Leerraum zwischen deutsch und jüdisch

Birgit Lermen und Michael Braun verfolgen die 'Lebensspuren' von Nelly Sachs

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das literarische Werk von Nelly Sachs ist bekanntermaßen mit großer Verspätung und erst nach der Verleihung des Nobelpreises 1966 Gegenstand der Forschung geworden. Als besonders rezeptionshemmend hat sich vor allem die einseitige Vereinnahmung Sachs' als "jüdische Dichterin", als "Dichterin der Shoa und als Verkünderin einer Versöhnung, ja sogar Verzeihung" (Margarita Pazi) herausgestellt, die nicht selten in der Stilisierung einer bruchlosen, kontinuierlichen deutsch-jüdischen "Symbiose", die die Autorin mit ihrem Werk befördere, gipfelte.

Die sicherlich zurecht von einzelnen Forschern herausgearbeitete Bedeutung der jüdischen Mystik für Sachs' Werk, dem besonders die kabbalistische Tradition immer wieder als intertextuelle Folie unterlegt wurde, führte rasch zu einer generellen und wenig differenzierten Einordnung von Nelly Sachs in den Kontext der Holocaust-Literatur und einer jüdischen Theologie nach Auschwitz, der mit ziemlicher Sicherheit nur für die erste Phase ihrer Lyrik (1943-1949) herangezogen werden kann. Die in diesem Zusammenhang etwa von Ursula Rudnick 1995 konstatierte Gestaltung der Gottes-Metaphorik in Nelly Sachs' Texten, in der Gott nurmehr als mit-leidende, schweigende und distanzierte Instanz in Erscheinung tritt, dessen ursprüngliche Erlösungs- und Heilungsfunktion nun, nach Auschwitz von dem 'Wort' wahrgenommen werde, bündelt in nuce fast sämtliche Rezeptionsstränge seit den 60-er Jahren.

Trotz der mittlerweile stark wachsenden Zahl an Publikationen, die sich jedoch vor allem in poetologische, stoff- und motivgeschichtliche Mikroanalysen verzetteln, bleiben vor allem zwei Desiderate zu beklagen: zum einen eine Verortung von Sachs' lyrischer und dramatischer Dichtung innerhalb einer Interdependenz von kabbalistischer Sprachtheorie und ästhetischer Sprach- und Schriftreflexion im 20. Jahrhundert; zum anderen Untersuchungen zur rekonstruierenden Textgeschichte und damit wesentliche Vorarbeiten für eine kritische Gesamtedition der Werke.

Die hier anzuzeigende Einführung in Leben und Werk von Nelly Sachs kann und will diese Lücken naturgemäß nicht schließen. Dennoch gelingt es Birgit Lermen und Michael Braun recht eindrücklich, den bisherigen Forschungsstand in einer ausführlichen Darstellung kritisch zu sichten und anhand von Interpretationen ausgewählter Gedichte vor allem drei Motivbereiche der Lyrik Sachs' herauszuarbeiten, denen es zukünftig durchaus nachzugehen lohnt: Inter- wie intratextuelle Dichtungs- und Sprachreflexionen, die Metaphorisierung existentieller Grenzerfahrungen, die sich mit ihrer jüdischen Herkunft, den Konflikten jüdischer Identität und der Spannung zwischen Assimilation, Selbstfindung und antisemitischer Verfolgung auseinandersetzen, sowie das Um- und Weiter-Schreiben (post-)biblischer Figuren (Hiob, Abraham, Jakob und David) und Motive (Schechina, Schöpfung aus dem Nichts, Sprachverwirrung etc.).

Im Anhang des Bandes wird in Auszügen der bislang noch unveröffentlichte Briefwechsel zwischen Nelly Sachs und Hilde Domin aus den Jahren 1960 - 1967 dokumentiert, der interessante Einblicke in eine der qualvollsten Phasen in Sachs' Leben gewährt. 1960 - nach Erhalt des Meerseburger Droste-Preises und nach der mittlerweile sagenumwobenen Begegnung mit Paul Celan im Hotel "Zum Storchen" in Zürich, erlitt Nelly Sachs einen Nervenzusammenbruch, der von Verfolgungswahn und Todessehnsüchten begleitet wurde. Mit wenigen Unterbrechungen verbrachte sie die nächsten Jahre bis zum August 1963 in psychiatrischen Krankenhäusern. In dieser Zeit entstand der innerhalb der deutschen Nachkriegslyrik wohl nur mit Celans "Fadensonnen" (1968) zu vergleichende Gedichtzyklus "Noch feiert Tod das Leben", den Nelly Sachs später als "eine Orestie des Jammers, ein schwarzes Leidensbuch" bezeichnete.

Die Gedichtsammlungen dieser und der nächsten Jahre ("Glühende Rätsel", 1963-1968; "Suche nach Lebenden", 1969/70; "Teile dich Nacht", 1971) kreisen vor allem um die Vergeblichkeit der Texte, zur Sprache zu kommen. Das Suchen nach einer neuen Sprache endet nicht selten im bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten Wort. Ähnlich wie bei Celan kristallisiert sich im Spätwerk eine Poetik des allmählichen Verstummens heraus, wie Nelly Sachs in den "Briefen aus der Nacht" hervorhebt: "Ewige Chiffre, unter der meine Geheimnisse bewahrt sind. Das redende Schweigen. Alle meine Worte sind nur Schilder und Tafeln". Bis zuletzt steht für Nelly Sachs die Reflexion über das jüdische Schicksal im 20. Jahrhundert auf dem Prüfstein der deutschen Sprache, gewissermaßen in einem "Leerraum zwischen deutsch und jüdisch". In ihrem "Offenen Brief an Nelly Sachs" (1966) bemerkt Hilde Domin hierzu treffend: "Die Sprache ist das Gedächtnis der Menschheit. [...]. Die Dichter, vor anderen, halten diese Erinnerung lebendig und bunt. Ich meine: Sie erhalten sie virulent, indem sie die Sprache immer wieder spitz und verwundend machen, die sich dauernd abschleift und entschärft. Das kann jeder nur mit seiner Sprache tun. Die unsere ist eben deutsch."

Nicht zu unrecht zählt Hilde Domin Sachs' Dichtung, die "das Unheil lebendig erhält", "zum Bedeutendsten, was der deutschen Sprache abverlangt wurde: zumindest in diesem Jahrhundert". Wer sich zukünftig davon überzeugen will, dem sei nach der Lektüre der Werke von Nelly Sachs an erster Stelle diese verdienstvolle Einführund von Lermen und Braun anempfohlen, die dem Erstleser von Sachs' Texten die nötigen Basisinformationen zu Leben und Werk der Autorin bereitstellt, aber auch für erfahrenen Sachs-Kenner wichtige, z. T. auch neue Anregungen für die eigene Arbeit liefert.

Titelbild

Birgit Lermen / Michael Braun: Nelly Sachs. "an letzter Atemspitze des Lebens".
Bouvier Verlag, Bonn 1998.
308 Seiten, 16,40 EUR.
ISBN-10: 3416028058
ISBN-13: 9783416028059

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