Carepakete, Marshallplan und eine "Neue Zeitung"

"Diese merkwürdige Zeit" 1945-1955 im Spiegel einer Zeitungsgeschichte, ausgewählt und kommentiert von Wilfried F. Schoeller

Von Laura WilfingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laura Wilfinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Alle Buchdrucker, Setzer, Stereotype, Buchbinder usw. melden sich bei Alfred Andersch, Schellingstraße 39." So las der aus Krieg und Gefangenschaft zurückgekehrte Walter Kolbenhoff auf einem Zettel an einer Münchner Wand, einer der noch stehenden. Den jungen Redakteur Andersch kannte er aus dem amerikanischen Kriegsgefangenenlager, sie hatten dort gemeinsam eine Zeitschrift, den "Ruf", herausgegeben. Nun, Anfang 1946, ist Andersch der Assistent von Erich Kästner, dem Leiter des Feuilletons einer neuen Zeitung, die seit Oktober 1945 in München erscheint. Es ist eine neue Zeitung für Deutschland, seitdem kurz vor Kriegsende die letzte Nummer des "Völkischen Beobachters" gedruckt worden war, bezeichnenderweise in demselben Gebäude.

Zweimal wöchentlich, mittwochs und samstags, erscheint nun ein sechsseitiges Blatt, überregional in der amerikanischen Besatzungszone und in deutscher Sprache. Das "militärisch einsilbige Impressum" verweist den Leser an: "Publishing Operations Section, Information Control Division, U.S. Army". Auf der Titelseite der ersten Ausgabe erklärt Dwight D. Eisenhower in seinem Geleitwort: "Zum Unterschied von jenen deutschen Zeitungen, die jetzt von deutschen Herausgebern veröffentlicht werden, und den Beginn einer freien deutschen Presse darstellen, wird die Neue Zeitung ein offizielles Organ der amerikanischen Behörden sein." Gedacht ist die Neue Zeitung damit als Instrument der reeducation, einem Ideal der "Umerziehung" der besiegten Deutschen, angefangen beim deutschen Pressewesen, dem sie "durch objektive Berichterstattung, bedingungslose Wahrheitsliebe und durch ein hohes journalistisches Niveau als Beispiel dienen" sollte.

Tatsächlich entsteht diese "amerikanische Zeitung für die deutsche Bevölkerung" unter der Regie einer speziellen "Propagandaabteilung" der Army, genannt Psychological Warfare Division, der sich vor allem deutsche und deutschjüdische Emigranten angeschlossen hatten. Einer der leitenden Köpfe der Abteilung ist der österreichische Journalist Hans Habe, der als Major der amerikanischen Armee 1944 über Luxemburg wieder nach Deutschland kam, mit dem erklärten Ziel, aus den kleineren Mitteilungsblättern der Besatzungsarmee eine Zeitung zu schaffen, die "den Deutschen endlich die Fenster zur Welt öffnen" sollte. Drei Wochen Zeit lässt ihm die Kommandantur in Washington für die Gründung der Neuen Zeitung und den Aufbau einer Redaktion in München, für die er unter anderen den mit ihm aus Amerika zurückgekehrten Lieutenant und Schriftsteller Stefan Heym gewinnt sowie den Journalisten Hans Wallenberg, ebenfalls Offizier der Psychological Warfare Division, der auch Habes Nachfolger werden sollte. Bald darauf treten, nach dessen glücklicher Prüfung durch die amerikanischen Behörden, der bekannte Feuilletonist und Kinderbuchautor Erich Kästner in die Redaktion ein, die junge Wissenschaftlerin Hildegard Brücher, der Kritiker Friedrich Luft und mit der Zeit zahlreiche Journalisten der Weimarer Republik, die aus dem Exil wie aus der Inneren Emigration "zurückgekehrt" sind. Der Kabarettist Werner Fink notiert: "Für geistreiche Opposition kam man im Dritten Reich ins Konzentrationslager. Heute in die NZ".

Eine "Zeitungstype" sollte es werden, "die den Boulevard-Stil und den Ex-cathedra-Stil in gleicher Weise mied", so wünschte sich Hans Habe. Die Initiatoren der Neuen Zeitung, die amerikanische Besatzungsmacht, mögen kaum solche stilistischen Ideale verfolgt haben, doch scheitert hier, vor allem im Feuilleton, der Einfluss der "Militärs an ihrem Mangel an literarischer Bildung". Dieser Umstand macht das Blatt zu einem einzigartigen Forum der deutschen Geisteswelt der Nachkriegszeit. Eine lange und umfassende Liste "allererster Namen" ziert den Schutzumschlag des Bandes, den der Herausgeber Wilfried F. Schoeller unter dem Titel "Diese merkwürdige Zeit" zusammenstellte. Knapp zehn Jahre währte das Erscheinen der Neuen Zeitung, von 1945 bis 1955: Ein Dokument zum "Leben nach der Stunde Null", so versteht der Herausgeber sein "Textbuch", "eine fesselnde Chronik der Gedanken und Lebensgefühle im ersten Nachkriegsjahrzehnt".

Schoellers Auswahl beschränkt sich weitgehend auf das Feuilleton, das obendrein "meistens ein Drittel der ganzen Zeitung einnahm". Wir finden zahlreiche kleine Prosabilder, die das Kriegsgeschehen im Spiegel der "neuen Zeit" erinnern, "verdichtete" Erinnerungen jener, die, wie Werner Fink schreibt, einem "unbeschreiblichen Gefühl" endlich Ausdruck geben wollen: "Wieder schreiben und widersprechen zu dürfen!" Dazwischen sind erstaunliche Anekdoten zu lesen, wie jene von der Papiermühle Wirth in Freimann bei München, der Ende April 1945 eine enorme Menge "Altpapier" angeliefert worden war, das "sofort zu vernichten" wäre. Entgegen des Befehls sorgfältig in die Friedenszeit hinübergerettet, entpuppte sich jener Papierberg als die vollständige Mitgliederkartei der NSDAP mit etwa 8 Millionen Karten.

Eine zuweilen beklemmende Authentizität verleiht der unvergleichliche Erzählton Erich Kästners seinen "Streiflichtern aus Nürnberg", wo "jetzt also der Krieg, der Pogrom, der Menschenraub, der Mord en gros und die Folter auf der Anklagebank sitzen", und dem Autor selbst nicht nur das Herz, auch die Ohren weh tun, weil "die Kopfhörer eine zu kleine Hutnummer hatten". Wo hingegen die sachliche Reflexion im Vordergrund steht, geht es oft, als habe man tatsächlich einen Nullpunkt der Kommunikation zu überwinden, um die Sprache selbst. Vorbei die Zeiten, da man "Sprache auf Lebensmittelkarten" verteilte, wie der Sprachkritiker W. E. Süskind notiert, da "der Begriff Liebe als nicht kriegswichtig mit rückgreifender Wirkung gestrichen" werden musste. Statt dessen lesen wir von der Hoffnung Richard Hamanns auf eine vollständige "Entmilitarisierung der Begriffe", die so lange ausbleiben muss, wie "der Kritiker das Schwert seines Witzes schärft" und "der Professor nichts heißer ersehnt, als eine große Kanone genannt zu werden".

Wenn Schoeller im Nachwort die Neue Zeitung ein "Journal der Demokratie" nennt, so begreift er damit auch den Charakter eines Diskussionsforums, das ernsthaft zwischen den Positionen "dieser merkwürdigen Zeit" zu vermitteln sucht. Hier treffen alliierte Haltungen zur vermeintlichen "Kollektivschuld" der Deutschen auf behutsame Erklärungsversuche deutscher Intellektueller, wie etwa in Karl Jaspers' Antwort auf das vernichtende Urteil der norwegischen Autorin Sigrid Undset. Wie weit die so genannte Schuldfrage zu jener Zeit ihre Kreise zieht, zeigt die Vehemenz dieser Beiträge, von manchem "völkerpsychologischen Ausflug" bis zum offenen Schuldbekenntnis des Pfarrers Martin Niemöller in seiner umstrittenen Erlanger Predigt. Für viele Emigranten schließlich war die Neue Zeitung eine Möglichkeit, sich wieder in ihrer Sprache und an ein deutsches Publikum wenden zu können - angefangen mit Alfred Kerr meldeten sich bald auch Thomas und Heinrich Mann, Alfred Döblin und andere in der Neuen Zeitung zu Wort und entzündeten damit eine nicht durchweg freundliche Debatte um die "Fragen der Rückkehr", "konterkariert durch Selbstrechtfertigung der Inneren Emigration", für Schoeller ein "Generalthema" im Feuilleton der NZ. In der beginnenden Bundesrepublik wird sich dann die "Bühne für beide Gruppen von Nazigegnern" in ein Forum der jüngeren Generation um die Gruppe 47 verwandeln: "Vermutlich hat sich die Junge Generation nirgendwo sonst so emphatisch über sich ausgesprochen wie an diesem publizistischen Ort", urteilt der Herausgeber.

Wilfried F. Schoeller hat seine fast 600 Seiten starke Sammlung - auch wenn er einräumt, sie sei ihm "von bescheidenen Vorgaben aus selbst ein wenig ins Monumentale gewachsen", so ist dennoch ersichtlich, wie komplex die Auswahl aus einem derart umfangreichen Fundus gewesen sein muss - nach Jahrgängen geordnet und den Beiträgen jeweils eine Chronologie der Ereignisse vorangestellt. Bei einem "Textbuch", als das er seine Auswahl präsentiert, mag das zunächst verwundern. Im Hinblick auf den besonderen Charakter dieser "amerikanischen Zeitung für die deutsche Bevölkerung" erweist sich dieser Zeitspiegel dennoch als aufschlussreich: zeigt sie sich doch vielmehr als das Werk deutscher Journalisten in amerikanischer Uniform. In Einzelkommentaren zu den etwa 150 "aus Tausenden von Beiträgen" liefert Schoeller Biografisches zu den Autoren und eine Kontextualisierung der ausgewählten Beiträge - eine nützliche, wenn auch etwas unübersichtlich gestaltete Beigabe, die mit dem angefügten Literaturverzeichnis zu vertiefender Lektüre einlädt. Schoellers abschließendes Portrait der Neuen Zeitung und ihrer Protagonisten versucht dann, den Kreis zu schließen von den Jahreschroniken über seine Textauswahl und die Kommentare und ein einheitliches Bild dieser "einzigartigen, bisher wenig erschlossenen Quelle der Zeitgeschichte" zu geben.

Als mit dem Jahr 1955 "die Trümmer-, Kahlschlag- und Reportageliteratur ausgeschrieben" scheint, ist auch das Ende der Neuen Zeitung gekommen. Der Einstellungsbeschluss des US-Informationsamtes stellt fest: "Die Aufgabe ist erfüllt" und ebenso deutet Schoeller, "das vielleicht erfolgreichste Projekt der Amerikaner für das Nachkriegsdeutschland neben Carepaketen und Marshallplan" sei seiner Vorbildfunktion für eine neue freie deutsche Presse gerecht geworden. Dieses "Lesebuch" dokumentiert - ob in vollem Einklang mit der Besatzerdoktrin, sei dahingestellt - die ersten Schritte der deutschen Intelligenz in die Nachkriegszeit. Daneben liefert Schoellers Portrait der Neuen Zeitung ein mahnendes Beispiel für den heutigen Zeitungsleser, dem eine "selbstverständliche Wahrheit" wie: "Für alle Kulturvölker der Erde ist Krieg etwas an sich Unmoralisches" aus der Feder eines amerikanischen Generals seltsam widersprüchlich anmuten dürfte.

Titelbild

Wilfried F. Schoeller (Hg.): Diese merkwürdige Zeit. Leben nach der Stunde Null.
Edition Büchergilde, Frankfurt a. M. 2005.
702 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3936428425

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