Ein Hauptwerk der Frühaufklärung - verknappt

Dreiunddreißig Artikel aus Pierre Bayles "Historischem und kritischem Wörterbuch" in einer neuen (Teil-) Übersetzung

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Star der europäischen Frühaufklärung war Pierre Bayle, geboren am 18. November 1647 in der Nähe von Toulouse als Sohn eines protestantischen Pfarrers, gestorben am 28. Dezember 1706 in Rotterdam als einer der bekanntesten Publizisten seiner Zeit. Er war es, der nicht nur der Metaphysik seiner Zeit, sondern jeder Metaphysik den empfindlichsten Streich bei- und sie theoretisch um jeden Kredit brachte, wie knapp anderthalb Jahrhunderte später der materialistische Denker Karl Marx bewundernd feststellte.

Der Bildungsgang des jungen Bayle war noch nicht absonderlich. Er wurde bis zu seinem 18. Lebensjahr von Hauslehrern erzogen, er studierte ab 1666 an einer protestantischen Akademie, ab 1669 an einem katholischen Jesuitenkolleg. Das war nicht ungewöhnlich für seine Zeit. Aber Bayle musste sich auf die religiösen Grundlagen seiner Institute tiefer eingelassen haben als üblich. Während der Zeit am Jesuitenkolleg wechselte er die Konfession, um nach anderthalb Jahren wieder zum ursprünglichen Bekenntnis zurückzukehren: Symptom einer Verunsicherung, die wohl der Keim für seine spätere Überzeugung von der Unbeweisbarkeit jeder Glaubenslehre war.

Der doppelte Religionswechsel war in Frankreich damals verdächtig. Bayle musste 1670 ins Exil gehen, studierte im calvinistischen Genf weiter. 1675 konnte er nach Frankreich zurückkehren und erhielt eine Stelle an der protestantischen Akademie von Sedan. Diese wurde aber durch königlichen Erlass 1681 geschlossen (ein Vorbote der Aufhebung des Toleranzedikts von Nantes durch Louis XIV. im Jahre 1685), worauf Bayle wieder ins Exil ging. Im freigeistiger gesinnten Holland erhielt er eine Professur an der neu gegründeten Hochschule von Rotterdam.

Er kam dort mit einem Manuskript an, das einen 1680 erschienenen Kometen zum Anlass nahm, in Briefform gegen den Aberglauben im weitesten Sinn zu polemisieren. Vor allem aber waren die "Verschiedenen Gedanken über einen Kometen", erschienen 1683, ein Plädoyer für Toleranz und für eine laizistische Moral. Religion hielt Bayle für nicht vernünftig begründbar und Ungläubige nicht per se für amoralisch: Vielmehr sei auch ein atheistischer Staat denkbar, der sich in seiner Moralität nicht von einem christlichen Staat unterscheide. Zwar propagierte Bayle keineswegs den Atheismus, doch war die Sittlichkeit seiner Ansicht nach nicht aus einer Weltanschauung oder aus einem Glaubensbekenntnis ableitbar. Doch selbst das war sogar für die liberalen Protestanten in Holland zu starker Tobak; nach einer schmutzigen Kampagne verlor Bayle 1693 seinen Lehrstuhl.

Der Rotterdamer Verleger Reinier Leers bot Pierre Bayle daraufhin ein bescheidenes Jahresgehalt an, wenn er ihm ein Wörterbuch schriebe, mit dem er gegen das 1674 erschienene "Grand Dictionnaire Historique" des Abbés Louis Moréri (1643-1680) konkurrieren könnte. Moréris "Dictionnaire" war als Verteidigung der Kirche angelegt und als eine der ersten volkssprachigen Enzyklopädien ein großer ökonomischer Erfolg (zwanzig Auflagen bis 1759). Bayle nahm an und schuf in den nächsten Jahren sein "Dictionnaire Historique et Critique", das in zwei Bänden 1695 und 1697 (Mikrofiche-Ausgabe Erlangen 1998) erschien: ein antiklerikaler Gegenwurf zu Moréri und ein Grundbuch der skeptizistischen Aufklärung.

Einer älteren Untersuchung über die großen Privatbibliotheken im Frankreich des 18. Jahrhunderts zufolge war Bayles "Dictionnaire" das meist verbreitete Werk seiner Zeit. Eine englische Übersetzung erschien 1734-1738 (Reprints New York 1984, Bristol 1997), eine deutsche Übersetzung 1741-1744 (Reprint Hildesheim 1974-78; ²1997). Bayle hatte weiterhin an der Erweiterung und Korrektur seines Werks gearbeitet und vermachte die entsprechenden Manuskripte seinem Verleger. Die sogenannte "fünfte" (recte: achte) Ausgabe, die heute als die zuverlässigste gilt und die 1740 erschien (Reprint Genf 1995), war auf vier Bände im Folioformat mit je rund 800 Seiten angewachsen: über 3.200 Seiten mit über 2.000 Artikeln (fast ausschließlich Personen- oder Städteartikel). Ein wahrhaft monumentales Werk!

Und ein Bestseller. Das liegt nicht zuletzt an Bayles, man könnte sagen: anekdotischer Schreibart, die diese Enzyklopädie lesbar macht wie kaum ein anderes Nachschlagewerk. Die Anekdoten sind mitunter 'pikant', jedenfalls waren sie es für den damaligen Geschmack, so dass sich der Autor schon in einer Klarstellung zur zweiten Ausgabe wegen der angeblichen Obszönität einiger Artikel rechtfertigen zu müssen glaubte. Doch Bayles unterhaltsame Schreibe passte zum libertinen Duktus des Denkens, und beides garantierte den Erfolg des Werks auf lange Sicht. Noch zwei Jahrhunderte später schrieb der österreichische Philosoph Fritz Mauthner: "Das historische und kritische Wörterbuch von Pierre Bayle war und blieb durch mehr als ein Jahrhundert das Konversationslexikon aller skeptischen Geister. Trotz seiner unhandlichen Ausgabe in riesigen Foliobänden legt man es nicht gern aus der Hand; ich wenigstens konnte oft stundenlang nicht wieder loskommen, wenn ich es einmal geöffnet hatte. Pierre Bayle liest sich bald wie Voltaire oder Lessing, bald (namentlich in den gepfefferten Anmerkungen aus dem Gebiete der Mythologie und Theologie) wie ein altmodischer Heinrich Heine".

Eine erste deutsche 'Gesamtübersetzung' erschien, wie gesagt, 1741-1744 unter dem Patronat von Johann Christoph Gottsched in Leipzig. Sie enthielt jedoch viele grobe Fehler: Zuvorderst zu nennen sind die Übersetzungsfehler, die mitunter so weit gehen, dass im Deutschen das inhaltlich genaue Gegenteil zum französischen Original zu lesen ist. Insofern war es wirklich Zeit (angesichts des mittlerweile starken Interesses an der Frühaufklärung, das sich ja nicht zuletzt an den genannten Reprints aus den letzten beiden Jahrzehnten ablesen lässt), dass wir eine ordentliche Übersetzung erhalten. Aber es kann sich kein Verlag leisten, ein solch monumentales Werk der frühen Aufklärung, sei es auch noch so wichtig (und aktuell), komplett neu übersetzen zu lassen. Im Meiner-Verlag erschien letztes Jahr daher auch wieder nur eine Auswahlausgabe, aber immerhin die erste seit dem 18. Jahrhundert, die nicht effekthascherisch auf die angeblichen Obszönitäten setzt, sondern "die interessantesten Artikel" korrekt übertragen präsentiert. Immerhin summiert sich die Auswahl auf fast 680 Seiten, die durch eine 82-seitige Einleitung und ein 40-seitiges Namen- und Sachregister erschlossen werden.

Aber was heißt: "die interessantesten Artikel"? Die beiden Übersetzer und Herausgeber Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl haben 33 Artikel ausgewählt, die sie in neuer Übertragung zusammen mit den vier "Klarstellungen" (in denen sich Bayle mit Reaktionen auf sein Werk auseinander setzte) präsentieren. Es sind die Artikel, die in der Philosophiegeschichte die größte Aufmerksamkeit erfahren haben und in denen sich die "großen Themen" von Bayle ("Skeptizismus und Fideismus, religiöse Toleranz, die Tugendhaftigkeit von Atheisten, die Rechte des irrenden Gewissens, die Unvereinbarkeit von Vernunft und Glauben") am prononciertesten formuliert auffinden lassen. Gegenüber dem ursprünglichen Plan, nur die "philosophisch relevantesten" Artikel zu edieren (was immer das heißen mag), wurde der Band immerhin erweitert, und zwar mit der expliziten Absicht, "einen etwas umfassenderen Eindruck von Bayles 'Dictionnaire' zu vermitteln". Wodurch der umfassendere Eindruck entstehen soll, bleibt mir allerdings verborgen. Denn die Auswahl von 33 Artikeln vermittelt natürlich nicht im Entferntesten einen, sei es auch maßstäblich verkleinerten, Eindruck vom Ganzen. Außerdem hielten es die Herausgeber nicht für nötig, "die ausgesuchten Artikel jeweils vollständig zu übersetzen". Ihre Kürzungen betreffen angeblich nur den "von geradezu barocker Weitschweifigkeit" geprägten Stil Bayles und den veralteten "philologischen Ballast", von dem "die heute noch interessierenden Goldkörner" überdeckt würden. Als Philologen irritiert es mich jedoch sehr, dass die Kürzungen meistens nicht markiert sind.

Der Kulturhistoriker interessiert sich natürlich auch und gerade für die Missproportionen, hätte die barocke Weitschweifigkeit gern in Kauf genommen und auch die kuriosen Kurzartikel gelesen. In der Einleitung erwähnen die Herausgeber den kürzesten, nur vier Zeilen umfassenden Artikel über Jacques Caniceus, in dem nur steht, dass der Verfasser über diesen Autor nichts habe ermitteln können. Warum schrieb Bayle diese Notiz überhaupt? Sein "Dictionnaire" ist ja mitnichten ein Vollständigkeit anstrebendes Kompendium, die Auswahl der Artikel erscheint im Gegenteil völlig unausgewogen: So gibt es einen Artikel über Aristoteles, aber keinen über Platon; es gibt einen über Mohammed, aber keinen über Jesus; es gibt einen über Spinoza, aber keinen über Descartes. In der Vorrede des Originals behauptete Bayle, er hätte vor allem nichts wiederholen wollen, was in anderen Wörterbüchern und vor allem bei Moréri schon zutreffend dargelegt worden wäre. Wer's glauben mag ... Zwar warf sich Bayle mit Eifer auf angebliche und wirkliche Irrtümer Moréris und erledigte sie mit großem Pomp, doch in Wahrheit ist der Grund für seine merkwürdige Auswahl vermutlich dem radikal subjektiven Zugriff geschuldet. Bayle schrieb einfach über Dinge, die ihn persönlich am meisten interessierten.

So etwa fand er an Epikur vor allem dessen Kosmologie interessant, die bei Leibe nicht das ist, wofür der antike Philosoph berühmt war und ist (das ist seine materialistische Ethik gewesen, kurz das, was man gemeinhin unter "Epikuräismus" versteht): Die Teilübersetzung des Artikels in der vorliegenden Auswahlausgabe vermittelt dagegen ein anderes Bild. Sie bringt nämlich (fast) nur die Stellen, die die Moral Epikurs und dessen widersprüchliche Rezeption behandeln. Allerdings kommt man dadurch einem Kerngedanken Bayles leichter auf die Spur: Die Antike tendiere zum Atheismus, weil sie ein natürliches Denken pflegte, das die biblische Schöpfungsgeschichte mit ihrer impliziten Idee einer sinnvoll geordneten Welt nicht kenne. Die Antike denke nur vernünftig, während die christliche Welt ihren Glauben jenseits der Vernunft gründe.

Manchmal benutzte Bayle irgendjemandes Namen nur als Vorwand, um etwas völlig anderes abzuhandeln: Zum Beispiel den des Thailänders Sommona-Codom oder Sommonokhodom, von dem man nicht einmal erfährt, wann er gelebt hat, sondern nur, dass er ziemlich ehrgeizig war (er strebte angeblich danach, "Gott zu werden" und habe behauptet, schon 550 Mal wiedergeboren worden zu sein) und im 82. Lebensjahr an einer Kolik gestorben sei. Bayle offenherzig: "Ich spreche nur deshalb von ihm, um Gelegenheit zu haben, einen sehr scharfsinnigen Einwand zu prüfen, den mir du Rondel gegen dasjenige gemacht hat, was ich [in der ersten Auflage] im Artikel über Lukrez behauptet habe, nämlich 'dass der Glaube an die Existenz Gottes ohne den Glauben an die Vorsehung kein Motiv zur Tugend sein kann'". Lustlos wird ein (in dieser Auswahlausgabe:) anderthalbseitiges Zitat aus irgendeiner Quelle über Sommona-Codom nachgeschoben, lustvoll dagegen in einer Anmerkung dem Einwand von Rodel repliziert - neuneinhalb Seiten lang.

Das war überhaupt Bayles Verfahren: Objektive Informationen nach damaligem Kenntnisstand als formalen Haupttext zum jeweiligen Lemma zu liefern, dazu aber in den Anmerkungen seine Auslegungen und Reflexionen im wörtlichen Sinn als Subtext, der aber nicht selten der eigentliche Haupttext ist, dazu zu geben. Der Subtext überflügelte den angeblichen Haupttext und stellt Bayles originäre Leistung dar. Nicht selten läuft der sogenannte Haupttext des Artikels im Original nur in wenigen oder gar nur einer Zeile oben auf der Folioseite weiter, während die zweispaltig darunter gesetzten Anmerkungen den Rest des Blatts füllen; dazu kommen die Zitatnachweise und die sich mitunter zu Thesen ausweitenden Zwischenüberschriften in den Marginalspalten. Die kunstvolle typografische Anordnung des Neben- und Untereinander der Originalausgabe musste in der Meinerschen Auswahlausgabe wegen des kleineren Satzspiegels eines Oktavformats in ein Nacheinander aufgelöst worden, doch scheint mir der dadurch entstandene (und von den Herausgebern der Ausgabe leise bedauerte) Verlust an Witz verschmerzbar zu sein, weil die damals durch das Druckbild noch zu befördernde "Autonomie des Lesers" heute dergleichen Maßnahmen (hoffentlich) nicht mehr benötigt.

Die Herausgeber haben ihr Ziel, eine im akademischen Unterricht brauchbare Auswahl zuverlässig übersetzter Artikel aus dem "Dictionnaire" zu schaffen, erreicht. Ein repräsentatives Bild des Gesamtwerks zu geben, mussten sie notwendig verfehlen. Dafür wäre ein weniger philosophiegeschichtlich, eher (um einmal einen Begriff aus der Entstehungszeit zu benutzen:) 'curiös' interessierter Zugang notwendig gewesen. Nichtsdestoweniger gebührt den Herausgebern und dem Verlag der Verdienst, die Aufmerksamkeit wieder mit Nachdruck auf ein Hauptwerk der europäischen Frühaufklärung gelenkt zu haben; ein Werk, dessen Verfasser von Voltaire als einer der herausragenden Dialektiker gerühmt wurde und vor dem der Angelsachse David Hume, obwohl er ihm im Grunde alles verdankte, warnte: "Der schlimme Gebrauch, welchen Bayle und andere Freigeister von dem philosophischen Skeptizismus [...] machten", kann uns heute mehr denn je interessieren, weil er auf eine Negierung jeglichen Fundamentalismus' hinauslief und das aufklärerische Selbstdenken befördert.

"Nota bene", schrieb Bayle in seinem Artikel über die "schändliche Sekte" der Manichäer: "Weil in diesem Artikel [...] und in einigen anderen gewisse Dinge vorkommen, an denen sich viele Personen gestoßen haben und die ihnen geeignet erschienen, glauben zu machen, dass ich dem Manichäismus Vorschub leisten und bei christlichen Lesern Zweifel erregen wolle, so weise ich hier darauf hin, dass man am Ende dieses Werks eine Klarstellung findet, die zeigen wird, dass die Fundamente des christlichen Glaubens hierdurch nicht im geringsten beeinträchtigt werden". Das nahm Bayle auf Grund seiner fideistischen Grundüberzeugung sicher wirklich an; die Rezeptionsgeschichte belehrt uns indessen eines anderen. Bayles Wörterbuch hat die "Fundamente des christlichen Glaubens" beschädigt, das sahen seine klerikalen Kritiker ganz richtig. Grund dafür war die generelle Tendenz, gegen alle Dogmen 'Zweifel zu erregen'.

Die Manichäer fertigte Bayle wegen ihrer "Irrtümer" ab, unter anderen auch deswegen, weil sie gelehrt hätten, "dass die Seele der Pflanzen vernünftig sei", und also hätten sie "den Ackerbau als mörderisches Geschäft verdammt". Aber, so fährt er spitzbübisch fort: "Ihren Anhängern haben sie ihn jedoch zugunsten ihrer Auserwählten erlaubt". Dergleichen Bigotterie entdeck(t)en Bayles Leser vermutlich nicht nur in historischer Rückschau auf den Manichäismus.

Kein Bild

Pierre Bayle: Historisches und kritisches Wörterbuch. Eine Auswahl der philosophischen Artikel.
Herausgegeben und übersetzt aus dem Französischen von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl.
Felix Meiner Verlag, Hamburg 2002.
720 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-10: 3787316191

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch