Der Cellist und die unspielbare Partitur

Adolf Muschgs Roman "Eikan, du bist spät"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Weniger als nichts war los mit ihm. Es fehlte ihm nur zuviel." So wird der Protagonist Andreas Leuchter beschrieben, ein Cellist, der zum Handlungseinstieg 42 Jahre alt ist und dessen Lebensweg wir rund eineinhalb Jahrzehnte langverfolgen. Eine Figur mit Ecken und Kanten, absolut bindungsunfähig und mit leichtem Hang zum Egoismus. Dieser Leuchter, ein eher trübes, schwach glimmendes Licht, erhält von seinem todkranken, ehemaligen Mitschüler Roman Enders eine unvollendete Partitur zugestellt, die er in Paris uraufführen soll.

Adolf Muschg hat in diesem Roman alle Register gezogen, als gelte es sein schriftstellerisches Lebenswerk komprimiert zwischen zwei Buchdeckel zu bringen. Kunsttheorie, Philosophie, die Suche nach der wahren Liebe, der Gegensatz zwischen europäischen und fernöstlichen Lebensgewohnheiten, Vergangenheitsbewältigung in zyklischen Schüben, die Kulturmetropole Paris und reichlich japanische Mythologie sind die auf den ersten Blick völlig disparaten Handlungsbausteine.

Leuchter stürzt sich auf die Partitur, hält sie zunächst für unspielbar, bis ihm seine japanische Freundin Sumi die Dechiffrierung liefert: "Das bist du - ganz in Moll." Hinter der Unspielbarkeit vermutet der Cellist eine weitere Bosheit seines einstigen Mitschülers, der ihm während der Internatszeit schon böse körperliche Qualen zugefügt hatte.

Leuchter begibt sich trotz aller quälenden Vorbehalte, nach Paris, kapituliert nach dem zweiten Satz und muss sich vom herrlich komisch gezeichneten Publikum böse Beschimpfungen anhören. Wie Muschg die Kunstschickeria und deren pseudo-intellektuelles Geschwätz hier aufs Korn nimmt, liest sich höchst amüsant. Das offensichtlich verkannte Universalgenie Enders, das bei den 68er-Unruhen an der Sorbonne wichtiger gewesen sein soll als Cohn-Bendit, wird als "Alchimist der Sexualität" gefeiert, weil er Zeichnungen mit eigener Samenflüssigkeit gefertigt hat. Das klingt so schräg, dass man in diesem Kontext Beuys für einen spießigen Traditionalisten halten könnte. Romans Musik gilt als neue Physik, "eine Verbindung der Relativitätstheorie mit der Unschärferelation."

Unscharf und vage bleibt ohnehin vieles in diesem Roman, in dem das (Ver)-Schweigen eine ganz zentrale Rolle spielt und Muschg mit Andeutungen, gedanklichen Querverweisen und unerwarteten Brüchen aufwartet. Plötzlich wird Leuchter von seiner japanischen Freundin Sumi verlassen, die fluchtartig in ihre Heimat zurückkehrt.

Sie ist nur eine von vielen Frauen, die wir an Leuchters Seite kennen lernen, doch zu ihr hat er augenscheinlich ein anderes, ein innigeres Verhältnis entwickelt als zu all den Veras, Angelas, Catherines, Isabels, Leas, Jacquelines, Ayus und wie sie alle heißen. Was aber haben all die Frauen an diesem blassen, irgendwie lebensuntüchtigen, drittklassigen Musiker geschätzt? Seine Stille? Seine durchaus vorhandene Intelligenz? Oder weckte der introvertierte Feingeist gar mütterliche Instinkte?

Leuchter begibt sich nach Japan, um die aus Paris geflohene Sumi zu suchen und durchlebt dort eine wundersame Wandlung. Erzählerisch schließt sich hier der Kreis des Japanliebhabers Muschg, der einst in Tokio lehrte und dessen erster Roman "Im Sommer des Hasen" (1965) bereits im Land der aufgehenden Sonne und des ewigen Lächelns spielte.

Am Ende bekommt Leuchter offenbart, dass er "noch nie einen Menschen geliebt hat", und er gelobt Besserung: "Heute fange ich an. Eikan, you are late." Offenbar hat ihn Eikan geläutert, ein japanischer Priester und Philanthrop aus dem 11. Jahrhundert, dem in Kyoto ein gigantischer Tempel gewidmet ist. In einer Legende heißt es, dass der Amida Buddha einst aus der Statue gestiegen sei, als Eikan ihm zu Ehren im Tempel tanzte und beide zusammen den Tanz vollendeten.

Die Suche nach Sumi (deren Schicksal nicht vollends geklärt wird) in Japan ist auch ein Suchen nach der eigenen inneren Balance, so wie Leuchters ständige Reisen an frühere Lebensstationen auch ein Erforschen, ein behutsames Abtasten des eigenen Lebensweges ist - mit wechselnden Partnern, arrangiert wie psycho-analytische Rollenspiele.

Ein monströses Werk, das unentwegt Fragen aufwirft und doch mit Eikans "Anstoß" versöhnlich endet, das fragmentarisch und querdenkerisch daherkommt wie die unspielbare Partitur des offensichtlich an Aids erkrankten Roman Enders.

Dieser Roman präsentiert den ganzen Muschg in allegro - kein Cellosolo, sondern ein überquellendes, vielstimmiges, manchmal auch leicht dissonantes Orchesterwerk, das uns ein respektvolles, gedankenversunkenes Schweigen abnötigt.

Titelbild

Adolf Muschg: Eikan, du bist spät. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
316 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3518416693

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