Ich muss reden, weil ich schweigen muss

Marcel Reifs Autobiographie "Aus spitzem Winkel"

Von Martin RichlingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Richling

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Marcel Reif ist als einer der wenigen Fußballreporter bekannt, dessen Ausführungen nicht zu neunzig Minuten anhaltenden Ohrenschmerzen führen. Für dieses Talent wurde er mit dem begehrten Grimme-Preis ausgezeichnet. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob deshalb auch eine Autobiographie erscheinen muss, denn die Motivation zu Reifs plötzlicher Autorenkarierre dürfte vor allem dem allgemeinen Fußball-Hype entsprungen sein, der schon die geschäftstüchtigen (Ex-)Fußballer Oliver Kahn, Stefan Effenberg und Günther Netzer zu plötzlichen Kreativitätsschüben veranlasst hat. So beseitigt schon ein Blick auf die erste Seite des Buches die Hoffnung, dass der Meister des schnell gesprochenen Wortes sich nun ehrgeizig der Form des geschriebenen Wortes zuwendet: Mit Christoph Biermann, Sportkorrespondent der "Süddeutschen Zeitung", greift Reif auf einen Profi als Mitautor zurück.

Große Literatur, dies gleich vorangestellt, ist "Aus spitzem Winkel" nicht. Sprachlich bietet es nicht mehr als ein schnelles, professionelles, bestenfalls das kleine Bonmot suchende Zweckdeutsch. Doch besitzt das Buch durchaus jenen Reiz, den die meisten Autobiographien bieten und der letztlich in dem neugierigen Blick auf ein fremdes Leben gründet. Die interessantesten Teile des Buches liegen in den Schilderungen der frühen Kindheitstage in Polen, Tel Aviv und Kaiserslautern sowie in der Beziehung zu seinem Vater, der den kleinen Marcel schon früh für den Fußball begeistern konnte. Was andere in jüngster Zeit erschienene Fußballbücher mit kulturphilosophischen Fragestellungen mehr oder weniger glücklich wissenschaftlich aufbereiten, wird in "Aus spitzem Winkel" anhand der Lebensgeschichte von Reif konkretisiert: Etwa wie Fußball als Integrationshilfe für den Deutschlerner Marcel dient, der gerade über den Umweg Tel Aviv aus Polen nach Kaiserslautern gekommenen ist. Oder auch wie Fußball als große Metapher, als Lebensanschauung gerade in der Bevorzugung spezieller Spielertypen, etwa des schlampigen Genies oder des soliden Kämpfers funktioniert. Reif findet schon als Dreikäsehoch seine Lebensanschauung in Co Prins manifestiert, dem lässig auftretenden holländischen Spielmacher des 1. FC Kaiserslautern, der einen Hauch von Welt in die verschlafene Provinz der Westpfalz bringt. Von hier an stellt sich Reif als liebenswerten Lebemann dar, der ohne große Ambitionen über den Umweg des Nachrichtenredakteurs beim ZDF in die Sportjournalistenkarriere hinein geschlittert ist. Der Hang Reifs zur unbeschönigenden Ironie, die ihn auch als Fußballkomentator auszeichnet, tut gerade diesen Passagen gut. Nebenbei eröffnen sich interessante Einblicke in den Arbeitsalltag von Sportjournalisten - der, wenn man Reif Glauben schenken darf, genauso leicht und locker ist, wie man sich es immer vorgestellt hat - und Nachrichtenredakteuren. Dabei offenbaren beide Berufe in ihrer gleich gestrickten Tagesaktualität und Oberflächlichkeit frappierende Analogien. Mit erfrischender Ehrlichkeit schildert Reif, wie ihm Charme und Eloquenz zu einer glänzenden Karriere in beiden Branchen verholfen haben.

Besonders interessant wird der Lebensrückblick jedoch dort, wo Leerstellen vermutet werden müssen. Diese sind in mancher Hinsicht prototypisch für eine Befindlichkeit, die man gemeinhein einer früheren Generation als derjenigen Reifs zusprechen würde, aber anscheinend auch in dessen Generation noch vorhanden ist. Die Rede ist von der mangelnden Aufarbeitung des "Dritten Reiches". Der Vater hat als polnischer Jude schwer unter der Verfolgung durch das Regime gelitten und sich darüber gegenüber seinem Sohn nie geäußert. Aus Angst, seinen Vater mit hässlichen Erinnerungen zu quälen, hat Marcel ihn wohl auch nie besonders dazu gedrängt - und das Schweigen auch für sich selbst als angemesse Form des Umgangs mit der Geschichte angenommen. Noch heute, so Reif, zappe er sofort weiter, wenn im TV eine Dokumentation über die NS-Zeit zu sehen sei.

Vor allem beim Fußball konnte Reifs Vater mit seinem Sohn Spaß finden und die Vergangenheit vergessen. Fußball als Eskapismus - diese Funktion des Sports zieht sich ebenfalls wie ein roter Faden durch das Buch, etwa wenn Reif bekennt, dass er an dem Menschen hinter dem Fußballstar nicht interessiert sei, und dies aus dem Grund, "damit die schöne Oberfläche keine Risse bekomme", er weiter unbeschwert die "Aura atmen" könne. "Ich muss reden, weil ich schweigen muss" - so hätte das Buch statt des eher nichtssagenden Titels "Aus spitzem Winkel" auch heißen können.

Titelbild

Marcel Reif: Aus spitzem Winkel. Fußballreporter aus Leidenschaft.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004.
224 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3462033735

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