Film in Deutschland

Geschichte und Geschichten einer mehr als 100-Jährigen

Von Kurt SchildeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kurt Schilde

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte des deutschen Films ist relativ kurz, denn sie ist gerade mal rund hundert Jahre alt. Seine verschlungenen und oft erst mühselig zu erkennenden Entwicklungen zwischen Kaiserzeit und vereinigtem Deutschland können aktuell auf unterschiedliche Weise entdeckt werden, denn wer sich einen guten Überblick über die Geschichte des deutschen Films beschaffen will, hat jetzt zwei Möglichkeiten: Er oder sie kann eine Enzyklopädie von Sabine Hake in die Hand nehmen oder alternativ zu dem erneut aufgelegten Kompendium "Geschichte des deutschen Films" greifen. Aber am besten vertieft man sich gleich in beide Bücher, hat doch jedes von ihnen seine Vorzüge, wie sich zeigen wird.

Die in Deutschland geborene "hauptsächlich auf dem Gebiet des deutschen Films arbeitende Filmhistorikerin" Sabine Hake lehrt heute an einer texanischen Universität. In den USA wurde 2002 ihr Werk "German National Cinema" veröffentlicht, was nun in übersetzter, überarbeiteter und aktualisierter Fassung einen komprimierten Überblick über den "Film in Deutschland" gibt. Hake konzentriert sich auf die Funktion des Kinos als gesellschaftliches Phänomen und die Bedeutung insbesondere des Spielfilms für die Produktion von Mentalitäten, Sensibilitäten und Identitäten. Sie folgt den traditionellen historischen Zeiteinteilungen: Es beginnt mit der Kaiserzeit (1895-1919) und geht weiter mit der Weimarer Republik (1919-1933) und dem Nationalsozialismus (1933-1945), dem "geteilten und dennoch vereinten" Film der Nachkriegszeit (1945-1961) in zwei parallelen Kapiteln über den Film in der DDR (1961-1989) und der BRD (1962-1989) und schließt ab mit den aktuellen Entwicklungen im wiedervereinten Deutschland.

Die Geschichte des deutschen Films ist von Beginn an eine politische Angelegenheit: Schon 1914 werden nationalistische und chauvinistische Filme produziert und konsumiert. Selbst die kaiserliche Familie entdeckt ihn als Mittel der Werbung für die Monarchie. Es entstehen und verschwinden Genres, einige gibt es bis heute: Komödien und Kriminalfilme. Preisrätselfilme bleiben eine Episode. Es werden Stars entdeckt und wieder vergessen. Das Starphänomen ist für Hake durch die Kategorie des Geschlechts bestimmt und zeigt sich in Entwürfen traditioneller Männlichkeit und der normativen Kraft traditioneller Weiblichkeitsbilder. Das Bedürfnis nach einer Flucht aus der Wirklichkeit macht den Kinobesuch für große Teile der Bevölkerung insbesondere nach den beiden Weltkriegen immer attraktiver; dieser Umstand hat sich in Wellen bis heute gehalten.

Während sich der Film in der Weimarer Republik durch die produktiven Spannungen zwischen nationaler Politik und Filmkunst, Qualität und Trivialität, Kampf gegen Zensur und Protektionismus und andere Ungleichzeitigkeiten und Unvereinbarkeiten beschreiben lässt, ist der Film im Nationalsozialismus Unterhaltung für die ,Volksgemeinschaft'. Aus dieser sind politisch unliebsame sowie jüdische Regisseure und SchauspielerInnen ausgeschlossen. Nur vereinzelt können sie ihre Karriere im Ausland fortsetzen.

Im nationalsozialistischen Deutschland erzeugen berühmte Stars Identifikationsmuster und Imitationsmechanismen. Männliche Charakterdarsteller wie Gustaf Gründgens oder Heinrich George laden den Film mit kultureller Bedeutung auf. Die weiblichen Stars kommen häufig aus dem Ausland: Zarah Leander und Kristina Söderbaum aus Schweden oder Marika Rökk aus Ungarn. Während es an guten Schauspielern und Schauspielerinnen nicht mangelt, fehlen begabte Regisseure und Drehbuchautoren. Abgesehen von Leni Riefenstahl entspricht allein Veit Harlan mit dem antisemitischen Film "Jud Süss", dem Durchhaltefilm "Kolberg" und anderen Produkten der Filmästhetik des Nationalsozialismus.

Im von den Alliierten besetzten Deutschland sind 1945 zunächst alle in der NS-Zeit gedrehten Filme verboten. Sie gelangen allerdings später in vielen Fällen durch Veränderungen wieder in die Kinos und in letzter Zeit vor allem in die Programme der öffentlichen und privaten Sendeanstalten. Noch zu unerforscht scheint die Geschichte der "Überläuferfilme" zu sein: Filme, die in der NS-Zeit begonnen, aber erst danach fertig gestellt worden sind. An ihnen werden die Kontinuitäten und Brüche, die den Film im Nationalsozialismus bestimmen, sehr deutlich.

Kontinuität ist auch charakteristisch für den Unterhaltungsfilm vor und nach 1945, abgesehen von den wenigen antifaschistischen Filmen der DEFA wie "Die Mörder sind unter uns" (1946). Es entstehen wieder die großen Filmproduktionsgesellschaften, und auch einige Neulinge haben Erfolg, wie Arthur Brauners CCC-Film. Dessen Spagat zwischen Kunst und Kommerz führt einerseits zu den Edgar Wallace- und Karl May-Filmserien, aber beispielsweise auch zum "Hitlerjungen Salomon". Veränderungen erfolgen erst in den 1960er Jahren, als 1962 das Oberhausener Manifest mit den Worten "Der alte Film ist tot" den langsamen Aufstieg des "Jungen deutschen Films" markiert. Dieser ist mit vielen heute berühmten Regisseuren verbunden, von denen nur Rainer Werner Fassbinder erwähnt werden soll. Der "Junge deutsche Film" läutet schließlich eine zunehmend vernehmbarer werdende Filmproduktion von Frauen ein. Hierfür sei Margarethe von Trotta als Beispiel genannt.

Parallel zur westdeutschen Entwicklung entstehen in der DDR bis 1989 mehr als 700 Spielfilme, von denen aber aus politischen Gründen nicht alle in die Kinos kommen, wie etwa die "Spur der Steine" (1966). Es gibt wie im Westen Deutschlands eine Folge von Indianerfilmen, aber auch im Zuge der Entdeckung des Alltags Filme wie "Die Legende von Paul und Paula" (1973), "Solo Sunny" oder die "Märkischen Forschungen" (1982).

Der Film im wiedervereinten Deutschland ist durch eine unerwartete Renaissance des Unterhaltungsfilms gekennzeichnet, wofür die Beziehungskomödie "Stadtgespräch" oder der Publikumserfolg "Good-Bye Lenin!" stehen. Außerdem wird zunehmend deutlich, dass eine klare Unterscheidung zwischen Film und Fernsehen nicht länger haltbar ist. Eine neue Entwicklung besteht auch darin, dass zunehmend Zeit- und Problemfilme in die zu Multiplex-Palästen mutierten Kinos kommen, wie der von dem deutsch-türkischen Regisseur Fatih Akin stammende Film "Gegen die Wand" oder die Filme von Regisseuren wie Tom Tykver und Sönke Wortmann.

Hakes Enzyklopädie lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass sie als gebürtige Deutsche einerseits entsprechend sensibilisiert und andererseits als amerikanische Deutschlandwissenschaftlerin mit genügend Abstand an ihr Thema herangeht. Sie thematisiert und integriert durchgängig Genderfragen, politische Zusammenhänge und Ost-West-Themen. Man wird von ihr qualifiziert über unterschiedliche Auffassungen bei der Bewertung von Filmen und Filmpolitik informiert, wobei sie sich mit eigenen Stellungnahmen nicht zurückhält.

Das alternative Sammelwerk "Geschichte des deutschen Films" ist in Zusammenarbeit mit dem Filmmuseum Berlin - Deutsche Kinemathek von Jacobsen/Kaes/Prinzler entstanden. Es wurde 1993 als damals erste und einzige Gesamtdarstellung veröffentlicht und war lange Zeit vergriffen. Nun ist nach elf Jahren eine zweite, erweiterte und aktualisierte Auflage erschienen.

Von Hakes Taschenbuch unterscheidet sich der Leinenband im Wesentlichen durch die Unterschiedlichkeit der von 18 Personen stammenden Beiträge aus Filmgeschichte, -wissenschaft, -journalismus und Medienpädagogik. Die meisten Beiträge sind aus Deutschland, vereinzelt stammen Aufsätze auch von im Ausland (Schweiz und USA) lehrenden und forschenden Experten.

Zunächst werden chronologisch die Frühgeschichte (Jacobsen) und der Film in der Weimarer Republik (Kaes) bzw. im Nationalsozialismus (durch den 1995 verstorbenen Karsten Witte) dargestellt. Als Vertiefung zu Hakes Ausführungen zum Exilfilm - d. h. zu Produkten von zwischen 1933 und 1945 aus dem nationalsozialistischen Deutschland vertriebenen Filmschaffenden - gibt die Darstellung von Jan-Christopher Horak fundierte zusätzliche Informationen. Im Anschluss an die Betrachtungen zum westdeutschen Nachkriegsfilm (Fritz Göttler) und den Filmen der 1960er (Norbert Grob), 1970er (Claudia Lenssen), 1980er (Eric Rentschler) und in einem neuen Kapitel über die 1990er Jahre (Katja Nicodemus) findet der Film in der DDR besondere Beachtung (Wolfgang Gersch). Hervorzuheben sind weiterhin die spezielle Berücksichtigung des Dokumentar- (Klaus Kreimeier) und Experimentalfilms (Christine Noll Brinckmann) sowie die von Helmut H. Diederichs, Martin Loiperdinger und Karl Prümm stammenden Beiträge zur Filmtheorie, Filmzensur und Selbstkontrolle sowie zum Verhältnis von Fernsehen und Film. Der in Hakes Darstellung integrierte Genderblick wird durch die feministische Sicht von Heide Schlüpmann ergänzt. Hinzu kommen die von der 2002 verstorbenen Frieda Grafe stammenden "13 filmischen Momente" mit anregenden Essays zu "Karl May und Carl Mayer" oder "Außenraum und Innenwelten", um auf die Lektüre dieser Texte neugierig zu machen. Nicht zu vergessen ist die von dem Mitherausgeber Prinzler zusammengestellte Chronik. Ein wesentlicher Pluspunkt der Wiederauflage und Unterschied zu Hakes Werk sind die 330 illustrierenden Abbildungen.

Beide Ausgaben enthalten eine Bibliografie und ein Personen- und Filmtitelregister. Die Hake-Ausgabe hat ein zusätzliches Sachregister mit Stichworten von Abenteuerfilm und Feminismus über Kulturfilm und Produktionsfirmen bis hin zu Zeichentrickfilm.

Um etwas Wasser in den Wein zu geben: Grundsätzlich ist bei beiden Darstellungen nach dem Sinn oder Unsinn der jahrzehnteweisen Darstellung der Filmgeschichte zu fragen. Wer sich fundiert über die Geschichte des deutschen Film informieren will, sollte je nach Sympathie und Vorliebe zu einem der beiden Werke greifen. Für eine umfassende Information ist auf beide Arbeiten nicht zu verzichten. In beiden Filmgeschichtsbüchern werden künstlerisch wertvolle Filme - die "Klassiker" - stärker beachtet als erfolgreiche, aber als trivial angesehene Produkte. Somit bleiben diese Filme dem Vergessen ausgesetzt, was ja nicht immer ein Nachteil sein muss.

Titelbild

Sabine Hake: Film in Deutschland. Geschichte und Geschichten seit 1895.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2004.
400 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3499556634

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Wolfgang Jacobsen / Anton Kaes / Hans Helmut Prinzeler (Hg.): Geschichte des deutschen Films. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2004.
666 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-10: 3476019527

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