Was nur der Äther verrät

Gottfried Benns gesammelte Hörwerke

Von Jörg von BilavskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg von Bilavsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Radio ist sehr gegen meine Neigung. Ich kann und will nicht unter mein Niveau", schreibt Benn anlässlich einer Einladung zu einem Rundfunkgespräch im Oktober 1949 an seinen Bremer Freund Friedrich Wilhelm Oelze. Dementsprechend hölzern klingen in der folgenden Sendung seine glänzend vorformulierten, anscheinend oder wirklich vom Blatt abgelesenen Antworten. Das Manuskript ist bereits während der Weimarer Republik in der Berliner "Funkstunde" sein ständiger Begleiter, mit dem er sein intellektuell und sprachlich hohes Niveau hält. Der Vortrag zur neuen literarischen Saison im Jahre 1931 und die Totenrede auf seinen Dichterfreund Klabund 1928 zeigen aber, dass Benn über eine unprätentiöse Radiostimme verfügte, mit der er seine komplexen und bildmächtigen Gedanken klarer und sinnfälliger zum Ausdruck bringen konnte als durch das geschriebene Wort allein.

In einem Massenmedium live und spontan Rede und Antwort zu stehen, war Benns Sache prinzipiell nicht. Nur bedingt konnte er sich 1950 in einem Gespräch über das Thema "Die Schriftsteller und die Emigration" gegenüber dem Publizisten Peter de Mendelssohn rhetorisch behaupten. Im Laufe der äußerst intensiven Diskussion verschanzte er sich hinter Zitaten von Schriftstellerkollegen oder versuchte mit eigenen Fragen die Aufmerksamkeit von sich abzulenken. Er überließ es weitgehend den Hörern, seine strittige Einstellung zum Nationalsozialismus und die Gründe für seine "innere Emigration" anhand der von ihm vorgetragenen Passagen aus seiner Autobiografie "Doppelleben" zu entschlüsseln.

Zu diesem Zeitpunkt war Benn jedoch vom Kulturbetrieb und seinen immer zahlreicher werdenden Lesern als Dichter längst wieder rehabilitiert worden. Seine 1947 entstandene Novelle "Der Ptolemäer", aus der er zwei Jahre später mehrere Passagen mit Kühle und Präzision im Radio zu Gehör brachte, traf vielleicht gerade wegen ihres elitären Impetus und ihrer enthistorisierenden Botschaft die Mentalität von vielen Nachkriegsdeutschen. Besonders jene Leser und Hörer wurden davon angesprochen, die ihre Ergebenheit oder Gleichgültigkeit dem Nazi-Regime gegenüber durch Benn ästhetisch gerechtfertigt sehen wollten. Die jungen Lyriker hingegen, die mit der allzu realitätsnahen Trümmerliteratur eines Böll nur wenig anzufangen wussten, betrachteten ihn bereits als neues literarisches Vorbild.

Benn galt nicht zuletzt wegen seiner Plädoyers für eine autonome Ästhetik und seiner politik- und öffentlichkeitsfeindlichen Haltung ("Die Öffentlichkeit ist der Gestank einer Senkgrube und die Politik das Gebiet von Reduzierten") schon zu Lebzeiten als Klassiker. Umso merkwürdiger mutet es deshalb an, wie häufig er das populärste und am weitesten verbreitete Medium der Nachkriegsjahre für die Rezitation seiner beileibe nicht immer eingängigen Gedichte nutzte. Über zwei Drittel der in dieser Edition versammelten Tondokumente enthalten seine zwischen 1913 und 1956 entstandenen und von ihm selbst vorgetragenen Verse; ein unter Vernachlässigung der expressionistischen Anfänge repräsentativer Querschnitt seines lyrischen Schaffens, das er entgegen seiner eigenen Auffassung kongenial zum Klingen gebracht hat.

Im Sommer 1948 lehnte er es noch prinzipiell ab, seine Gedichte für den Hörfunk selbst zu sprechen. Und obwohl er sich teils wegen des Geldes, teils auf Drängen der Sender doch vor das Mikrofon setzte, wich er von einer Grundüberzeugung nicht ab. In seinem 1951 an der Marburger Universität gehaltenen Vortrag "Probleme der Lyrik" erklärte er, dass das öffentliche Rezitieren eines modernen Gedichts "weder im Interesse des Gedichts, noch im Interesse des Hörers" läge. "Ein modernes Gedicht verlangt den Druck auf Papier und verlangt das Lesen, verlangt die schwarze Letter, es wird plastischer durch den Blick auf seine äußere Struktur, und es wird innerlicher, wenn sich einer schweigend darüberbeugt."

Hier muss dem "Meister der kleinen Form, des Impromptus, des imperativen Bonmots, der produktiven Montage und Collage", wie ihn einer seiner Interpreten einmal charakterisierte, widersprochen werden. Genau so, über das Buch gebeugt und konzentriert, muss sich der Hörer den Autor vorstellen, wenn dieser gleichmäßig, aber niemals gleichgültig die Hebungen und Senkungen seiner Verse betont. Benn war kein geschulter, dafür aber der wahrhaftigste und glaubwürdigste Vorleser seiner Werke. Bisher konnte nur er die düster-melancholische Stimmung seiner monologischen "Ausdruckswelt" in ihrer existenziellen Bedeutung und Härte am aufrichtigsten wiedergeben. Das gilt auch für seine poetischen Essays und Vorträge, die von ihm gesprochen wie eine nachträgliche Selbstvergewisserung wirken.

In den Rundfunkdiskussionen ist Benns intellektueller Kampf mit der Innen- und Außenwelt ganz anders geartet. Im Gespräch definiert und propagiert er sein dichterisches Selbstverständnis und seine künstlerische Position in der Gegenwart und in der Literaturgeschichte. Insofern blieb das Radio für Benn lange Zeit nur ein Medium des Meinungstransfers oder der reinen Wiedergabe von Gedrucktem. Sein künstlerisch-schöpferisches Potenzial entdeckte er erst spät. Vier Jahre vor seinem Tod schrieb er: "Das Hörspiel hin oder her - ob Repertoire- oder Experimentierstück, ob statisch oder politisch - eines wird immer das Entscheidende sein, daß es das gewisse Etwas hat, diese gewisse Faszination, die allerdings die Kunst von allem übrigen unterscheidet."

Seine einzigen beiden Hörspiele, "Drei alte Männer" und "Die Stimme hinter dem Vorhang", sind eigentlich fingierte Gespräche, die keine nennenswerte Dramaturgie geschweige denn Handlung besitzen. Sie sind letztlich als Dialoge getarnte Monologe, mit denen Benn die Widersprüchlichkeit seines Weltbildes und die Vielschichtigkeit seines Denkens in verteilten Rollen zur Schau trägt. Deswegen stehen die Hörspiele intentional seinen programmatischen Essays und Vorträgen nahe und geben der neuen Kunstform einen philosophischen Impuls.

Die collagenhaft kommentierte und bebilderte Orientierung durch das ungemein vielfältige Hörwerk leistet das Begleitbuch, das mit Erinnerungen seines "Radio-Entdeckers" Thilo Koch und einigen Bemerkungen Benns zum Rundfunk schließt. Dank dieser Hintergrundinformationen und den aus acht Rundfunkarchiven zusammengetragenen Tondokumenten dürfte es der Germanistik nicht mehr schwer fallen, diesem bislang vernachlässigten Aspekt von Benns Wirken mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Bedauerlich ist nur, dass nicht noch weitere in Archiven oder auf vergriffenen Schallplatten schlummernde Dokumente Platz auf der besonders datenhungrigen MP3-CD gefunden haben. Vor allem die im April und Mai 1933 von ihm gehaltenen Rundfunkreden "Der neue Staat und die Intellektuellen" und die "Antwort an die literarischen Emigranten" hätten das Hörwerk nicht nur sinnvoll ergänzt, sondern noch deutlicher gemacht, wieso Benn nach dem Krieg im kulturellen Leben der Bundesrepublik nur langsam wieder Fuß fassen konnte.

Titelbild

Gottfried Benn: Das Hörwerk 1928-1956. Lyrik, Prosa, Essays, Vorträge, Hörspiele, Interviews, Rundfunkdiskussionen. MP3.
Herausgegeben von Kurt Kreiler, Robert Galitz und Martin Weinmann.
Zweitausendeins, Frankfurt a. M. 2004.
65 Seiten/11 Stunden, 9 Minuten, 21,95 EUR.
ISBN-10: 3861506548

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