Brutalstmögliche Lektüre
Andreas Maier zernichtet Thomas Bernhards Prosa
Von Markus Steinmayr
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Werk des 1989 verstorbenen Landwirts und Schriftstellers Thomas Bernhard stellt für die deutschsprachige Gegenwartsliteratur eine feste Bezugsgröße dar. Romane, Erzählungen und Theaterstücke Thomas Bernhards sind für junge Autoren oftmals das prägende Lektüreerlebnis, der Sprachmächtigkeit und der Wortgewalt dieser Prosa verdankt so mancher vieles.
Auch für die Literaturwissenschaft ist Thomas Bernhards Werk ein beliebtes Anwendungsfeld ihrer Theorien und Methoden. So haben die Texte Bernhards die psychoanalytische, die poststrukturalistische, die intertextuelle Lektüre erdulden müssen. Die unüberschaubar gewordene Sekundärliteratur zu Thomas Bernhard ist ein Spiegelbild aktueller Theorie- oder Methodenmode.
In Andreas Maiers "Die Verführung. Thomas Bernhards Prosa" scheinen sich die literarische und die literaturwissenschaftliche Perspektive auf Bernhards Werk zu vereinigen. Maier hat eine literaturwissenschaftliche Qualifikationsarbeit über einen Autor verfasst, dem seine Romane sowohl stilistisch als auch inhaltlich nicht wenig verdanken.
Die Dissertation liest sich erfrischend anders als die sonst so theorielastigen, methodenfixierten und häufig an der Grenze zur Lesbarkeit geschriebenen Arbeiten, die von den philologischen Fakultäten unserer Universitäten als Dissertationsschriften heute angenommen werden. Anders auch deswegen, weil hier der Germanist Andreas Maier als ein genauer, ja fast schon penibler Leser auftritt, dem es gelingt, die inhärenten Widersprüche des Bernhard'schen Textes zunächst zu bemerken und dann zu rekonstruieren. Es handelt sich bei der Lektüre Maiers um eine sehr genaue, in der Immanenz der Texte verbleibende Lektüre, die zu einer von keinem theoretischen Bekenntnis ideologisierten Abhandlung gerät.
Sie ist auch deswegen anders, weil Maier in seinen urteilenden Passagen Dinge tut, die schon jeder Leiter eines Proseminars inkriminieren würde: Er schreibt bissig und ironisch, ist subjektiv und ungerecht, ignoriert größtenteils die Sekundärliteratur oder macht sich über sie lustig.
Im Verlauf seiner Lektüre des Werks "Alte Meister" weist Maier der Literaturwissenschaft nach, dass die so genannte Analyse der intertextuellen Anspielungen und Verweise ein Ergebnis der Bedeutungssuggestion der Texte Bernhards ist, die Effekt vor analytisch durchdringbaren Inhalt setzen. Für Maier ist die vermeintliche Proust-Rezeption bei Bernhard ein Beispiel für die Logik der literaturwissenschaftlichen Forschung, die die Anspielungen der Texte auf Geistesgrößen der Literaturgeschichte für bare Münze nimmt, anstatt zu erkennen, dass sie nur Bildungsgerüchte in die Welt setzen:
"Er (der Literaturwissenschaftler Thomas Klinkert( beginnt seine Untersuchung mit dem schlagkräftigen Hinweis, bei Bernhard komme der Name ,Proust' vor. Er gesteht zwar ein, daß es auf den ersten Blick vielleicht nicht naheliegend scheine, den Namen Proust und den Namen Bernhard zu verknüpfen, macht aber alsbald ,Auslöschung' zu einem ,Proust-Palimpsest' und stellt die These auf, dieser Roman sei eine ,thematische, strukturelle und poetologische Revokation der ,Recherche' '. Dann gesteht er wiederum ein: "Die Privilegierung des Proust-Bezugs erhebt indes keinen Exklusivitätsanspruch, sie rechtfertigt sich primär aus meiner [i.e. Klinkerts] Fragestellung. [...]" Aber ist das Thema einmal in der Welt, wird es weiter traktiert. Günter Butzer hat einen auf Klinkert aufbauenden Forschungsbeitrag geleistet. Darin verkündet er: "Thomas Bernhard hat sich von seinen frühen Texten an wiederholt durch Anspielungen und versteckte Zitate polemisch mit Prousts Erinnerungspoetik auseinandersgesetzt." Als Beweis für die (natürlich versteckten, also nicht expliziten) Zitate führt er einen Satz aus "Frost" an: "Derselbe Geruch, sagte er, der ihn schon als Kind immer irritiert habe, ein Geruch von so viel Teer, Abort, Korn und Apfeldunst" etc. Man ahnt, was folgen muss: "Die Kindheit inkorporiert in einem, wenn auch nicht sonderlich angenehmen Geruch - das spielt unzweideutig auf Proust-Madeleine-Szene an." Ja, wirklich unzweideutig, und Maier bemerkt: "Was wäre die vergleichende Literaturwissenschaft ohne die Madeleine-Szene."
Das ist herrlich ungerecht und polemisch. Aber nicht nur. Der Leser des Autors Maier wittert dahinter auch einen poetologischen Kommentar. Denn genau so wie sich die Welt in seinem Roman "Wäldchestag" in Gerücht und Gerede auflöst, so löst sich hier auch die Literaturwissenschaft in eine Wissenschaft auf, die auf bloßen Gerüchten, Mutmaßungen und Vermutungen basiert, die irgendein findiger Interpret irgendwann in die Welt gesetzt hat. Diese Behauptungen pflanzen sich unaufhörlich fort, verbreiten sich unkontrolliert und haben und immer neue Monographien und Aufsätze zur Folge.
Was aber sind nun die literaturwissenschaftlichen Thesen Maiers zu Thomas Bernhard? Bei Bernhards Prosa inklusive der autobiografischen Texte handele es sich um eine Literatur der Bedeutungsvermeidung bzw. des Bedeutungsaufschubs. Dieser gelinge aber nur durch die Form, d.h. die Frage ist, wie hier etwas vermieden bzw. aufgeschoben wird - und nicht, was vermieden oder aufgeschoben wird. Für Maier stellen die Texte Bernhards durch eine exzessive Hyperbolik das her, was sie sagen wollen. Es gibt für Maier kein Außen der Form. Grundlegend ist für ihn das "Übertreibungskonzept" Bernhards. Die "semantische Verschleierung" erkennt er als das Prinzip der Bernhardschen Texte. Dadurch entsteht eine Welt des Sekundären, in der einer sagt, dass jemand etwas gesagt hat, der wiederum von jemanden gehört hat, dass dieser sich über dieses und jenes geäußert hat, oder einer schreibt auf, was ein anderer berichtet hat, der wiederum etwas zu Protokoll gegeben hat, worüber sich ein anderer geäußert hat. Bernhards Romane, so könnte man narratologisch Maiers These zuspitzen, verschleiern durch das Erzählen das Erzählte, übersteigern es und lösen es letztendlich auf. All diese Strategien sind Ausdruck einer "manipulative(n( Leserführung". Wendet man das rezeptionsästhetisch, so haben wir es bei Thomas Bernhard mit einem Autor zu tun, der seine Leser verführen will.
Dies gilt nach Maier für alle Prosatexte Bernhards, also auch für die Autobiografien. Nun hat die literaturwissenschaftliche Forschung in den letzten Jahren immer wieder auf die Rhetorizität der Autobiografie aufmerksam gemacht. Denn in Bernhards Autobiografien geht es auch darum, den Leser von der Außergewöhnlichkeit der eigenen Biografie zu überzeugen. Maier nun glaubt, dass es in Bernhards autobiografischen Texten gar nicht darum gehe, zu überzeugen, sondern um reine Suggestion. Der Leser solle dazu überredet werden, Thomas Bernhard für einen großartigen, außergewöhnlichen, äußerst widerstandsfähigen Menschen zu halten, der unter den widrigsten, geistesfernsten, lebens- und denkfeindlichsten Umständen gelebt habe. Dies sei, schreibt Maier, die Strategie der autobiografischen Texte Bernhards. Der Überredungsversuch, den seine autobiografischen Texte darstellen, wird laut Maier erst dadurch möglich, dass in den autobiografischen Texten eine Reihe von Inkonsistenzen zwischen realer Biografie und Autobiografie produziert werden müssen. Ihr Ziel ist die Selbststilisierung des Autorsubjekts Thomas Bernhard: "Bernhard behauptet ununterbrochen, sein Leben abschließend und endgültig in die Hand zu nehmen. Aber zugleich muß es ihm immer wieder durch die Umstände aus der Hand genommen werden, damit er es letztendlich heldisch doch wieder in die Hand nimmt." Dieses Prinzip ist aber in der Autobiografie wohlbekannt. Es geht - wohl in der Folge von Goethes "Dichtung und Wahrheit" - darum, sich als Autorsubjekt zu nobilitieren, um so das Leben durch die Kunst formbar zu machen. Erst in der Kunst, erst im Schreiben über das Leben erfüllt es sich. An dieser Stelle hätte man sich - bei aller Sympathie für das unkonventionelle der Maierschen Doktordissertation - doch ein paar Bemerkungen zu Tradition der modernen Autobiografie gewünscht, denn der Aufweis empirischer Widersprüche zwischen gelebtem Leben und Autobiografie ist ein wenig ermüdend. Denn auch für diese Texte gilt ja das Strukturprinzip Bernhard'scher Texte: Sie wollen affirmiert, nicht durch Überprüfung mit dem realen Leben beglaubigt werden. Sie bestechen durch ihre suggestive Form, indem sie die Entfiktionalisierung der Literatur als wirkungsästhetisches Prinzip setzen. Hierin ist Maiers Argumentation nicht ganz konsequent. Denn warum sollte das, was er für die fiktionale Prosa herausgearbeitet hat, nicht auch für die Autobiografie als Text gelten? Dies wird nicht recht deutlich. Denn es scheint, als ginge Maier hier von einem relativ antiquierten Autobiografiebegriff aus, der in Teilen durch die Forschung schon längst überholt ist.
Im letzten Kapitel, das unter dem Titel "Alte Meister. Bernhards Stil" noch einmal die wesentlichen Thesen der Arbeit zusammenfasst und zuspitzt, lässt sich nicht nur eine Autorenpoetik Thomas Bernhards finden, sondern auf dem Wege der Übertragung auch diejenige des Dissertationschreibers Andreas Maier. Reger, der Protagonist in "Alte Meister", der im kunsthistorischen Museum in Wien vor Tintorettos "Weißbärtigem Mann" sitzt, und nicht davon lassen kann, in diesem Bild einen Fehler zu suchen, um so das Unperfekte, das Nie-Ganz-Gelungene der Kunst zu demonstrieren, erscheint hier als Vorbild Maiers, der über den Texten Bernhards sitzt und an den unmöglichsten Stellen Widersprüche, Inkohärenzen, Inkonsistenzen feststellt, obwohl doch alle Figuren in diesen Romanen selbst zugeben, dass sie nicht immer die Wahrheit sagen. Wie Reger sich über Heidegger, Stifter, Bruckner und die Kunsthistoriker erregt und sie der absoluten Zernichtung anheim fallen lässt, so erregt sich Maier schließlich selbst über eine naive, geistesferne Literaturwissenschaft, in der nicht mehr genau gelesen wird und die darüber hinaus den Texten Bernhards auf den Leim gegangen ist, weil sie sich von der angeblichen Geistesgröße, der angeblichen existentiellen Verlorenheit der Figuren und seines Erfinders auf das naivste, man möchte fast sagen, auf das allernaivste hat blenden lassen. Für Maier ist Bernhard das, was Heidegger, Stifter, Bruckner für Reger sind - eine höchst produktive Erregung.
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