Literaturwissenschaft im Aufbruch

Doris Bachmann-Medick und andere plädieren für eine anthropologische Wende in der literarischen Hermeneutik

Von Walter WagnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Wagner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der vorliegende Band erschien erstmals 1996 und versammelt maßgebliche Texte einer noch jungen Forschungsrichtung, die unter der Bezeichnung Literarische Anthropologie den literaturwissenschaftlichen Diskurs nun auch im deutschsprachigen Raum belebt. Wie Doris Bachmann-Medick in der Einleitung dieser Aufsatzsammlung betont, meint anthropologisch im Kontext der Kulturwissenschaft ethnologisch bzw. ethnografisch und grenzt sich mithin deutlich von der philosophischen Anthropologie ab. Dieser jüngste turn in der literarischen Hermeneutik greift nicht nur auf die Erkenntnisse der cultural studies zurück, sondern auch auf den konzeptuellen Fundus des seit den 1970er Jahren in den USA praktizierten ethnocriticism. Ethnoliterarische Interpretationsverfahren erweisen sich angesichts einer zunehmenden Vermischung von Kulturen im Zuge globaler Veränderungsprozesse freilich als Gebot der Stunde, wobei sich zeigt, dass der ethnologische Blick längst Einzug in die Primärliteratur gehalten hat - man denke nur an Joseph Conrad, dessen Romane im kulturanthropologischen Diskurs als Paradebeispiel einer ethnologisch verbrämten Literatur gehandelt werden.

Mit der Metapher von "Kultur als Text" hat die Literarische Anthropologie die Stoßrichtung einer Literaturwissenschaft umrissen, der es nunmehr um die Fruchtbarmachung von Konvergenzen zwischen Ethnografie und Literaturwissenschaft zu tun ist. Texte sollen hinfort vermehrt in einen interkulturellen Diskurs eingebunden werden, der Literatur im Licht kultureller Selbst- und Fremderfahrung deutet. Nationale Grenzen werden vor dem Hintergrund eines neuen, erweiterten Begriffs von Kultur und Weltliteratur folglich ebenso obsolet wie soziokulturelle Leitbegriffe, als da sind Heimat, Identität oder Muttersprache. Damit soll ein kultureller Essentialismus, der eine Afrikanisierung Afrikas bzw. eine Orientalisierung des Orients befördert hat, zugunsten einer Hybridisierung und Verwischung von Kulturen aufgegeben werden. Angesichts einer zunehmenden Zahl von entwurzelten Literaten ist daher verstärkte Aufmerksamkeit auf eine poetics of displacement und die ihr inhärenten Fragestellungen zu richten. Weiters wird sich die Kanondiskussion vermehrt außereuropäischen Literaturen zuzuwenden haben, wobei sich die logozentrisch dominierte westliche Literaturkritik von Theorien inspirieren lassen wird, die von Geisteswissenschaftlern in und aus der so genannten Dritten Welt entworfen worden sind.

Dem von der Herausgeberin verfassten kulturwissenschaftlichen "Grundkurs" folgt Phyllis Gorfains Abhandlung "Spiel und Unsicherheit des Wissens in Shakespeares 'Hamlet'". Mit dem Instrumentarium der Literarischen Anthropologie versucht die Autorin eine Neulektüre des "Hamlet", dessen Protagonist in Gorfains Versuch die Rolle des Feldforschers übernimmt, der alle Erscheinungen als Inszenierungen, d. h. Spiel, auffasst. Er befindet sich mithin in einer ähnlichen Interpretationssituation wie der Ethnologe, der die Riten und Bräuche einer fremden Volksgruppe beobachtet und analysiert.

Doris Bachmann-Medick widmet sich im nächsten Beitrag dem Thema "Kulturelle Spielräume: Drama und Theater im Licht ethnologischer Ritualforschung". Sie bedient sich in ihrer Arbeit der kulturanthropologischen Ritualanalyse Victor Turners sowie der dreistufigen Typologie von Arnold van Gennep. Diese unterscheidet zwischen Trennungsriten (rites de passage), Schwellen- bzw. Umwandlungsriten (rites de marge) und Wiederherstellungs- bzw. Angliederungsriten (rites d'agrégation). Shakespeares Dramen eignen sich insbesondere für die Applikation der rites de passage. Im Rahmen ihrer Untersuchung konzentriert sich Bachmann-Medick auf Strindbergs Stück "Nach Damaskus", das sie einer ritualanalytischen Interpretation unterzieht. In ihrem Resümee betont die Autorin den Impakt der Globalisierung auf den kulturellen Habitus, dessen starre Paradigmen nun unterlaufen oder gar aufgelöst werden.

Richard Handler und Daniel A. Segal erörtern unter dem Titel "Jane Austen und die Darstellung vielstimmiger Wirklichkeiten" die Gesellschaftsporträts der englischen Schriftstellerin im Hinblick auf ihre ethnografische Qualität. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die Multiperspektivität ihrer Romane, in denen die Protagonisten meist damit beschäftigt sind, sich ein Bild von Personen zu machen, um ihre Eignung als potenzielle Ehepartner festzustellen. Ähnlich wie der Ethnograf befragen die bindungswilligen Singles verschiedene Zeugen in der Absicht, hinter der Fassade von Gesten, Handlungen und Worten den Kern authentischer Motive zu entdecken. Austens Begriff von Realität ist in soziologischer wie semiotischer Perspektive höchst anspruchsvoll und fordert den Leser immer wieder heraus, seine Meinung hinsichtlich der analysierten Figuren kritisch zu überprüfen. Gesellschaftliche Realität offenbart sich dem ethnografisch interessierten Publikum dabei als ein Konstrukt, das sich aus vielfältigen Geschichten und Optionen zusammensetzt.

"Das Dilemma des Hermes: Die verschleierte Unterwanderung der ethnographischen Beschreibung" lautet Vincent Crapanzanos Aufsatz, der drei Texte im Hinblick auf ihren ethnografischen Gehalt abklopft. Es handelt sich um George Catlins Beschreibung der Okipa-Zeremonie der Mandan-Indianer (1832 aufgezeichnet), Goethes Reaktion auf den Karneval in Rom, dem er anlässlich seiner italienischen Reise am 20. Februar 1787 beiwohnte, und schließlich Clifford Geertz' Abhandlung über den balinesischen Hahnenkampf aus dem Jahr 1958. Catlins Bericht, der auf Realismus abzielt, wird romantisch unterwandert und will vor allem eines: beim Leser Emotionen hervorrufen. Goethe hingegen erhebt das ausgelassene Karnevalstreiben zur "konventionellen Allegorie des individuellen Lebensweges", während Geertz den Vergleich mit "King Lear" und "Schuld und Sühne" wagt, um sich das blutrünstige Schauspiel verständlich zu machen. Auf diese Weise schreibt er eine Fiktion des Hahnenkampfes, die wir aus heutiger kulturanthropologischer Sicht als eine Abhandlung über das Lesen und Interpretieren kultureller Texte auffassen.

James Clifford schreibt "Über ethnographische Selbststilisierung: Conrad und Malinowski". Conrad, der aus Polen stammte und erst mit zwanzig Englisch lernte, bildet nachgerade ein Paradigma für kulturellen Relativismus und die Beliebigkeit sprachlicher Konvention. Malinowski, ein Landsmann Conrads, liefert mit seinem 1967 veröffentlichten "Diary", das Aufzeichnungen aus den Jahren 1914-1918 enthält, ein weiteres Beispiel ethnoliterarischen Schreibens. Seine Notate reflektieren weniger den sachlichen Blick des Wissenschaftlers, sondern liefern eine von Depressionen, sexuellen Phantasmen und sonstigen Befindlichkeiten durchwirkte Prosa. Conrads "Heart of Darkness" wie Malinowskis "Diary" sind an den Grenzen der Zivilisation angesiedelt. Beide Texte gelten insofern als identitätsstiftend, als sie sowohl den Schriftsteller als auch den Ethnologen in ihrer Rolle festschreiben. Und in beiden manifestiert sich Ethnografie als fiktionale Spielart unter jeweils unterschiedlichen Vorzeichen.

Christopher L. Miller interessiert sich für das "Lesen mit westlichen Augen: Frankophone Literatur und Anthropologie in Afrika". Er hebt in seiner Studie auf den noch immer bestehenden Machtdiskurs ab, der das Verhältnis von Afrika und dem hoch industrialisierten Westen bestimmt. Die ehemaligen Kolonien lieferten laut Miller nach wie vor Rohstoffe (wie Erdöl oder Texte), die von den europäischen und amerikanischen Ländern verarbeitet würden. Es lässt sich in diesem Kontext die eurozentrische Stimme der hiesigen Literaturtheorie nicht verleugnen, an deren Wahrnehmungshorizont sich der afrikanische Diskurs zaghaft abzeichnet. Mit V. Y. Mudimbes "The Invention of Africa" (1988) tritt erst spät eine genuin afrikanische Kritik auf den Plan, die sich den europäischen Sichtweisen widersetzt. Versionen des schwarzen Kontinents, wie sie Afrikaner vorbringen, werden künftig in die europäische Lesart integriert werden müssen, um der Komplexität postkolonialer Realitäten gerecht zu werden. Wer sich in frankophone afrikanische Literatur vertieft, wird feststellen, wie sehr ihre Texte ethnografischen Schriften ähneln, weil sie sich erklärend an ein Publikum wenden, das sich nicht aus den Einheimischen rekrutiert. Hinzu kommt, dass afrikanische Intellektuelle und Künstler aus einer Klasse hervorgehen, die, weil tief im Kolonialsystem verwurzelt, möglicherweise von westlichen Werthaltungen geprägt worden ist. So erstaunt es auch nicht, dass die Geburtsstätte frankophoner afrikanischer Literatur ausgerechnet in Paris liegt und Léopold Sédar Senghor, einer der Begründer der négritude, sich Anregungen bei den deutschen Philosophen holte. Ist das Beziehungsgefüge der Literaturen der so genannten Ersten und Dritten Welt bislang von extremen Positionen wie Selbstreflexivität und Usurpation des Fremden abgesteckt gewesen, so wird eine Literaturwissenschaft der Zukunft in einem dritten Raum operieren, der mit dem Schlüsselbegriff "Hybridität" bezeichnet wird. Dies meint die Verflüssigung tradierter Positionen im interkulturellen Austausch. Zu den idealtypischen Vertretern einer hybriden Schriftstellergeneration zählen etwa Amitav Gosh oder Salman Rushdie, weil sie in ihren Lebensläufen und Schriften kulturelle Differenzen exemplarisch überwinden.

Das Schlusswort kommt ebenfalls Doris Bachmann-Medick zu, die in ihrem Aufsatz "Textualität in den Kultur- und Literaturwissenschaften: Grenzen und Herausforderungen" den Status quo der "Literatur-als-Text"-Bewegung resümiert. Die in den vorhergegangenen Beiträgen ausgesparte Selbstkritik wird nun endlich vorgebracht. Eine Gefahr der anthropologischen Wende sieht die Autorin etwa in einem inflationären Gebrauch der Textmetapher, was zu einem beliebigen Transfer und Begriffen wie "Technik als Text", "Sport als Text" oder gar "Genetik als Text" führen könnte. Hier ist allerdings Vorsicht geboten, denn schriftliche Texte sind in der Regel abgeschlossen, während sich kulturelle Phänomene im Fluss befinden. Desgleichen ist zu fragen, ob der anthropologische Ansatz Literatur tatsächlich lesbarer macht. So fruchtbar die Erweiterung einer interkulturellen Hermeneutik auch sein mag, sie vermag nicht über den Umstand hinwegzutäuschen, dass sie nur einen unter mehreren möglichen Ansätzen liefert, der darüber hinaus nur auf bestimmte Texte anwendbar ist. Im Sinne einer forcierten interdisziplinären Arbeit ist der anthropological turn durchaus zu begrüßen, es bleibt allerdings offen, inwieweit es ihm gelingen wird, zu einem verbesserten Verständnis von Migration, Diaspora und Kulturenvermischung beizutragen.

Titelbild

Doris Bachmann-Medick (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft.
UTB für Wissenschaft, Stuttgart 2004.
350 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3825225658

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