Erfahrungen mit einem" Doppelleben"

Thea Sternheims Verhältnis zu Gottfried Benn im Band "Briefwechsel und Aufzeichnungen"

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 30. Januar 1917 notierte Thea Sternheim in ihr Tagebuch: "Neue Worte blühen auf: ein Frühling fällt über uns." Die Bemerkung bezog sich auf erste Leseerfahrungen mit Gottfried Benn, von dem sie über ihren Ehemann Carl Sternheim erfahren hatte: "Karl erzählt von der jungen literarischen Bewegung in Deutschland, besonders Benn." Wenige Tage später, am 3. Februar 1917, lernt sie den Dichter persönlich kennen. Benn war als Militärarzt in Brüssel stationiert und so bot sich die Gelegenheit zu einem Besuch der Villa "Claircolline" im nahe gelegenen La Hulpe, wo die Sternheims seit 1913 lebten. Über die Begegnung notierte sie: "Ein blonder schlanker, typisch preussisch aussehender Mensch ... Er macht Verbeugungen beim Herein- und Hinausgehen." Die preußisch-korrekte Umständlichkeit des märkischen Pastorensohns mochte die weltgewandte Hausherrin eher amüsiert zur Kenntnis genommen haben, was schwerer wog, waren seine Ansichten zur Kriegslage. Im Haus der überzeugten Kriegsgegner sprach Benn von soldatischer Pflichterfüllung, mit der dieser Krieg, "da er nun einmal da ist", ausgekämpft werden sollte. Dass dazu auch Härte gegen all diejenigen, die der eigenen Sache schaden, gerechtfertigt war, trug Benn - so die Tagebuchschreiberin - "mit der erschreckenden Sachlichkeit eines Arztes, der einen Leichnam seziert", vor Ein Gespräch über die politischen Ursachen des Krieges war "aussichtslos. Man rennt mit dem Kopf gegen eine Mauer." Doch da war die Sprachgewalt dieses Mannes: "Stark. Bedeutend.", notierte sie im Tagebuch und: "Wie kommt sein Wortschatz so ins Blühen?"

Schon bei ihrem ersten Kontakt mit Benn hatte Thea Sternheim jene Aufspaltung der Persönlichkeit in Leben und Kunst gespürt, die Benn später in seinen biografischen Aufzeichnungen als bewusstes "Doppelleben" veredelte. Bis zum Ende der beiderseitigen Beziehung blieb dies eine dauernde Irritation, denn Thea Sternheim erkannte, dass die Haltung des radikalen Künstlers, der sich scheinbar souverän von moralischen und politischen Alltäglichkeiten distanziert, letztlich eine leere Geste darstellt, die einzig das Versagen vor gesellschaftlichen und politischen Realitäten verbergen soll. So wie 1933: Am 20. Februar notierte Thea Sternheim, nachdem sie erfahren hatte, dass Heinrich Mann den Vorsitz der Abteilung für Dichtung bei der Preußischen Akademie der Künste abgeben musste: "Heinrich Mann aus der Akademie verwiesen. Ich höre noch nicht, dass Benn ihm auf dem Fusse gefolgt ist." Tatsächlich unterzeichnete Gottfried Benn eine Loyalitätserklärung der preußischen Akademie an die neuen Machthaber und wurde für kurze Zeit Heinrich Manns Nachfolger. "Damit", so kommentierte Thea Sternheim, "wäre allerdings der beängstigende Korporalston seiner letzten Telefongespräche erklärt. Trotzdem - ich kann es nicht glauben. Während Mops sich noch unter den Peitschenhieben dieser Mitteilung biegt, fällt mir plötzlich des jungen Benn zweideutiges Verhalten während der deutschen Besetzung in Belgien ein. Sollte der mit Urinstinkten grosszügig durchsetzte Meklenburger von derart hurtiger Anpassungsfähigkeit sein?" Den entsetzten Verehrern und ehemaligen Freunden 'erklärte' Benn seine Sympathien für die neuen Herrscher in einer im Mai 1933 im deutschen Rundfunk verlesenen "Antwort an die literarischen Emigranten". Thea Sternheim kommentierte im Juli desselben Jahres: "Der alte märkische Pfarrer Benn scheint jedenfalls im frischfröhlichen Blutrausch gezüchtet zu haben. Erst den Fememörder Theo [ein Bruder Gottfried Benns, HGL], dann den Reklamechef der neuen Mordfirma: Gottfried. Im Ernst: Ist der Reklamechef nicht noch widriger als der Mörder? Man hat das Bedürfnis sich fortwährend die Hände zu waschen, jede Erinnerung auszukotzen."

Trotzdem überstand die Bindung an den scheinbar Verlorenen alle Irritationen, und dazu mochten Nachrichten aus Deutschland beigetragen haben, denen zufolge Benn seinen Irrtum eingesehen hatte. Tatsächlich hatte er sich 1935 aus der Öffentlichkeit als Militärarzt in die Wehrmacht zurückgezogen, einer - wie er selber einmal sagte - "aristokratischen Form des Exils". So nahm Thea Sternheim 1949 von Paris aus wieder Kontakt mit Benn auf. In den Tagebucheintragungen und Briefen an den "lieben Freund" wird eine Sehnsucht nach Benn deutlich, die Beziehung wird als Ideal einer Freundschaft von Thea Sternheim überidealisiert ("Ich träume von Benn. Ein Traum der Freundschaft.", notiert sie am 30.12.1951). Benns Briefe lesen sich vergleichweise kühl und distanziert, doch pflegt auch er die Beziehung. Gelegenheit für einen Freundschaftsdienst bietet sich schließlich, als er den von Thea Sternheim mit Mühen fertig gestellten Roman "Sackgassen" seinem Verleger zur Veröffentlichung anempfiehlt. Während die Dankbarkeit Thea Sternheims rührend anmutet, bleibt Benns Engagement auch in dieser Sache zwiespältig. In den informativen Anmerkungen des Bandes ist ein Brief an F. W. Oelze abgedruckt, in dem er den Roman niedermacht. Eine durchaus "schäbige" Haltung, wie in den Anmerkungen vermerkt wird und ein weiterer Beleg für Benns "Doppelleben".

Thea Sternheim war fasziniert von der "stilistischen Löwentatze", zur Person Gottfried Benn indes blieb zeitlebens eine Distanz bestehen. Diese Distanz hatte ihre Tochter Mopsa Sternheim in einem kurzen heftigen Liebesverhältnis zu Benn einmal überwunden. Umso schockierter reagierte sie auf die politischen Verirrungen Benns. Doch ebenso wie ihre Mutter kam sie nicht los von ihm. In einer Tagebuchaufzeichnung Ende Juli 1952 resümiert sie: "Bis zum Wahnsinn geliebt habe ich nur Benn - die uneinnehmbare Festung, die Negation an sich." Die gescheiterte Liebesbeziehung zu Benn wandelte sich für Mopsa zu einer tief empfundenen Abhängigkeit, von der sie vergeblich versuchte, sich zu befreien. "30 Jahre Intoxikation ... gegen die alle Rauschgifte eine Kinderspiel sind", schrieb sie, als sie gemeinsam mit ihrer Mutter Benn im September 1952 in Berlin erstmals wiedersah. "Als ich ihn am Flughafen erblickte, fing ich derart an zu zittern, dass die Zollbeamten sogleich meine Koffer öffneten in der Überzeugung, SO aufgeregtes Wesen verberge ein schlechtes Gewissen."

Der vorliegende Band fasziniert vor allem durch die Benn betreffenden Aufzeichnungen, die sorgfältig aus den umfangreichen Tagebüchern Thea Sternheims und Notaten ihrer Tochter Mopsa entnommen wurden. So wird ein umfangreiches Verständnis des erstmals vollständig veröffentlichten Briefwechsels zwischen Thea Sternheim und Benn möglich. Im persönlichen Verhältnis der beiden Protagonisten wird die prinzipielle Frage nach dem Selbstverständnis eines genialen Künstlertums aufgeworfen. Deutlich wird, wie sehr ein solches Künstlertum Faszination auszustrahlen in der Lage war, während es doch gleichzeitig angesichts der Herausforderungen historisch-politischer Umstände scheiterte. Das macht den sorgfältig edierten Band zum lehrreichen Material.

Titelbild

Gottfried Benn / Thea Sternheim: Briefwechsel und Aufzeichnungen.
Herausgegeben von Thomas Ehrsam.
Wallstein Verlag, Göttingen 2004.
518 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-10: 3892447144

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch