Im Grenzgebiet zwischen der Wahrheit und den Worten
Zwei Novellen sind ein Roman: „Das Gedächtnis der Haut“ von David Grossman
Von Katrin Schuster
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEr weiß es genau, ja sieht es vor sich, wie die Fingerkuppen des Anderen über die Haut ihrer Arme streichen, wie sie ihm träge in die Augen blinzelt und ihr Gesicht in seinen Händen vergräbt. Dass seine Frau Elischeva eine glückvolle Leichtigkeit fühlt, wenn sie bei dem Anderen ist, das wispern diese Bilder in Schauls Kopf. Keines davon stand je wirklich vor seinen Augen, alle entstammen sie der blühenden Fantasie seines eifersüchtigen Herzens. Es sind mögliche Wahrheiten – nicht mehr. Vor allem aber: nicht weniger. Denn noch jede Geste beweist ihm ihre Untreue. Sogar, dass Elischevas Haar nach Chlor riecht, wenn sie nach Hause kommt, lässt Schaul nie glauben, dass sie im Schwimmbad war, im Gegenteil: Ihr Lügengebäude sei eben einfach nur perfekt gezimmert. Lediglich der Leser beginnt irgendwann, an dieser Unumstößlichkeit zu zweifeln.
„Raserei“ heißt die Novelle des israelischen Schriftstellers David Grossman. Es ist eine von zweien, die zusammen den „Roman“ „Gedächtnis der Haut“ – so auch der Titel der anderen Novelle – ergeben. Raserei, das meint hier nicht das Tempo der Erzählung. Die nämlich gleitet verhalten durch die Nacht, mit eher mäßiger Geschwindigkeit entfernt sie sich dabei immer weiter von Jerusalem, dem Tatort des vermeintlichen Vertrauensbruchs, dem Boden der Tatsachen: Schaul sitzt in einem Auto, als er die Bilder seiner fremdgehenden Frau in schmerzhaft liebevollen Linien entwirft, wegen einer Verletzung zur Untätigkeit verdammt und auf die Rückbank verwiesen. Den Wagen lenkt Esti, die ungeliebte Schwägerin, die so plötzlich zur einzigen Vertrauten wird, zur neugierigen Mitwisserin, zur elektrisierten Komplizin, zur Erdung und zum Blitzableiter seiner spannungsgeladenen Zerrissenheit. „Und wenn ich sie darum gebeten hätte, jammerte Schaul, oder ihr sogar ein Ultimatum gestellt hätte, hätte sie dann aufgehört, ihn zu lieben?“
Jede der beiden Novellen kennt zwei Erzählweisen, die sich auch optisch unterscheiden; ihr Verhältnis aber verkehrt sich gleichsam im Angelpunkt der beiden Geschichten. Wenn Schaul völlig in seine Imagination abtaucht und immer wieder von einer Hetzjagd durch die wilde Landschaft und einem jahrmarktähnlichen Ausverkauf der Habe seiner Frau träumt, ist das kursiv gedruckt. Im zweiten Teil mit Namen „Gedächtnis der Haut“ jedoch dienen diese fließend weichen Buchstaben der Niederlegung des Realen, einer weiteren Erzählsituation, diesmal zwischen Mutter und Tochter: Am Sterbebett von Nilli sitzt Rotem, die der Hilf- und beinahe schon Sprachlosen eine Geschichte vorliest, die normal gedruckt erscheint zwischen den kursiven Einschüben der Wirklichkeit zwischen sterbender Mutter und oft schon am Leben verzweifelter Tochter. Es ist eine Geschichte, die Rotem geschrieben hat; eine, die Nillis lang vergangene Affäre mit einem Minderjährigen behandelt. Das Verhältnis existierte. Mehr jedoch weiß Rotem nicht davon, jeder Wortwechsel, jede Bewegung, jeder Blickwechsel in ihrer betörend sinnlichen Geschichte ist frei erfunden. Und immer wieder muss Rotem ihr Vorlesen unterbrechen: Kommt es der Wahrheit denn wenigstens nahe? Sah er denn ungefähr so aus? Hat es sich denn etwa so abgespielt? Dabei will Nilli davon gar nichts wissen: „Aber es ist die Realität, sagt sie langsam, unerwartet sanft. Fast mitleidig sagt sie es: Es ist die Realität, die ich hören will.“
So wird Rotems Fiktion zu Nillis letzter Wahrheit. In „Raserei“ dagegen gelingt dem Autor David Grossman das Gegenteil: Schauls vermeintlich wahre Geschichte über die betrügerische Ehefrau zeigte immer öfter Risse, die den Blick auf einen von Wahn getränkten Untergrund freigaben. Schlicht wie schwierig: Es geht Grossman um das Erzählen selbst, beide Novellen sind Versionen der alten Geschichte vom Erfindungsgeist. Versuche auf die menschliche Imagination. Bedächtige Wanderungen im versinkenden Grenzgebiet zwischen den Worten und der Wahrheit. Grossman kann das – an manchen Stellen muss man jubeln – wie kaum ein anderer. Weil er sich mit Sätzen an Körper schmiegen kann. Weil er den stummen Buchstaben eine menschliche Stimme verleiht. Weil er das Gedächtnis der Haut ergründet. Und so ganz genau um die Erotik der Sprache weiß, die nur eine große und immer unerfüllte Liebe kennt: die zwischen Erzähler und Zuhörer. Jenseits von Wahrheit und Wirklichkeit.
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