"... wir sind, was wir versprechen niemals zu tun."

Jan Philipp Reemtsmas kluge Ausführungen zur Frage "Folter im Rechtsstaat?"

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ende September des Jahres 2002 geschah Folgendes: Ein junger Student, Magnus Gäfgen, entführte ein Kind aus einer Familie, zu deren Bekanntenkreis er gehörte, um ein Lösegeld zu erpressen... Während der Entführung brachte er das Kind um, indem er es erstickte. Als er einen Tag nach der Geldübergabe verhaftet wurde, weigerte er sich, das Versteck des Kindes preiszugeben - die Polizei ging davon aus, daß es noch lebte. Man drohte ihm die Zufügung körperlicher Schmerzen an ...". So, ebenso lakonisch wie packend, eröffnet Jan Philipp Reemtsma seine Abhandlung über ein Thema, das eher beiläufig anklingt: "Folter im Rechtsstaat?" Es war der stellvertretende Frankfurter Polizeipräsident Wolfgang Daschner, der die Anweisung gegeben hatte, dem Entführer körperliche Schmerzen anzudrohen. Zwei Jahre später wurde Daschner wegen "Verleitung zur Nötigung in einem besonders schweren Fall" von einem Gericht für schuldig befunden. Doch damit war die Sache nicht erledigt, denn im Raum blieb die Frage stehen, ob es nicht im Einzelfall doch eine Berechtigung zur folterartigen Erzwingung solcher Aussagen geben könne, mit denen unschuldige Opfer zu retten wären ...

Ein zweiter Einstieg: "Der Film war vielen ein Ärgernis. Er galt als erster Versuch, massenwirksam eine Revision der Wahrnehmung von Kriminalität einzuleiten... Der Film, 1971 produziert, hieß ,Dirty Harry', und in ihm geht es um den Zweikampf eines von seinen Vorgesetzten und der Staatsanwaltschaft ... an effektiver Arbeit gehinderten Polizisten in San Francisco mit einem pathologischen Mörder, der erst am Ende des Films zur Strecke gebracht wird, als der Polizist ihn erschießt." Sowohl das reale Geschehen in Frankfurt wie auch das fiktive Geschehen im Film erzeugen ein außergewöhnliches, dramatisches Geschehen, aus dem eine gewisse Plausibilität für die Aussetzung bestehender Rechtsstandards herleitbar scheint. Eine "Transformation (mindestens jedoch Modifikation) des Rechtsgeschmacks" ist denkbar.

In zehn Kapiteln analysiert Reemtsma diese letztlich den Rechtsstaat auflösende Veränderung des Rechtsgeschmacks. Zunächst ist bemerkenswert, wie ausführlich sich Rechtsexperten bereits in die Thematik eingedacht haben. Die Gedankenspiele kreisen dabei zumeist um kurios konstruierte Lagen, in der zum Beispiel ein terroristischer Erpresser eine ganze Stadt mit einer chemischen Bombe bedroht. Darf man, um die Bombe rechtzeitig finden und entschärfen zu können, mit Gewalt den gefassten Erpresser zur Aussage zwingen? Solche Szenarien erinnern an die Entweder-Oder-Konstellationen früherer Gewissensprüfungen für Wehrdienstverweigerer. Auch da wurden irreale Szenarien ersonnen, um dem ,Prüfling' eine Entscheidung abzuverlangen: der mordlustige Bösewicht, dessen Absicht zur Tötung der Freundin nur durch eine eigene Gewaltaktion zu verhindern sei ... "Irreale Beispiele führen zu Diskussionen über Irreales", zitiert Reemtsma den Juristen Bernhard Schlink. Aber Reemtsma stellt die naheliegende Abqualifizierung der vermeintlich Folter rechtfertigenden Szenarien nicht zufrieden. Er will grundsätzlicher überzeugen und lässt sich infolgedessen auf die Logik der erdachten Szenarien zur Rechtfertigung einer Folteroption ein. Er weiß um die emotionale Wucht des Arguments, das seine Kraft aus der angenommen Perspektive des Opfers schöpft. "Who speaks for her?" fragte in "Dirty Harry" Clint Eastwood im Namen eines von dem Mörder entführten Mädchens - wie unpassend erscheint in dieser Situation der rechtsphilosophische Verweis auf die unveränderliche Menschenwürde des Täters. "Würden Sie es tun?" Die Folter anwenden? "Meine Antwort wäre eindeutig: Ja. Ich würde diesen Menschen so lange quälen, bis er das Versteck seiner Geisel nennt - jedenfalls würde mir die Grenze meines Tuns nicht mein Mitgefühl mit dieser Person ziehen, sondern der irgendwann eintretende Ekel vor mir selbst." Dies ehrliche Geständnis ist zwiespältig. Zum einen geht es von einer gewissen "moralischen Berechtigung" für die ,grausame' Handlung aus, zugleich aber zieht Reemtsma eine Grenze: "Weil am Ende nicht das Entscheidende ist, was wir jemandem zumuten zu leiden, sondern was wir uns zumuten zu tun." Aus dieser Wendung ergibt sich eine unmittelbare Verantwortung. Sie zwingt, die Szenarien bis zum konsequenten Ende zu denken. Wie weit wollen wir bei den Methoden der Folter gehen? Welche Schmerzen sind gerechtfertigt, welche nicht? "Wenn wir der Imagination nicht jene Hemmungen auferlegen, die für die Diskussion insgesamt typisch sind, wird wohl jeder, der sich nicht in den Verdacht bringen will, sie sich lustvoll auszumalen, irgendwann Einhalt rufen: Das nun jedenfalls nicht!" Aber wenn es doch ,nötig' ist? Was das schließlich bedeutet, zeigt der - freilich nie mitgedachte - Fall, dass jemand zufällig oder zu Unrecht der Folter unterworfen wird. In diesem Falle, da auch die Chance nicht mehr besteht, sich der weiteren Folter durch die ,rettenden' Aussage zu entziehen, stände der Rechtsstaat vor seinem Ende. Er würde seine elementare Voraussetzungen aufgeben: die "Rechtsfähigkeit seiner Bürger. Sie müssen das Recht und die Fähigkeit haben, seine Instrumente zu nutzen". Die Folter aber "zielt auf die totale Unterwerfung des Gefolterten". Weil dadurch aber "das Individuum in seiner Fähigkeit, ein Rechtssubjekt zu sein angegriffen, ja im Extremfall als autonomes Individum zerbrochen und zerstört wird", kann die Folter niemals ein Mittel des Rechtsstaats sein. Es ist eigentlich ganz einfach: "Wir sind, was wir tun. Und wir sind,was wir versprechen, niemals zu tun." Beides gehört zusammen, und genau das belegt Reemtsma mit seinem klugen kleinen Buch. Allen sei's dringend zur Lektüre empfohlen!

Titelbild

Jan Philipp Reemtsma: Folter im Rechtsstaat?
Hamburger Edition, Hamburg 2005.
153 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-10: 3936096554

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