Daumenkino rückwärts

Wie Jonathan Safran Foer die Gespenster der Vergangenheit zum Schweigen bringt

Von Christian WerthschulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Werthschulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Erfinder, Schmuckdesigner, Goldschmied, Amateur-Entomologe, Frankophiler, Veganer, Origamist, Pazifist, Perkussionist, Amateur-Astronom, Computer-Spezialist, Amateur-Archäologe, Sammler von: seltenen Münzen, Schmetterlingen, die eines natürlichen Todes gestorben sind, Mini-Kakteen, Beatles-Andenken, Halbedelsteinen und anderen Dingen."

Mit dieser lückenlosen Freizeitbiografie stellt sich Oskar Schell, Protagonist von Jonathan Safran Foers "Extrem laut und unglaublich nah." auf seiner Visitenkarte vor. Und tatsächlich ist dieser Oskar ein schon fast unverschämt sympathischer 9-Jähriger: in Briefkontakt mit Steven Hawking stehend, wissbegierig ohne neunmalklug zu sein, in jeder Situation höflich, voller Liebe zu Mutter und Großmutter und mit gesunder, aber niemals grob artikulierter Abneigung gegen Dr. Fein, den Psychoanalytiker seiner Familie.

Und damit sind wir auch schon mitten im Geschehen, denn Oskars Vater, der Diamantenhändler Thomas Schell, wurde bei einem Geschäftstermin im "Windows of the World" Opfer der Anschläge auf das World Trade Center. Seitdem hütet der kleine Oskar die letzte Spur seines Vaters, den Anrufbeantworter mit den Nachrichten seines Todestags. Der Fund eines ihm unbekannten Schlüssels in der Kleiderkammer seines Vaters treibt Oskar jedoch mit dem Ziel, das passende Schloss zu finden, auf eine Schnitzeljagd durch New York. Einziger Anhaltspunkt: Ein auf den Schlüssel geschriebenes "Black", vermutlich der Nachname des Schlüsselinhabers.

Trotz dieser offensichtlichen Anleihe bei Paul Austers Kurzgeschichte "Ghosts" lässt Foer seine Charaktere nicht in der Abstraktion verschwinden, im Gegenteil, die Namensinhaber entpuppen sich als bunt gemischter Haufen, denen im Gegensatz zu ihrem Allerweltsnamen vor allem ein Hang zur Skurrilität gemeinsam ist. Ruth Black arbeitet beispielsweise auf der Aussichtsplattform des Empire State Building, die seit einiger Zeit auch ihren Wohnort darstellt, während Chelsea Black seit Jahren ein T-Shirt trägt, auf dem "I love NY" gedruckt ist, weil er als chinesischer Einwanderer einfach angenommen hatte, dass NY die chinesische Übersetzung von "Du" darstellt. Mr. Black dagegen wohnt direkt über Oskar und führt als ehemaliger Journalist eine äußerst umfangreiche Kartei bedeutender Zeitgenossen, deren einziger Makel das Nichtvorhandensein einer Karte für Oskars Vater ist. Dessen Empörung über diesen Umstand stellt den Beginn ihrer Freundschaft dar, denn Mr. Black begleitet ihn fortan auf seiner Suche, die, soviel sei verraten, mit einer Enttäuschung für das kleine Genie endet.

Es ist nicht der Plot, der "Extrem laut und unglaublich nah" über die knapp 400 Seiten rettet, sondern in erster Linie die Detailfülle, mit der Foer die Gefühlszustände Oskars vor dem Leser entfaltet.

"Faszinierend fand ich, dass laut National Geographic die Zahl der heute lebenden Menschen die Zahl all derer übertrifft, die im Laufe der Menschheitsgeschichte gestorben sind. Anders gesagt: Wenn alle Menschen Hamlet spielen wollten, ginge das nicht, weil es nicht genug Schädel gibt."

In Oskars hoffnungslos unglaubwürdiger Intelligenz spiegelt sich zugleich die Unfähigkeit zur adäquaten Übersetzung komplizierter Emotionen. Seine Trauer verschafft ihm "Bleifüße", und wann immer er über seine eigene Wut erschrickt, verpasst er sich selbst einen blauen Fleck. Merkwürdig auch, dass der erklärte Frankophile seinen Französischunterricht eintauscht, um zu Fuss (seit dem 11. September meidet Oskar öffentliche Verkehrsmittel) das Gespenst seines Vaters zu jagen, während sein Enthusiasmus, in der Schulaufführung von "Hamlet" den sprachlosen Yorick zu spielen, weiterhin ungebrochen ist. Kurzum, Oskar ist vielschichtiger konstruiert als es sein nur aus Fotografien bestehendes "Was ich heute erlebt habe"-Buch vermuten lässt. Und dann sind dort auch noch die Kapitel, in denen Oskars Großeltern ihre Lebensgeschichte schildern, seine Großmutter in einem langen Brief an ihren Enkel und Oskars Großvater in einer Reihe von Briefen an seinen Sohn.

An dieser Stelle eröffnet sich eine Dimension des Buchs, die der Klappentext zwar andeutet, deren unvermutete Tragweite jedoch überrascht. Erzähltechnisch anspruchsvoll und mit verspielter Typografe lässt Foer die Leser wissen, dass Oskars Großmutter nach dem Verlust ihrer Familie bei der Bombadierung Dresdens in die USA auswanderte. Zufällig trifft sie hier auf Thomas Schell, Oskars zukünftigen Großvater und Liebhaber ihrer toten Schwester Anna. Trotz des offensichtlichen beiderseitigen Wunschs nach einem Ersatz für ihren Verlust heiraten die wissbegierige Einwanderin und der stumme Diamantenhändler, dessen Notizen nicht nur die Seiten seines Tagebuchs, sondern auch die Wände der gemeinsamen Wohnung füllen. Über die Jahre perfektionieren sie einen Alltag der gegenseitigen Nichtbeachtung, dessen Ausdruck die eintausend nur mit der Leertaste angeschlagenen Seiten ihrer Autobiografie sind. Kurz nach ihrer Schwangerschaft verlässt er sie dann, nur um am 11. September 2001 plötzlich zurückzukehren und fortan als "Der Mieter" in einem kleinen Zimmer ihrer ehemals gemeinsamen Wohnung Unterschlupf zu finden.

Nachdem Oskar ihn eines Tages hier entdeckt, findet er einen Zuhörer für seine Lebensgeschichte, deren Niederschrift keinen Adressaten mehr finden kann. Das Buch endet mit einem Happy End: Oskar bastelt ein Daumenkino, dass den Sprung eines Menschen aus dem brennenden WTC rückwärts ablaufen lässt:

"Und wenn ich noch mehr Bilder gehabt hätte, wäre er durch ein Fenster ins Gebäude geflogen, und der Rauch wäre zurück ins Flugzeug gequollen, aus dem im nächsten Moment das Flugzeug gekommen wäre. Dad hätte seine Nachrichten auf dem Anrufbeantworter zurückgesprochen, bis das Band leer gewesen wäre, und das Flugzeug wäre rückwärts von ihm fortgeflogen, den ganzen Weg bis nach Boston."

Die parallele Darstellung unterschiedlicher Lebensgeschichten verweist auf eine Thematik, die schon Foers Erstlingswerk "Alles ist erleuchtet" kennzeichnete: die Rekonstruktion einer gemeinsamen Geschichte durch die Annäherung der Generationen. Was dort jedoch als komplizierter Prozess des Übersetzens gezeichnet wird, wirkt an dieser Stelle eben etwas zu unkompliziert und eindeutig. Die Erlebnisse von Oskars Großvater in Dresden, der 11. September und der von Oskar in einem Schulreferat detailliert geschilderte Atombombenabwurf auf Hiroshima, von Foer als gleichrangige Erfahrungen von Gewalt thematisiert, verlieren an Spezifik und hinterlassen einen faden Beigeschmack nach dem Zuklappen des Buches, ist doch eine Spielart dieser historische Besonderheiten nivellierenden Betrachtung dem deutschen Lesepublikum schon aus einem anderen Kontext bekannt: als revisionistisches Argument für die "längst überfällige" Anerkennung deutschen "Leidens" im Zweiten Weltkrieg.

Bevor man aber das Werk des laut Selbstauskunft "säkularen" Juden Foer für die neue deutsche Begeisterung an der vermeintlichen Opferrolle der eigenen Großelterngeneration verantwortlich macht, lohnt sich ein zweiter Blick in den Text. Wird zwar die unmittelbare Gewalterfahrung durchaus parallelisiert, gilt dies nicht für den Umgang mit dem Verlust. Die Beziehung der Großeltern scheitert gerade an ihrer nostalgischen Verklärung der gemeinsamen Vergangenheit in Deutschland und beider Unfähigkeit ihr unwiederbringliches Verschwinden zu akzeptieren, während Oskars ähnlich motivierte Spurensuche ihn zwar nicht dem toten Vater, aber der Vielfalt des New Yorker Lebens näherbringt. Von verklärender Nostalgie keine Spur.

So wenig dieses Buch also ein Argument für die Bestätigung deutscher Befindlichkeiten darstellt, so merkwürdig mutet jedoch die fast völlige Abwesenheit dezidierter Kritik am US-Amerikanischen Umgang mit den Anschlägen an. Oskar verliert während seiner mehrmonatigen Odyssee kein einziges Wort über den Afghanistan-Krieg oder die Vorbereitungen für den Einmarsch in den Irak, lediglich die Selbstzensur der amerikanischen Medien ist ihm einen kleinen Absatz wert.

Am Ende bleibt "Extrem laut und unglaublich nah" vor allem mit einer Eigenschaft im Gedächtnis: Als mit kindlicher Neugier verfasste Liebeserklärung an New York. Und als solche macht sie sich gar nicht mal so schlecht.

Titelbild

Jonathan Safran Foer: Extrem laut und unglaublich nah. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Henning Ahrens.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005.
432 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3462036076

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