Eine Vergegenwärtigung der Theologie Martin Luthers

Über Oswald Bayers theologische Studie

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Martin Luthers Theologie übt seit dem 19. Jahrhundert auf Theologen, Kulturhistoriker und Soziologen einen nicht geringen Reiz aus. Dem regen Interesse stehen eine Anzahl von wissenschaftlichen Arbeiten gegenüber, die lutherisches Gedankengut als Gesamtentwurf einer breiten Leserschaft präsentieren. Die Darstellung seiner theologischen Grundgedanken ist jedoch mit einer Schwierigkeit behaftet: Luther selbst hat nie ein theologisches System entworfen, und seine Schriften waren überwiegend Gelegenheitsschriften. Den heute gängigen Gesamtdarstellungen der Theologie Luthers (Althaus, Ebeling, Pesch, Lohse) ging deshalb zumeist eine jahrzehntelange Beschäftigung der Autoren mit Luther-Texten voraus. Das Buch des Tübinger Theologen Oswald Bayer bildet hier keine Ausnahme: Bayer legt unter Aufnahme einer Reihe vorliegender Publikationen den Ertrag seiner über vierzigjährigen Arbeit "an und mit Luther" vor.

Im Vorwort gibt der Autor Auskunft über Methodik, Ziel, Themen und Aufbau der Untersuchung. Bayer nähert sich seinem Gegenstand als Systematiker und befragt die Texte durch sorgfältige historisch-philologische Analyse auf das ewig Gültige und Bleibende hin. Es geht dem Autor dabei nicht um eine "nur historische Rekonstruktion", sondern letztlich um die "Wahrheitsfrage" selbst. Diese gründet nach Luther nie in einem theoretischen Gottesbegriff, sondern tritt stets als konkreter Anspruch und Zuspruch Gottes an den Menschen heran. Bayer scheut sich deshalb nicht, neuzeitliche theologische Entwürfe - hier ist vor allem an Schleiermacher zu denken - oder die modernen Begriffe "Individualismus" und "Subjektivismus" von Luther her kritisch zu beleuchten.

Ein weiteres auffallendes Element des Ansatzes besteht darin, die "eigene Gegenwart im Lichte jener Fragen zu prüfen, die auch Luther ein Leben lang beschäftigten". Bayer setzt die Gegenwartsfragen nach der Vergewisserung des Heils und nach dem Bösen in der Welt mit Luthers exegetischen Einsichten in Beziehung. Der Zwiespältigkeit des menschlichen Daseins sei der Theologe nicht ausgewichen, sondern habe zwischen einem verborgenen und einem offenbaren Gott unterschieden. Die Rätselhaftigkeit der menschlichen Existenz spiegelt sich für ihn in dem Kampf Jakobs mit einem Dämon an der Furt des Jabbok, aus dem Jakob jedoch gesegnet hervorging.

Das "Urmotiv" der Theologie erkennt Bayer in dem paulinischen Leitsatz "Ihr seid zur Freiheit berufen!". Daneben komme der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium konstitutive Bedeutung für das Verständnis der Theologie Luthers zu. Ferner verweist Bayer auf die reformatorische Parole "Rechtfertigung allein aus Glauben", wenn es darum geht, die grundlegenden Themen der Theologie Luthers zu benennen. Der Entfaltung der dogmatischen Loci (Schöpfung, Anthropologie, Christologie, Ekklesiologie, Eschatologie) gehen die Prolegomena voraus. Sie sind unterteilt in die Abschnitte "Theologieverständnis", "Gegenstand der Theologie", Bestimmung des "Reformatorischen" und "Schriftautorität".

Leitend für Bayers Konzept ist ein an Luther geschultes Theologieverständnis und der Anspruch, akademische Wahrheitssuche und die Tröstung der geängstigten Gewissen nicht auseinanderfallen zu lassen. Der Zuspruch, die so genannte promissio, spielt für den Systematiker eine wichtige Rolle. Das Urereignis der Reformation sieht er in der Entdeckung des Promissio-Begriffs. Der Heilszuspruch sei wesentliches Interpretament und zugleich Mitte der Theologie Luthers. Der Zuspruch als performativer Akt konstatiert nicht bloß einen schon von vornherein gegebenen Sachverhalt - in diesem Fall die dem Menschen mit der Sündenvergebung neu eröffnete Gottesbeziehung -, sondern konstituiert vielmehr eine neue Existenzweise, schafft sie also erst. Im Absatz über das Schriftverständnis betont Bayer die einzigartige Wirkkraft des Wortes und dessen Unverfügbarkeit gegenüber allen menschlichen Auslegungskünsten und Ansprüchen der Vernunft: "Die Schrift sorgt also für ihre Auslegung selbst, sie ist ihr eigener Interpret: Sacra scriptura sui ipsius interpres".

Die ausführliche Darstellung von Luthers Theologie im Hauptteil beruht auf einer eingehenden philologischen Analyse und Auslegung grundlegender Luther-Texte. Die vorherrschende Trias ist dabei der Katechismus, die Bibelvorreden und Luthers Lieddichtung; intensiv setzt sich Bayer hier vor allem mit dem Lied "Nun freut euch, lieben Christen g'mein" auseinander. Daneben sind es konkret die Schlüsseltexte lutherischer Theologie wie der Traktat "Von der Freiheit eines Christenmenschen" und die Schrift "De servo arbitrio" (Vom unfreien Willen), die Bayer durch längere Zitatpassagen der Leserschaft vor Augen stellt und damit neu ins Bewusstsein rückt. Seiner umsichtigen Interpretation ist es dabei zu verdanken, dass die Theologie Luthers in auffallend scharfen Konturen hervortritt. Dies geschieht nicht zuletzt dank der spürbar existentiellen Auseinandersetzung Bayers mit den Schriften des Reformators. Der methodische Zugriff, die Texte auf ihren Zuspruchscharakter hin zu untersuchen, fördert überraschend neue Einsichten zutage. Gleichzeitig wird aber auch das Basiswissen in einer klaren und verständlichen Sprache vermittelt. Erwähnung verdient ferner die Transparenz der zahlreichen biblischen Belegstellen, die Bayer nicht nur anführt, sondern deren Bedeutung er gleichzeitig für Luthers Denken aufzeigt.

Wenn es in Bayers Absicht lag, Luthers Theologie zu vergegenwärtigen - so die Ankündigung im Untertitel des Buches -, dann ist ihm dies auf beeindruckende Weise gelungen. Insgesamt ein spannendes wie erhellendes Leseerlebnis und dies sicher auch für Nicht-Theologen.

Titelbild

Oswald Bayer: Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung.
Mohr Siebeck, Tübingen 2003.
354 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-10: 3161481224

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