Bestürzende Ratlosigkeit

Der Sohn der großen deutschen Erzählerin Anna Seghers erinnert sich an ein zerrissenes Leben im Europa des 20. Jahrhunderts

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den sich überstürzenden Tagen der friedlichen Revolution von 1989 und 1990 setzte das legendäre Team des DDR-Fernsehens "Elf 99" zum Sturm auf das bis dahin hermetisch abgeriegelte Politikerwohnviertel in Berlin-Wandlitz an. Mit wackelnder Kamera wurden unvermittelt die überrascht dreinblickenden SED-Funktionäre gefilmt. Auch der bis dato mächtige Kurt Hager, Vorkriegskommunist und ehemaliger Emigrant, wurde auf dem Spaziergang mit seiner Frau überrascht. Er stammelte vor Verlegenheit und hakte sich dann an einem Satz fest: "Wir waren Antifaschisten!". Eine hilflos wirkende Erklärung, die die psychologisch-politische Aufklärung über eine ganze Generation von DDR-Funktionären in sich birgt.

Unwillkürlich lässt einen nun die Lektüre des gut zu lesenden Erinnerungsbands von Pierre Radvanyi an diese spezifische DDR-Psychologie denken, die nicht ohne Tragik ist. Zweifellos steckte den Kommunisten wie Hager oder auch Anna Seghers, der ihre jüdische Abstammung noch zusätzlich zum Verhängnis wurde, die Schrecken jener Zeit, in der sie den Nazijägern lebend entkommen waren, noch in den Knochen. Der überwiegende Teil der vorliegenden Erinnerungen betreffen nicht von ungefähr die Jahre der stetigen Unsicherheit auf der Flucht. Anna Seghers war mit ihrem Mann und den Kindern zunächst in Frankreich gelandet. Der junge Pierre Radvanyi war damals ein Emigrantenkind mit knapp sieben Jahren und besuchte französische Schulen. Der näher rückenden Front galt es auszuweichen, und nach der Kapitulation Frankreichs blieb nur noch der Weg in den unbesetzten Teil, um über einen der Häfen nach Übersee zu gelangen. Nicht zuletzt in ihrer Erzählung "Transit" hat Anna Seghers den verzweifelten Verhandlungen mit Bürokratien und Reedereien im Kampf um Visum und Schiffstickets ein bleibendes Denkmal gesetzt. Im Falle der Anna Seghers und ihrer Familie sollte Mexiko das Exilland werden, in dem sie sich endgültige Sicherheit erhoffen. Pierre Radvanyi, den seine Mutter Peter nannte, lernte im mexikanischen Exil viele antifaschistische Persönlichkeiten aus dem politischen und kulturellen Leben kennen: Paul Merker, Lenka Reinerová, Steffi Spira, Georg Stibi und Walter Janka. Ihn verstörte die ideologische Unerbittlichkeit, welche in dieser Exilantenkolonie die politischen Diskussionen beherrschte. Es gab Verdächtigungen, ja sogar Denunziationen. Pierre Radvanyi wurde im Sinne einer "Aufklärung" vor ein Komitee geladen und zur politischen Wachsamkeit gemahnt: "Ich erzählte alles meiner Mutter. Weil ich noch jung war und sie sich um mich sorgte, riet sie mir, nicht gegen die Mahnung zu verstoßen. Ich folgte ihrem Ratschlag, aber ich habe es immer bedauert. Auf jeden Fall bestärkte mich diese Angelegenheit in meiner Absicht, nach dem Krieg nach Frankreich zurückzukehren und nicht nach Deutschland". Anna Seghers akzeptierte diese Entscheidung, aber sie selbst zog es wieder nach Deutschland. In der DDR war sie zu Ruhm und Ehre gekommen. Pierre Radvanyi berichtet von Warteschlangen an der Grenze, wenn er zu Besuch in die DDR fuhr. Seine Mutter hatte als Vorsitzende des Schriftstellerverbands die Einladungen und Visa organisiert. Dass an dieser Grenze scharf geschossen wurde, erwähnt Pierre Radvanyi, der heute als pensionierter Forschungsleiter des angesehenen Wissenschaftszentrums CNRS in Paris lebt, nicht. "Stalinismus" lautet ein kurzes Kapitel kurz vor dem Ende dieser Erinnerungen. Radvanyi berichtet, dass ihm seine Mutter im August 1957 über die Verhaftung Walter Jankas, den Leiter des Aufbau-Verlags, erzählte: ",Aus welchem Grund?' - ,Er hat sich gegen Walter Ulbricht gestellt.' Sie sagte mir nicht, daß sie seinem Prozeß beiwohnen mußte und daß sie, wenn auch vergeblich, bei den obersten Behörden interveniert hatte". Hier vermischen sich Halbwahrheiten mit glatten Unterlassungen. Es war Anna Seghers gewesen, die Janka während des Ungarnaufstands von 1956 gebeten hatte, in Budapest Georg Lukács aufzusuchen, um ihn in Sicherheit zu bringen. In seinen Erinnerungen schreibt Janka: "Gerade sie hätte sich der Mitverantwortung nicht entziehen dürfen. Ein wenig Mut hätte ihrem Ruf nicht geschadet und ihre Position nicht gefährdet. Selbst Ulbricht hätte es nicht gewagt, sie verhaften oder auch nur belästigen zu lassen. All das wußte sie. Trotzdem blieb sie stumm".

Eine bestürzende Ratlosigkeit bleibt, wenn man das Verhalten mancher kluger, kommunistischer Intellektueller angesichts des Parteiterrors gegen eigene Freunde und Genossen betrachtet. Pierre Radvanyis Hommage an seine Mutter gleicht somit einem erratischen Block: "Sie hatte ein Gefühl für Menschen und Situationen".

Titelbild

Pierre Radvanyi: Jenseits des Stroms. Erinnerungen an meine Mutter Anna Seghers.
Übersetzt aus dem Französischen von Manfred Flügge.
Aufbau Verlag, Berlin 2005.
153 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-10: 3351025939

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