Eine Falle ist eine Falle

Gerold Späths 65. Geburtstag ist ein glücklicher Vorwand, seine Bücher zu entdecken oder wieder zu lesen

Von Ulrich SimonRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Simon

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt viele Gründe, einem Schriftsteller öffentlich zum Geburtstag zu gratulieren, etwa aus Chronistenpflicht, also aus Höflichkeit. Oder weil man dem Autor neue Leser wünscht - und sich selbst einen neuen Text des Jubilars. Insofern passt es gut, dass Gerold Späth nun am 16. Oktober seinen 65. Geburtstag feiern kann. Denn noch 1999 musste eine gratulierende Journalistin anlässlich des runden Geburtstages die Leser ans Antiquariat verweisen, nachdem sie nachdrücklich zur Lektüre seiner Bücher ermuntert hatte. Heute ist der Schweizer Späth auf dem Buchmarkt besser vertreten. Zwischen 2001 und 2003 hat der Göttinger Steidl-Verlag eine Reihe von Texten wieder zugänglich gemacht: die beiden frühen Romane "Unschlecht" (1970) und "Stimmgänge" (1972), den gattungslosen Text "Sindbadland" (1984) sowie den Band "Familienpapiere", der Erzählungen aus dem Zeitraum von 1968 bis 1999 versammelt. Die Neuausgaben gereichen dem Verlag zur Ehre, sie wurden überwiegend beifällig besprochen (vgl. auch literaturkritik.de 10/2003). Aber ins Programm genommen wurden sie, weil Günter Grass sich bei seinem Hausverlag nachhaltig für den Kollegen stark machte. Wer weiß, was andernfalls geschehen wäre, denn 1999 hatten sich Späth und der Suhrkamp Verlag im Unfrieden getrennt. Vor vielen Jahren hat Späth der Schweiz nach einer Reihe politischer Kontroversen den Rücken gekehrt, die von der lokalen Umgehungsstraße bis hin zum Umgang der Regierung mit dem Überwachungsskandal und dem daraus resultierenden sogenannten Kulturboykott der 700-Jahr-Feier 1990/91 reichen; er lebt hauptsächlich in Irland und Italien.

Dass der Autor einmal Probleme haben könnte, seine Romane, die zwischen 1970 und 1980 erschienen waren, für das Publikum greifbar zu halten, schien damals schwer vorstellbar. Zu groß schien die Resonanz, auf die sie stießen, zumal Späth die Rezensenten nahezu alle zwei Jahre mit Texten zwischen 400 und fast 700 Seiten beschäftigte und 1979 den ersten, von Grass gestifteten Döblin-Preis für das Manuskript der "Comedia" bekommen hatte. Aber anders als die Neuausgaben sind "Die heile Hölle" (1974) und "Balzapf oder als ich auftauchte" (1977) seit langem vergriffen. Gänzlich überraschend ist das nicht, schließlich galten die großen, wortgewaltigen und verspielten Panoramen, die die europäische Literaturgeschichte querbeet für sich fruchtbar machten, als unzeitgemäß oder gar als Solitäre in der literarischen Landschaft. Sein Stammpublikum, Leser im Bichsel'schen Sinne, hat gerade dies schon immer an ihm geschätzt. Wie gekonnt da einer etwa in den "Stimmgängen" über Generationen hinweg die Vorgeschichte seiner Hauptfigur erzählt, mit immer noch einer Überraschung, souverän mehrere Erzählmuster parallel verwendend, hier mit einer Fortschreibung des Rabelais'schen Thesaurus der Schimpfwörter, dort mit einer beiläufigen ironischen Pointe zum "Zauberberg". Wenn Franz Loquai schon vor zehn Jahren hochgerechnet hat, Späth habe an die tausend literarische Figuren in die Welt gesetzt, so kann die Schätzung mittlerweile als Untertreibung gelten. Schon in "Comedia" kommen 203 Museumsbesucher und der Kurator in je einer eigenen Stimme zu Wort. Späth hat eine Vorliebe für sogenannte Sonderlinge und Ausgestoßene, für Gezeichnete, für Tote und Untote.

Späths Produktivität hat sich seit 1980 verlagert. Neben etlichen Hörspielen, Bühnenstücken und Erzählungen (viele erschienen als bibliophile Drucke der Pfaffenweiler Presse) hat er eine übersichtliche Zahl von längeren epischen Texten vorgelegt: "Sindbadland" folgte 1988 "Barbarswila", sodann, nach ausführlichen publizierten Vorarbeiten, "Stilles Gelände am See" (1991) und "Das Spiel des Sommers neunundneunzig" (1993). Zuletzt rief der Band "Die gloriose White Queen. Ein Abenteuer" (2001, allesamt vergriffen) ein gespaltenes Echo hervor. Zu papieren die Figuren, lautete eine Klage. Doch wer sich auf den Untertitel einlässt und sich beispielsweise an den virtuos gehandhabten Topoi der Abenteuerliteratur freuen kann, für den dürfte es wenig vergleichbaren Lesegenuss geben (vgl. literaturkritik.de 09/2001). Nebenbei zeigt sich Späth auch hier, wie so häufig, als Meister der Schlusspointe.

"Eine Falle ist eine Falle und wird mit Bedacht errichtet, mit Sorgfalt gestellt, und klapp! schnappt sie zu", heißt es vermeintlich beiläufig in "Das Spiel des Sommers neunundneunzig". Der Satz kann als Zentrum von Späths Poetik gelten. Ganz gleich, ob es sich um die Verästelungen der Großromane handelt oder um die miniaturhaften Kondensate der Texte der 1990er Jahre, stets zeigt sich, wie sorgsam Späth jedes Wort setzt, wie kalkuliert er mit Informationsüberfülle und -mangel wirtschaftet. Über die Jahrzehnte hinweg hat er immer wieder neue Erzählweisen ausprobiert und einen so vielseitigen wie abwechslungsreichen literarischen Kosmos geschaffen, dass er in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts wenig Entsprechungen findet. In ihm wandern Figuren von Text zu Text, in ihm werden Motive und Orte, zu denken wäre neben all den Erbschaften auch an die Badeanstalten, den Mörder Irninger, an alles Nautische, durchgespielt und vielfältig miteinander verzahnt, "immer wieder und anders und neu", um sich einer Formulierung Christoph Ransmayrs zu bedienen. Zweimal etwa lässt Späth Protagonisten auf das Radio schießen, das eine Hitler-Rede ausstrahlt. Benjamin Zapf greift in "Balzapf oder als ich auftauchte" zum Gewehr, weil der Dorfamme und Mutter seines Sohnes vom Zuhören "nicht nur die Milch" im Busen, "dick, sondern keine zehn Minuten darauf ihre große Seele eng wurde, sich dünnmachte, von ihrem großen Leib schied". Und in "Stilles Gelände am See" drückt der deutsche Exilant Friedrich Wilhelm Schwalb ab, nachdem "manch braver Kuh die Milch im Euter sauer" geworden war und gleichwohl "Adolf H., Reichskanzler, unvorsichtigerweise weiter lärmte und kreischte".

Man kann Gerold Späths Schreiben mit guten Gründen und durchaus mit Interferenzen zu Grass als Adaption des Schelmenromans verstehen. Allerdings führte diese Lesart bislang bei vielen Interpreten dazu, die Unzahl an historischen und politischen Anspielungen auszublenden; ganz so, als schlössen sich Fabulierkunst und Komplexität der Darstellung aus. Unvermittelt konfrontiert "Die gloriose White Queen" den Leser mit der Passage, die inmitten dieses Metatextes über Abenteuer Assoziationen an die nationalsozialistische Massenvernichtung einstreut: "Aha! Jetzt sag nur, sie haben wieder Gefangene verladen! Spinnst du wieder von deinen Gefangenen! [...] Tausend Lastwagen voll gefangener Weiber und alle ohne Kleider, he! [...] Nein, zu Schmierseife werden die gemacht, erstklassige Schmierseife, damit du nicht mehr stinkst wie ein ranziger alter Pißköter". Die Zahl der direkten Anspielungen auf den Nationalsozialismus sowie dessen Wirkung auf die Schweizer Gesellschaft ist beträchtlich. Sie verdeutlichen unter anderem, welch zentrale Rolle Katastrophen und Tod im Späth'schen Gesamtwerk spielen. Das Groteske und Burleske bedingen einander, so dass bei Späth die Zeugung auf dem Hochseil oder der Fund einer Leiche, der der Penis abgeschnitten worden ist, nicht als besonders bemerkenswert gelten können angesichts der Fülle ähnlicher Vorkommnisse insgesamt. Gerold Späth verfährt mit Katastrophen ähnlich (wenn auch ungleich differenzierter) wie John Irving in "Rettungsversuch für Peggy Sneed" oder "Witwe für ein Jahr": Er zeigt sie als Vakuum in einem einzelnen Leben, das bis in die Erzählgegenwart hinein reicht, ohne Aussicht auf Besserung. Er präsentiert persönliche Katastrophen mal reduktionistisch wie in "Das Spiel des Sommers neunundneunzig": "Eigentlich keine Geschichte. Ein Sack voll Menschenfleisch und Gestank, eine kleine Urne voll kalter Asche in einem verdunkelten Kinderzimmer in einem großen leeren Haus in Frankreich, vor der Urne ein ewiges Lichtlein, vor dem Lichtlein eine apathisch glotzende Frau, irgendwo in dem Haus ein grauer alter Mann." Einmal kommentiert der Erzähler der "Stimmgänge" eine geistig Behinderte, die eine Wasserleiche findet, folgendermaßen: Ihr habe es "die zwar ohnehin ziemlich kleine Sprache bis auf 'Umpfumpf' verschlagen", aber angesichts der "Zumutungen" hätte dies auch "einer hunderttausend Wörter starken Sprachgewalt den Zungenschlag" aus "dem Takt bringen können".

Die Welt ist eine Falle, aus der man auch mit noch so vielen Worten und Wörtern nicht entkommen kann. Diese so barocke wie existenzialistische, so moderne wie postmoderne Erkenntnis, der die zahlreichen Aufbruchszenen und erst recht nicht die Komik widersprechen, buchstabiert Gerold Späth seinen Lesern seit 40 Jahren aus. Ans Ende gekommen ist er damit hoffentlich noch lange nicht.

Titelbild

Gerold Späth: Commedia.
Steidl Verlag, Göttingen 2001.
397 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3882437820

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Titelbild

Gerold Späth: Sindbadland.
Steidl Verlag, Göttingen 2002.
247 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-10: 3882438045

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Titelbild

Gerold Späth: Unschlecht. Roman.
Steidl Verlag, Göttingen 2002.
552 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 3882438037

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Titelbild

Gerold Späth: Familienpapiere. Gesammelte Geschichten.
Steidl Verlag, Göttingen 2003.
170 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 3882438851

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Kein Bild

Gerold Späth: Stimmgänge. Roman.
Steidl Verlag, Göttingen 2003.
608 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 3882439386

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