"Huch!!! Wo sind denn meine Büchsen?!"

Aufregende Expeditionen in fremde Lebens- und Arbeitswelten - Gabriele Goettles Expertisen über wahre Kenner und Könner

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Entgehen kann man ihnen kaum noch. Alle naselang sitzen sie in irgendwelchen Studios oder Talkshows und erklären uns in 90-Sekunden-Statements die Welt, die so genannten Experten - für Fußball und den Nahen Osten, für Gentherapie und Rechtsradikalismus. Die wirklichen Experten sind dagegen eine eher scheue Spezies. Otto Prokop beispielsweise, Autor des berühmten "Atlas der gerichtlichen Medizin", will unauffindbar sein, ganz besonders für Journalisten. "Ich habe Angst vor den Medien, ich habe richtig Angst", bekennt der inzwischen 83-Jährige in seinem Arbeitszimmer in der Berliner Charité. Oder der Kulturwissenschaftler Ivan Illich mit dem wuchernden Krebsgeschwür im Gesicht, der stoisch erklärt: "Ich bin nicht krank, das ist keine Krankheit. Es ist ein vollkommen anderes Verhältnis" - und vorerst jedes Interview ablehnt.

Gabriele Goettle, die mit ihren schnörkellosen Reportagen seit 15 Jahren deutsche, allzudeutsche Zustände beleuchtet, hat Prokop und Illich dennoch zum Reden gebracht. Zusammen mit der Fotografin Elisabeth Kmölniger hat die Journalistin sie und viele weitere Experten und Expertinnen aufgesucht, in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Nicht nur in ihren Laboratorien und Denkhöhlen oder an ihren Werk- und Arbeitsstätten. Sondern auch als Privatmenschen in ihren Wohnungen, Eigenheimen oder Hotelzimmern, bei Kaffee und Kuchen. Den berühmten Hirnforscher, Psychoanalytiker und Mathematiker ebenso wie den Kanalarbeiter, Blindenlehrer und die Hebamme, die gefeierte Hochseilartistin ebenso wie die gealterte Hure. Nicht selten sind es Rebellen ihres Faches, Menschen mit Zivilcourage wie die Schlachthofveterinärin Margrit Herbst. Sie hat als einzige ihrer Zunft schon in den frühen 1990er Jahren hierzulande BSE diagnostiziert, wurde fristlos entlassen und kämpft bis heute um ihre berufliche Rehabilitierung.

Oder der amerikanische Computerwissenschaftler Josef Weizenbaum: Einst war er am "Massachusetts Institute of Technology" selbst Schrittmacher der Digitalisierung, heute warnt er vor der grassierenden Technikgläubigkeit: "Ich habe Sachen gemacht in meinem Leben, für die ich mich jetzt schäme. Aber es ist sehr selten, daß ich daran denke [...] und es kann sein, daß ich Dinge getan habe, für die ich mich zwar schämen sollte, die ich aber so sehr verdrängt habe, daß sie einfach nicht mehr dazusein scheinen. Eines aber weiß ich, daß diese riesigen Berge von Katastrophen, die uns bedrohen, und der Massenmord, der jeden Tag stattfindet, nicht deshalb existieren, weil da etwas ist, was wir nicht wissen. Das ist wichtig, wichtig zu erkennen. Wir wissen alle, was notwendig ist zu tun. Es liegt in der Verantwortung jedes einzelnen. Die Ohnmacht des einzelnen, von der immer die Rede ist, ist eine Illusion; die gefährlichste, die wir überhaupt haben können. Der einzelne kann sich und muß sich als einzelner entscheiden, seine Entscheidung hat Bedeutung! Die Lösung der Probleme besteht beispielsweise im Verwerfen der Spielregeln, die das ganze Dilemma hervorgebracht haben, beispielsweise müssen wir endlich einsehen, daß es Berechenbarkeit nicht gibt."

Goettles Experten-Porträts, zuerst in der "tageszeitung" erschienen, liegen nun gesammelt vor. Der schön gestaltete Band der "Anderen Bibliothek" ist prall gefüllt mit Kenntnissen, Beobachtungen und Einsichten. Zum Beispiel: Die Hälfte der Frauen in einem Geburtshaus bringt ihre Kinder im Hocken zur Welt, ein weiteres Drittel in der Vierfüßlerstellung und nur acht Prozent in Rückenlage, die einzig für das medizinische Personal Erleichterung bringt. Oder: Für einen Blinden befinden sich die wirklich gefährlichen Hindernisse über dem Boden wie die Außenspiegel der Omnibusse oder die hydraulischen Ladeflächen der Lkws. Oder: Das Gehirn funktioniert so, dass ein aufgrund einer Amputation funktionslos gewordenes Hirnareal vom Gesicht übernommen wird; berührt jemand die Wange des Betroffenen, glaubt dieser, ihm würde die - nicht mehr existierende - Hand gestreichelt werden.

Es sind aufregende Expeditionen in fremde Lebens- und Arbeitswelten, Begegnungen und Gespräche nicht mit fernsehkompatiblen Bescheidwissern, sondern mit bescheidenen Kennern und Könnern. Mit Liebhabern ihres Metiers wie dem Wiener Prominentenschneider Josef "Peppino" Teuschler, der all die Beckenbauers und Gottschalks besser ausschauen lässt, indem er ihnen einen Frack auf den Leib schneidert. Denn "dieses Schneidersein ist eigentlich was Wertvolles, weil, man kann ganz nah an den Menschen heran. Das tut gut. Und ihm, dem Kunden, tut's auch gut - daß es das überhaupt noch gibt, daß man über seinen Körper, über seine Fehler, die wir alle miteinander haben, überhaupt noch reden kann".

Meist arbeiten sich Goettles Expertisen vom Allgemeinen zum Besonderen, von der Historie zur Gegenwart vor - von der bei den Ägyptern beginnenden Kulturgeschichte der Tierpräparation zu dem Taxidermisten Ingo Kopmann. Während er in seiner Werkstatt in Berlin-Charlottenburg schrägen Ehepaaren aus der Haut ihrer verstorbenen Hauspython Reizwäsche anfertigt, träumt er von der Teilnahme an der Präparatoren-Weltmeisterschaft in den USA. Manchmal loten die Porträts wie absichtslos die Zusammenhänge von Wissenschaft und Gesellschaft aus, manchmal die Nachtseiten der deutschen Geschichte oder die Folgen der Technik. Auf dem Schießplatz von Kummersdorf etwa hat das deutsche Militär vom Kaiserreich bis in die Nachkriegszeit seine Kanonen getestet; heute setzt sich der Werkzeugmacher Werner Nietschmann für seine Erhaltung als Museum ein. Noch voll in Betrieb ist dagegen die 25 Kilometer lange Rohrpost der Berliner Charité, die pausenlos Gewebe- und Blutproben transportiert. Der Rohrpostmeister Hans-Jörg Voss wacht vom Keller aus über ihre Funktionstüchtigkeit und führt dabei einen einsamen Kampf gegen die "Büchsensucht" der Ärzte und Schwestern: "So viele Büchsen könnten wir gar nicht anschaffen, wie da gehortet werden. Manchmal, wenn wir in Schränke gucken, was wir ja an sich nicht dürfen, dann finden wir zwanzig Büchsen! Die nehmen wir dann raus und schicken sie zurück. Aber das ist natürlich keine Lösung, die Schwester hat so einen Stapel von Zetteln und sagt: Huch!!! Wo sind denn meine Büchsen?! Wir werden dauernd angerufen, schickt uns bitte Büchsen. Wir haben dreißig Büchsen in Reserve, die wir in Notfällen eingeben, die kommen auch nicht wieder. Manchmal haben wir nicht eine einzige, das ist natürlich eine riesengroße Katastrophe."

Die "stillen Stars der Kompetenz", die Goettle in ihrer eigenen Diktion, in langen Zitaten von sich und ihrer Arbeit erzählen lässt, wachsen einem schnell ans Herz. Umso mehr, wenn sie Einblicke in ihre geheimen Leidenschaften gewähren und uns dabei auch das Abseitige, Ungeheuerliche nahe bringen. Wie Madame Réal, die noch immer von der Zärtlichkeit ihrer schwarzen Freier träumt: "Die schwarzen Männer verachteten uns Prostituierte nicht, so wie die weißen, die viel moralischer sind und verachtungsfähig. Die schwarzen Männer hatten sehr viel Herz für meine Kinder, haben sie auf die Arme genommen oder auf den Rücken, haben mit ihnen gespielt und sie beschenkt. Mich, die Hure, behandelten sie [...] wie eine Königin. Und sie behandelten mich wie eine Ehefrau im Bett, waren besorgt, daß ich einen Orgasmus habe. Und auch sie selbst waren wie Könige, wie stolze Dogen, auf den ersten Blick unnahbar, schön, mit ihrer samtenen, duftenden Haut und ihrem glucksenden Lachen. Sie haben die Prostitution zu einem erlesenen Vergnügen gemacht, zu einer ästhetischen Freude."

Ungeheuerlich und doch alltäglich ist auch die Arbeit des Kölner Kriminalbiologen Mark Benecke, der den Todeszeitpunkt von Leichen anhand der "Madenuhr" bestimmt. Benecke hat gelernt, eine Leiche aus der "Madenperspektive" anzuschauen: "'Ihr müsst euch das so vorstellen, ich guck mir die Leiche genau wie ein Insekt an, und für ein Insekt gibt's auch kein Gesicht, kein Genital, keine Haare. Wenn die Leiche hier ein Loch hat, beispielsweise', er bohrt der neben ihm stehenden Freundin den Finger demonstrierend in die Hüfte, 'dann guck ich mir dieses Loch zuallererst an. [...] Also ich [...] erkunde, was es überhaupt hier Interessantes gibt für mich, wo ist Licht, wo ist es warm, wo ist es feucht, mit der Erwartungshaltung einer Fliege, die gleich eine köstliche Eiablagestelle findet für ihre Brut."

Goettles Expertenporträts sind Einübungen in die Kunst, die Welt mit immer neuen Augen anzusehen. Etwa mit denen des Experimentalphysikers Rolf Landua, der sich im Genfer Kernforschungszentrum CERN darüber wundert, "daß diese Materieklumpen, diese Haufen von Elektronen und Quarks, als die wir hier sitzen und Kaffee trinken, all diese Fragen stellen."

Titelbild

Gabriele Goettle: Experten. Mit Photographien von Elisabeth Kmölniger.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
440 Seiten, 29,50 EUR.
ISBN-10: 3821845465

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