, für den Industriemagnaten fataler Annäherungsversuch - denn er "erleuchtete [...] mich als Vorbild zu meinem großen Finanzmann": die Figur des Großschriftstellers Arnheim war geboren. Musil revanchierte sich für diese, ihn noch Jahre später verfolgende narzisstische Kränkung, indem er Rathenaus "Zur Mechanik des Geistes", immerhin im S. Fischer Verlag erschienen, in einer der nächsten Ausgaben verriss. Ein Einstand, der dem neuen Redakteur zumindest Aufmerksamkeit beschert haben dürfte.
Die Ausgaben der "Neuen Rundschau" bis zum August 1914 zeigen, wie sehr Musil, als dritter Redakteur neben Bie und Samuel Saenger, die Zeitschrift inhaltlich geprägt hat. Etwa durch die Auswahl entsprechender Beiträge. Auch wenn die Belege für die angestrebte Öffnung gegenüber der jungen Autorengeneration, so Beiträge von Kurt Hiller, Gedichte von Robert Walser und Alfred Wolfenstein, quantitativ eher die Ausnahme blieben.
Aufschlussreicher für die ästhetischen Ziele, mit denen Musil bei Samuel Fischer anheuerte, sind freilich seine eigenen literaturkritischen Beiträge. Da sind erstens die überwiegend ablehnenden Besprechungen von, im weitesten Sinn, essayistisch-lebensphilosophischen Werken wie dem Rathenaus. Und da sind zweitens jene Kritiken, in denen er sich, seiner Aufgabe entsprechend, mit Vertretern der "jüngsten" Dichtung und Werken des Frühexpressionismus auseinandersetzt. Kennt man Musils Neigung für polemische Verrisse, nicht zuletzt bei expressionistischen Werken, aus seinen Theaterkritiken aus den zwanziger Jahren, fällt auf, dass die Besprechungen in der "Neuen Rundschau", von einzelnen, behutsam formulierten Einwänden abgesehen, durchweg von Zustimmung, mitunter gar von Begeisterung zeugen. Sie belegen Musils Verbundenheit mit dieser Autorengeneration wie auch sein Bemühen, sich den jungen Autoren als Förderer und Impulsgeber zu empfehlen.
Zentral für seine Wertungspraxis sind Fragen der Wirkung von Kunst, ein Charakteristikum der expressionistischen Literaturkritik generell, für die die affektiven Wirkungen von Literatur (z. B. "Erschütterung") dominierende Werte darstellten. Das spezifische Kunsterlebnis, Haltung und Charakteristiken des besprochenen Autors bzw. Werkes vermittelt Musil mithilfe von Vergleichen und Metaphern, die seinen Rezensionen eine eigene Poetizität verleihen und die Literatur nicht dem toten Begriff überlassen, sondern dem lebendigen Denken. Ein Beispiel dafür findet sich in einer Besprechung, in der Musil Kafka mit Robert Walser vergleicht: Der Unterschied zwischen den beiden bestehe darin, "daß hier [bei Kafka] die gleiche Art der Erfindung in traurig klingt wie dort [bei Walser] in lustig, daß dort etwas frisch Barockes ist und hier in absichtlich seitenfüllenden Sätzen eher etwas von der gewissenhaften Melancholie, mit der ein Eisläufer seine langen Schleifen und Figuren ausfährt."
Eingeschoben in die unter dem Titel "Literarische Chronik" erscheinenden Sammelrezensionen finden sich auch (gattungs-)poetologische Reflexionen Musils, darunter ein Konzentrat der Musilschen Novellentheorie: "Eine plötzliche und umgrenzt bleibende geistige Erregung ergibt die Novelle; eine lang hin alles an sich saugende den Roman. [...] In diesem einen Erlebnis vertieft sich plötzlich die Welt oder seine Augen kehren sich um; an diesem einen Beispiel glaubt er zu sehen, wie alles in Wahrheit sei: das ist das Erlebnis der Novelle."
Intellektuelle Schärfe, Nüchternheit, Askese, Disziplin, Konstruktivität, der Aufbau neuer ethischer Werte - das sind die Eigenschaften und Werte, die Musil in seinen Besprechungen frühexpressionistischer Texte favorisiert. Bereits 1913 polemisiert er gegen den einseitigen Gefühlskult in der Dichtung: "Wir plärren für das Gefühl gegen den Intellekt und vergessen, daß Gefühl ohne diesen - abgesehen von Ausnahmefällen - eine Sache so dick wie ein Mops ist. Wir haben damit unsre Dichtkunst schon so weit ruiniert, daß man nach je zwei hintereinander gelesenen deutschen Romanen ein Integral auflösen muß, um abzumagern." Entsprechend lobt er jetzt an Carl Sternheims Novelle "Busekow" "die außerordentliche Disziplin, die Kälte, die Geometrie, die Nüchternheit dieses Dichters: das ist trocken saubere Menschenart. Ist einer, der in hartem Holz zu sägen liebt und nicht Laubstreu für Lesekühe schneidet."
Kein Laubstreu für Lesekühe
Warum aber dann, bei all dieser Zustimmung zur "jüngsten Generation", Musils Ablehnung des Expressionismus in den zwanziger Jahren? Warum die vielen polemischen Distanzierungen, die im Licht seines Vorkriegs-Engagements an den Groll eines enttäuschten Liebhabers erinnern?
An den Vertretern der "jüngsten Literatur" schätzte er, was er in den Werken des während der Kriegsjahre populär gewordenen Expressionismus nicht mehr finden konnte, eben das hohe intellektuelle Niveau dieser Literatur. Gerade in seinem von ihm immer wieder formulierten Ziel, nicht weniger, sondern mehr Intelligenz, "Geist" und (auch wissenschaftliche) Erkenntnis in die Literatur zu bringen, sah er sich mit den Frühexpressionisten eins. Der Nachkriegs-Musil konnte zwischen sich und den während seiner Zeit an der Front erfolgreich gewordenen Autoren keine gemeinsame Basis mehr erblicken. Pathetische Beschwörungsformeln, Wissenschaftsfeindlichkeit und einseitiges Setzen aufs Gefühl, auf affektive Synthese anstelle nüchterner Analyse waren seine Sache nicht. Was der Expressionismus tue, resümierte er 1922, "ist eine Art 'Ideen anbellen', denn in der Tat ist die - mit zwei Ausrufezeichen statt einem Fragezeichen versehene - Anrufung großer Menschheitsideen, wie Leiden, Liebe, Ewigkeit, Güte, Gier, Dirne, Blut, Chaos usw., nicht wertvoller als die lyrische Tätigkeit eines Hundes, der den Mond anbellt, wobei ihm das Gefühl in der Runde antwortet."
Der Kriegsausbruch als "Erlebnis"
Hätte ein fortgesetztes Wirken Musils bei der "Neuen Rundschau" etwas an der gerade durch die apokalyptischen Erfahrungen vieler Dichter an der Front forcierten Entwicklung des Expressionismus geändert? Hätte er sich nicht in formelhaften "Oh Mensch"-Bekenntnissen erschöpft, in in Dichtung gekleidetes humanistisches Engagement? Wäre aus Musil der Programmatiker und Impulsgeber der "jüngsten Generation" geworden, der er werden wollte? Wären die Frühexpressionisten der von Musil gewiesenen Richtung gefolgt? Ein spannendes Gedankenspiel, keine Frage.
Der Kriegsausbruch im August machte Musils Liaison mit dem Frühexpressionismus ein Ende. Zusammen mit den anderen Mitarbeitern der Zeitschrift ergab er sich dem jäh ausbrechenden neuen Gefühl von Gemeinschaft und Kampfeswillen. Intelligenz, Geist, Vernunft - auch Musil wollte davon jetzt nichts mehr wissen. Das von den Vitalisten und Avantgardisten der Zeit, auch von Musil, viel beschworene kathartische "Erlebnis" - endlich schien es da: "Der Tod hat keine Schrecken mehr, die Lebensziele keine Lockung. Die, welche sterben müssen oder ihren Besitz opfern, haben das Leben und sind reich: das ist heute keine Übertreibung, sondern ein Erlebnis, unüberblickbar aber so fest zu fühlen wie ein Ding, eine Urmacht, von der höchstens Liebe ein kleines Splitterchen war." Anders als die meisten übrigen "Geisteskrieger" der "Neuen Rundschau" zog Musil nicht nur rhetorisch in den Krieg. Ein Jahr zuvor noch wegen Herzrasens und Neurasthenie unfähig, als Bibliothekar zu arbeiten, rückte er am 20. August 1914 nach Linz zum k.u.k.-Landsturm ein und wurde Kommandant einer Landsturm-Marschkompagnie.
Der Erklärung dieses von der Generalmobilisierung der Gesellschaft ausgelösten "Fiebers", des "Sommererlebnisses im Jahre 1914", und seiner irritierenden Nähe zum neomystischen "anderen Zustand", beschäftigte Musil, zumal in der Arbeit am "Mann ohne Eigenschaften", bis an sein Lebensende. Sein Vorkriegsengagement bei Fischers "Neuer Rundschau" aber, sein Bemühen, sich als Führer der "jüngsten Dichtung" zu profilieren, im Rückblick erscheint es als der verzweifelte Versuch, sein persönliches Bedürfnis nach Zugehörigkeit zum gesellschaftlichen Ganzen zu befriedigen und innerhalb des Literaturbetriebs eine Schaltstelle zu übernehmen, um auf die Literatur und über die Literatur auf die Gesellschaft einzuwirken.
Dem Beitrag liegt mein Aufsatz "Ein Mann von ungewöhnlichen Eigenschaften" - Robert Musil, die 'Neue Rundschau', der Expressionismus und das 'Sommererlebnis im Jahre 1914'". In: Weimarer Beiträge 49 (2003), Nr. 3, S. 325-360, zugrunde.