Aufstieg und Fall eines Geldgeiers

Yi Chong-Juns mitleiderweckende Karikatur erzählt eine altkoreanische Volksdichtung

Von Joo-Ok JoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joo-Ok Jo

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schaden und sich schaden - das scheint die Lebensmission von Ong, des selbstsüchtigen Helden von Yi Chong-Juns Roman "Der doppelte Ong" zu sein. Erst sehr spät, durch das Auftreten eines Doppelgängers, erlebt er, was für ein überflüssiger Mensch er ist.

Geldgier ist ein universales und an sich kein neues oder Neugierde weckendes Thema. Und manche Doppelgängergeschichten sind auf unheimliche Effekte oder vereinfachte Moral angelegt. Yi Chong-Jun, einer der angesehensten koreanischen Schriftsteller, zeigt, wie aus diesem Thema und Stoff immer noch eine genussreiche und zum Nachdenken führende Geschichte geschmiedet werden kann. Eine ziemlich einfache und kurze Volksüberlieferung anklagender und predigender Art entwickelt sich in seinen Händen zu einem facettenreich-humorvollen, zugleich an die Wurzel der Dinge gehenden, aber doch versöhnenden Roman.

Die Handlung spielt vor gut hundert Jahren, als in Korea die gesellschaftliche Ordnung und Hierarchie schwankte und die konfuzianisch-moralischen Gebote kraftlos wurden. Das Verhalten eines Neureichen in der Umbruchszeit - Skrupellosigkeit in Sachen Geld, ohne Achtung vor Mitmenschen und bar jeder menschlichen Scheu oder Ehrfurcht - spiegelt ebenso die Fixierung auf das Geld in der heutigen Zeit wider.

Ong hat sein Vermögen von seinem Vater geerbt, der aus einer armen Familie, aus einer niedrigen Klasse, auf den Schultheißposten einer Kreisstadt gelangt war und dieses Amt bedenkenlos ausgenutzt hat. Einmal mit dem unsauberen Kapital reich geworden, schrumpft bei der Familienlinie Ong das Interesse an Bildung rasch, aber mit dem Generationswechsel von Ongs Vater zu Ong und weiter zu Ongs Sohn blüht der Geschäftsinn immer genialer und brutaler auf. Das Geschäft gedeiht systematisch und flächendeckend: die Geburt einer neuartigen Familiensaga ohne Noblesse.

Im Überschwang der Macht des Geldes ist Ong, wie ein Tyrann, sich selber das einzige Maß. Der Sprachgebrauch wird nach seinem Gutdünken gedreht. Er erlaubt sich alles, während er niemandes Glück erträgt und ihn niemandes Leid angeht; eine andere, eine ökonomische Art der Tyrannei.

Dabei liest man den Roman mit Vergnügen. Das liegt erstens an der humorvollen Schilderung dieser Maßlosigkeit des Helden. Die konkret veranschaulichten Episoden im Leben eines eigenartigen Dickkopfs, wie Ongs Vorname "Ko-Jip" übersetzt lautet, lösen Lachen statt Hass aus. Und die hemmungslosen oder mutigen Überschreitungen ungeschriebener Gebote lassen auch den Leser nicht los, unabhängig davon, ob er sie bejaht oder verneint. Verachtung der konfuzianischen Pflicht gegenüber den Eltern, gegenüber seiner bettlägerigen alten Mutter, Bloßstellung des Geschlechtsteils eines alten Mönchs, um sich zu versichern, dass die buddhistischen Mönche keine Eunuchen sind, und die sprachliche und schließlich brutale körperliche Gewalt gegen einen um eine Spende bittenden Mönch. Hier überall sind Ongs Rechtfertigungen nicht total abwegig, und man muss dabei ungewollt ein wenig mitnicken. Aber mit dem letzten Vorfall führt der Held die Wendung in seiner Biografie herbei: durch eine Zauberei des geprügelten Mönchs, die den Auftritt von Ongs Doppelgänger und Ongs Vertreibung aus Familie und Gemeinde bewirkt.

Der literarische Genuss der Leser resultiert vor allem aus der Erzählweise und -haltung des Erzählers, genauer gesagt, aus der Diskrepanz zwischen beiden. Der Erzähler nennt allerlei Untaten und Niederträchtigkeiten des Helden beim Namen, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Abschätzige Worte über den absonderlichen Protagonisten bilden eine fast unendliche Kette oder auch eine Schatzkammer von Schimpfworten. Ihr Einsatz bereitet einen befreienden Katharsiseffekt, wie er von Schwänken zu erwarten ist.

Aber bei all dem bleibt der Erzähler dabei, einen Menschen nicht moralisch zu verurteilen, das Vertrauen gegenüber den Menschen nicht aufzugeben und an die Wurzel der Sache zu gehen: Die Ursache der Untaten des Helden sieht er in dessen Unvermögen, zwischen richtig und falsch, gut und schlecht zu unterscheiden, in seiner Gleichgültigkeit und Kälte, seiner extremen Dickköpfigkeit. So lokalisiert sind die Probleme als solche des Lernens und des sich Öffnens bewertet. Zudem bleibt für den Erzähler der problematische Held ein Bestandteil der Gesellschaft, indem er einerseits den Leser mit "wir" anspricht und andererseits den Helden "unseren Helden" nennt.

In seiner tiefsten Misere fragt sich der Protagonist, ob es sein Lebenszweck ist, eine Witzfigur zu werden, und am Ende der Geschichte, wieder an seinem Platz, bittet er um Verzeihung, indem er sich rechtfertigt, er habe die Schwänke geschenkt, um den Trübsinn und die Langeweile des Lebens zu vertreiben. So weiß man: Jeder beteiligt sich so oder so an der Entstehung und der Überlieferung der Geschichte als Ereignis und Erzählung.

Auch die Vertreibung des Helden durch den Doppelgänger wird nicht allein als eine Strafe für den Bösen erzählt, wie sonst in so manchen Doppelgängergeschichten. Der Doppelgänger dieses Romans genießt nicht allein alle Annehmlichkeiten des verlorenen Helden, sondern er lebt eine konstruktive Alternative vor. Den Höhepunkt dieses sittlichen Bildes markiert die Interpretation von Volkssprüchen. Hier geht es um das ,wieder-Kind-Werden' im Alter, den Anspruch auf Hilfe und Aufmerksamkeit. Das Bild des Fütterns und Auf-dem-Rücken-Schwenkens, um der gebrechlichen Mutter die Gesundheit wiederzubringen, wird auch in der heutigen Zeit niemanden kalt lassen. Die Wanderjahre des Helden sind ungewollt, bilden aber doch eine Art Suche nach Wahrheit oder Weisheit, also einen Leidensgang in Negation.

Ohne Anerkennung der Mitmenschen gilt nicht einmal die sonnenklare Tatsache, dass "ich ich bin". Menschen sind aufeinander angewiesen, und das Leben ist ein Netzwerk von Gegenseitigkeit. Als Wiedergutmachung verlangt ein alter Mönch von dem verlorenen Sohn nicht mehr als die Bereitschaft zu "Eintracht und Aufrichtigkeit", ein menschliches Maß, das unausweichlich mit Selbstreflexion beginnen muss: eine nüchterne, sachliche Analyse des Zeitgeistes und ein hilflos scheinendes, aber doch unverrückbares Mittel als Ausweg, im Gewand einer Volksüberlieferung.

Yi Chong-Jun gilt als einer der intelligentesten Schriftsteller Koreas. Das hat auch damit zu tun, dass er an der so genannten besten Universität in Korea Germanistik studiert hat. Deutsche Literatur wird in Korea oft mit Philosophie, im Sinne von Idealität und Tiefsinn, in Verbindung gebracht. Eines seiner repräsentativen Werke, "Euer Utopia", wird von manchen Literaturwissenschaftlern und -kritikern als eine ernste Parodie von Goethes "Faust II" interpretiert. Yi Chong-Jun sagt, sein fast dreißigjähriges Schriftstellerleben sei ein Hin und Her zwischen seinen zwei Wohnungen, in Seoul und in seinem Heimatdorf, gewesen. So deutet er sein literarisches Ziel an: Balance zwischen zäher Logik und Naivität, tiefer Analyse und Totalitätssinn, Kultur und Natur.

Neben "Der doppelte Ong" hat Yi Chong-Jun andere Volksüberlieferungen neu erzählt, die ins Deutsche übersetzt sind. Diese Neuerzählungen könnte man Märchen für Erwachsene nennen. Wozu diese Form? Vielleicht eine alternative Strategie, in einer Zeit, wo nichts mehr neu ist und alles direkt gezeigt und laut geschrien wird, Gehör zu finden?

Die humorvollen Bildillustrationen, ostasiatische Pinselstrichzeichnungen, bereiten noch zusätzlich Freude, und das fachkundige Nachwort vermittelt Einsichten in die Verbreitungsgeschichte des Doppelgängermotivs.

Titelbild

Chong-Jun Yi: Der doppelte Ong oder: Die verzauberte Strohpuppe. Eine altkoreanische Volksdichtung - neu erzählt.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Andreas Schirmer und Mihyang Mo.
Edition Peperkorn, Thunum/Ostfriesland 2003.
176 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-10: 3929181517

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