Was wir nicht lesen dürfen

Sarah Kirschs "Sämtliche Gedichte"

Von Wulf SegebrechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wulf Segebrecht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Endlich! Bewunderer und Liebhaber der Gedichte von Sarah Kirsch haben schon lange auf ihre "Sämtlichen Gedichte" gewartet! Endlich, so hofften sie, würden sie den erstaunlichen Weg dieser Lyrikerin von den naiven Anfängen bis zu den jüngsten Gedichten nachvollziehen können. Nun, zu ihrem 70. Geburtstag, legt ihr Verlag das ersehnte Werk vor: ein zweifellos schönes Buch, gediegen in Leinen gebunden, mit einem Lesebändchen versehen und geschmückt mit einem Aquarell der Verfasserin auf dem Schutzumschlag. Und das Buchinnere erst: die vielen wunderbaren Gedichte! Es gäbe also Anlass genug, Sarah Kirsch zu rühmen und gebührend zu würdigen. Doch leider bereitet dieses Buch bei näherem Hinsehen gerade dem Verehrer der Lyrik Sarah Kirschs eine herbe Enttäuschung. Sie zwingt ihn dazu, anstelle der begeisterten Hymne des Lobes das nüchterne Lied der Editionskritik anzustimmen; denn sämtliche Gedichte enthält der Band "Sämtliche Gedichte" gerade nicht.

Er enthält vielmehr die Texte, die Sarah Kirsch in den folgenden zehn Gedichtbänden veröffentlicht hat: "Landaufenthalt", "Zaubersprüche", "Rückenwind", "Drachensteigen", "Erdreich", "Katzenleben", "Schneewärme", "Erlkönigs Tochter", "Bodenlos" und "Schwanenliebe". Alles das, bis auf den letzten, inzwischen (2001) hinzugekommenen, Gedichtband "Schwanenliebe" konnte man bereits in den ersten drei Bänden der fünfbändigen Werkausgabe nachlesen, die 1999 in einer bibliophilen und 2000 als Taschenbuch-Ausgabe (dtv) erschienen ist, und zwar in exakt der gleichen Reihenfolge und Schreibweise. Die bereits dort eliminierten Gedichte "Aynn Wintrstück", "Aus dem Haiku-Gebiet" und "Watt II" fehlen auch in den "Sämtlichen Gedichten". (Das jetzt als "Watt II" bezeichnete Gedicht trug ursprünglich die Bezeichnung "Watt III"). Immerhin aber wurden diese Auslassungen und Änderungen (im Vergleich zu den Originalausgaben der Gedichtbände) in der Werkausgabe in einer Editorischen Notiz, die auch die Erscheinungsdaten und die Druckvorlagen nannte, im einzelnen angegeben; in den "Sämtlichen Gedichten" dagegen findet sich nicht der kleinste Hinweis auf solche Daten. Sogar die von Sarah Kirsch selbst verfassten Anmerkungen, Zwischentitel, Nummerierungen und Datierungen sind entfallen. Es ist, als sollte hier eine eigenwillige Auffassung von der Poésie pure in die editorische Praxis umgesetzt werden: Alles, was nicht der Text selbst ist, ist demnach sekundär und entbehrlich. Nur die Gedichte zählen. Sie erscheinen vor dem Leser, als hätten sie keine Zeit, als wollten sie nicht festgehalten, eingefangen werden.

Mit keinem Wort wird auch erklärt, warum nicht ein einziges der immerhin 26 Gedichte von Sarah Kirsch aus ihrem ersten, gemeinsam mit ihrem damaligen Ehemann Rainer Kirsch publizierten Gedichtband "Gespräch mit dem Saurier" (1965) in die "Sämtlichen Gedichte" aufgenommen wurde. Zwei dieser in den Jahren 1960 bis 1964 entstandenen Gedichte, nämlich "Schöner Morgen" und "Hierzulande", standen schon 1963 in dem vom Zentralrat der Freien Deutschen Jugend herausgegebenen Band "Auftakt 63". Er versammelte Gedichte junger Autoren, die im Januar 1963 "zu Ehren des VI. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands auf Initiative der Freien Deutschen Jugend in Berlin, Halle, Leipzig und Dresden" in stets überfüllten Hörsälen vorgelesen wurden. Hier also war zuerst zu hören, was Peter Hacks später in einem seither vielzitierten Essay den "Sarah-Sound" ihrer frühen Gedichte genannt hat.

Sie gehören - wie immer man sie einschätzen mag - ganz zweifellos zu ihrem lyrischen Œuvre; ja mehr noch: Sie sind geradezu unentbehrlich, wenn man den Weg von der (teils gespielten) Naivität ihrer jugendlichen Verse bis zur höchst raffinierten Simplizität ihrer jüngsten Kurzgedichte in dem Band "Schwanenliebe" nachvollziehen will. Zur Illustration zitiere ich eines der Gedichte aus dem Band "Gespräch mit dem Saurier", das man nun in den "Sämtlichen Gedichten" nicht mehr nachlesen darf:

LEISE ZIEHT DURCH MEIN GEZELL
eine Dystonie,
und mein sonst so dickes Fell
wird transparent wie nie.

Kannst jetzt meine Venen sehn,
akkurat verzweigt,
wie sie in die Zehen gehen -
bleibst du mir geneigt?

Noch in dem Band "Musik auf dem Wasser", der, herausgegeben von Elke Erb, 1977 im Leipziger Reclam Verlag erschien, standen immerhin vier der nun gänzlich unterdrückten Gedichte; und in der DDR, der Sarah Kirsch zu keiner Zeit nach dem sozialistischen Mund geredet hat, erregten ihre frühen Gedichte so viel Aufmerksamkeit, dass ihr mehrere Literaturpreise zugesprochen wurden. Jedenfalls sollten sie auf gar keinen Fall fehlen, wenn ihre "Sämtlichen Gedichte" zusammengesammelt werden, und schon gar nicht darf ein Buch "Sämtliche Gedichte" heißen, wenn es nicht sämtliche Gedichte enthält.

Schon viele Autoren haben versucht, ihr Frühwerk abzuleugnen oder zu unterdrücken. Das ist noch allemal misslungen, wenn diese Autoren mit ihrem Gesamtwerk das neugierige Interesse der Leser an allen seinen Facetten verdient und geweckt haben. Sarah Kirsch wird es nicht anders ergehen.

Nur am Rande sei angemerkt, dass auch spätere Texte von Sarah Kirsch in diesem Nachdruck ihrer Gedichtbücher fehlen. Beispielsweise findet man keines der acht Gedichte, die unter dem Titel "Nachtsonnen" (1995) "ein gemischtes Bündel" bilden; ob das auch auf die Gedichte weiterer bibliophiler Ausgaben zutrifft, wäre zu prüfen. Doch sind diese Lücken, die freilich als solche wenigstens hätten markiert werden müssen, bei weitem nicht so schwerwiegend wie das Fehlen der Gedichte, mit denen Sarah Kirschs Schriftstellerkarriere begann.

Dennoch oder gerade deshalb darf man sich wohl ausmalen, wie eine Ausgabe der "Sämtlichen Gedichte", die diesen Titel wirklich verdiente, auszusehen hätte. Sie müsste unbedingt alle Gedichte enthalten, also auch diejenigen, die nur in Zeitschriften, Sammelwerken und Anthologien erschienen sind. Darüber hinaus wäre es sinnvoll, auch wichtige Abweichungen zwischen den Erstveröffentlichungen der Gedichte und ihrer Wiedergabe in den Gedichtbänden - wenigstens in der Form von Lesarten - mitzuteilen. Nur zwei Beispiele: In dem Gedicht "Bäume lesen", erschienen in der Anthologie "An Alle. Gedichte und Grafiken zum Großen Oktober" (1967) wird Majakowski herbeizitiert: "Majakowski / eine Wolke in Hosen, bläst / auf seiner Wirbelsäule die Flöte / ich lese Aurora"; in dem Band "Landaufenthalt" dagegen - und dementsprechend nun in den "Sämtlichen Gedichten" - lautet die Passage: "Majakowski / Bläst seiner Wirbelsäule die Flöte / Ich lese: AURORA". Das mag man noch für eine Lappalie halten. Gravierender sind die Veränderungen in der zweiten Strophe des reimlosen Sonetts "Der Himmel schuppt sich" (ebenfalls aus dem Gedichtband "Landaufenthalt"), das vom Schnee spricht und den Schnee anspricht; sie hat dort folgenden Wortlaut:

Schnei ihn ein, Schnee, fall aus allen Wolken
Bring Nacht, Mauern aus Eis, teil
Deine Flocken ohn Unterlaß, roll ihn in Hochlandlawinen
Er hat was nicht schlägt als Herz in der Brust

In einer früheren Fassung, die in der Zeitschrift "konkret" gedruckt wurde (Mai 1965), lautete diese Strophe dagegen:

Schnei ihn ein, Schnee, fall aus allen Wolken
in Parthenogenese mach, hab Einfälle, laß nicht nach,
fall an, erreich seinen Bärenkopf, bei Fahrenheit, laß
keine Pore aus: Er hat ein Eis-Aggregat in der Brust.


Doch genug der Beanstandungen! Freuen wir uns über das, was wir haben! Wir haben eine Ausgabe der "Sämtlichen Gedichte" von Sarah Kirsch, die nur einen Wunsch offen lässt: endlich sämtliche Gedichte von Sarah Kirsch lesen zu dürfen.

Titelbild

Sarah Kirsch: Sämtliche Gedichte.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005.
560 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3421058652

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